Pater
Heinrich Middendorf
Gerechter unter den Völkern
(Waisen, Juden, Menschen in Bedrängnis - Lebensschicksale in Stegen von 1942
bis 1945)
P. Dr. Bernd Bothe, Stand: 01.02.1998
Vorwort Inhaltsverzeichnis I. Der Rahmen II. Die Ordensleute III. Die Laien A. Familien und Einzelpersonen B. Das "Schutzengelkinderheim" aus Hagen C. Der Luftangriff auf Freiburg IV. Die Menschen jüdischer Abstammung A. Lotte und Peter Paepcke B. Irmgard und Ursula Giessler C. Gerhard Zacharias D. Die Bachenheimerkinder 1. Die Zeugen a) Bernhard Coenenberg b) Wilfried Buß 2. Der Besuch a) Dieter Bachenheimer erzählt b) Eva Bachenheimer bezeugt E. Helga und Heinz-Kasimir Karmiol F. Das Ende des Krieges V. Ergebnis VI. Pater Heinrich Middendorf (1898-1972) A. Sein Leben B. Yad Vaschem C. Gerechter unter den Völkern D. Die Feierstunde in Stegen: 24. Mai 1955 1. Die Würdigung 2. Die Übergabe der Ehrenurkunde und Medaille E. Die Ehrentafel in Yad Vaschem: 19. Oktober 1995 VII. Nachwort VIII. Personenliste IX. Fußnoten X. Bücherverzeichnis I XI. Bücherverzeichnis II XII. Lebensdaten und Zeitangaben Fotonachweis Der Verfasser |
Vergessen führt zur Verbannung, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung (Baal Schem Tov)
Geschichte ist Erinnerung.
Schlimme Erinnerungen entstehen aus bösen Geschehnissen und bieten
Geschichte als Unheil dar. Gute Erinnerungen gründen in Taten der
Menschlichkeit und deuten Geschichte als Heil.
Immer wieder wird an die geschichtliche Zeit erinnert
werden, in der in Deutschland jenes seiner Unmenschlichkeit wegen historisch
einmalige und unvergleichbare Verbrechen geschah, das als "Endlösung"
bezeichnet wurde und unter den Namen "Schoa" (Unheil)
oder "Holocaust" (Opfer)
in die weitere Geschichte einging. Menschen späterer Zeiten
starren zurück auf jene blutige Spur, die sich durch die Länder
zivilisierter Völker und Staaten zog und fragen sich: "Wie konnte so etwas
geschehen?" Es gibt viele Antworten und doch keine Antwort.
Um so wichtiger ist es, daß jene Menschen nicht übersehen
werden, die wie Hoffnungsträger durch die Schreckenszeit gingen und selbstlos
ihr Leben einsetzten, um Leben zu retten. Zu ihnen gehören jene inzwischen
14.500 "Gerechten unter den Völkern", Nicht-Juden, die ihre jüdischen
Schwestern und Brüder zu retten versuchten und dafür an der Holocaust-Gedenkstätte
Yad Vaschem in Jerusalem geehrt wurden. Unter ihnen befinden sich etwa 380
Deutsche, von denen Gustav Trampe in seinem 1995 herausgegebenen Buch
"Menschlichkeit in unmenschlicher Zeit" mit Bedauern feststellt:
"Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind ihre Namen - auch die der deutschen
Helfer - bei uns so gut wie unbekannt. Nach kaum einem ist in Deutschland eine
Straße benannt, nur wenige wurden für ihre Hilfe ausgezeichnet" (1).
Der
Grund besteht nicht zuletzt darin, daß es sich um unscheinbare und
gesellschaftlich bedeutungslose Menschen handelte. Vielen von ihnen gelang die
rettende Tat nicht; sie wurden gefaßt und fanden mit ihren jüdischen Schützlingen
den Tod.
Unter den 380 Deutschen befindet sich seit neuestem auch ein Ordenspriester, genauer: der erste katholische deutsche Priester, dem der Titel "Gerechter unter den Völkern" verliehen wurde. Auch seine Person ist unscheinbar und öffentlich unbekannt. Um so mehr sollte seiner wenigstens im bescheidenen Rahmen dieses Beitrages gedacht werden, weil auch er durch sein rettendes Tun unserem geschändeten Volke etwas von seiner Würde zurückzugeben vermag: Pater Heinrich Middendorf.
Diese Schrift richtet sich an alle, die die Erforschung der Rettung von Juden durch Nicht-Juden während der Zeit des Holocaust mit Aufmerksamkeit verfolgen. Die Schulgemeinde des Kollegs St. Sebastian in Stegen kann stolz darauf sein, einen solchen Rektor in ihrer Geschichte gehabt zu haben. Die Bevölkerung von Stegen könnte gleichfalls darüber Genugtuung empfinden, daß dieser "Gerechte unter den Völkern" einmal als Oberer des Klosters der Herz-Jesu-Priester Bürger ihrer Gemeinde war. Die Gestalt dieses katholischen Ordenspriesters weist zugleich zurück auf seine Heimatgemeinde Aschendorf, wo er geboren und von seinen Eltern im christlichen Glauben erzogen wurde, wie auch auf Handrup, wo auf dem Friedhof des Herz-Jesu-Klosters sein Grab in Ehren gehalten wird.
Diese Schrift ist nicht das Ergebnis der Forschungen eines Einzelnen, sondern einer Forschergruppe. Deshalb sei an dieser Stelle besonders denen gedankt, die wertvolle Hinweise beigesteuert und den Antrag zur Ehrung an Yad Vaschem gestellt haben, nämlich Dieter Bachenheimer, Grete Borgmann, Wilfried Buß, Bernhard Coenenberg, Hans Coenenberg, Ursula Giessler, Hermann Lütteke, Lotte Paepcke, Dr. Peter Paepcke, Paul Thoben, Dr. Gerhard Zacharias und Eva Zwingmann. Dank gebührt auch denen, die die Festlichkeiten zur Ehren Pater Middendorfs durchgeführt haben: Rektor P. August Hülsmann und der Hausgemeinschaft des Herz-Jesu-Priester in Stegen, Wilfried Buß und Dr. Mordecai Paldiel für die Ehrung in Yad Vaschem, Rektor P. Hans Walhorn und der Hausgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester in Handrup für die Enthüllung der Grabplatte, Rektorin Marita Niehoff und dem Lehrerkollegium der Realschule in Aschendorf für die Namengebung. Ein herzliches Dankeschön gilt Maria Stella Erhart, die mit viel kritischer Sorgfalt das Manuskript eingesehen und verbessert hat.
Wer kennt sie nicht, die Stadt, die das Tor zum Schwarzwald genannt wird, Freiburg im Breisgau? Wer durch das Tor, das der Schloßberg im Norden und der Brombergkopf im Süden, die, nur 750 m voneinander entfernt, die Pfosten des Tores bilden, hindurchwandert, betritt hinter Ebnet ein sich immer weiter ausdehnendes Tal. Es wird geologisch das "Zartener Becken", wegen der "Schnellfließenden" (keltisch "tragisama") volkstümlich das Dreisamtal genannt. Während sich die meisten Schwarzwaldtäler zur Oberrheinischen Tiefebene hin verbreitern, verengt sich das Dreisamtal bei einer Länge von 8 km von einer hinteren Breite von 4 km auf der Höhe von Kirchzarten zu einer Enge von 750 m in Freiburg. Diese merkwürdige, einem Trapez ähnelnde Form verdankt das Tal nicht Eiszeitgletschern, sondern Einbrüchen und Verwerfungen, die mit der Bildung der Oberrheinischen Tiefebene zusammenhängen (2).
Hinter Ebnet zeigt ein Schild eine nordöstlich von der Bundesstraße 31 abzweigende Landstraße an und weist unter dem Namen des schon oben in den Bergen gelegenen Dorfes St. Peter auf eine Ortschaft hin, die Stegen heißt. Die Straße schlängelt sich, ständig ein wenig ansteigend, durch Wiesen und Felder, die zu den umliegenden Gehöften gehören, und lädt den Wanderer beständig ein, sich der die Weite des Tales umschließenden Bergwelt zu erfreuen. Nach Süden hin gipfelt sie im Schauinsland und im Feldberg. Seitentäler gesellen sich gleich einer Kinderschar der Mutter zu, von denen das Höllental das bekannteste ist. Wegkreuze und Hofkapellen, die das Dreisamtal in großer Zahl ausschmücken, laden zur religiösen Andacht ein (3). Schließlich grüßt in der Ferne ein weißer Kirchturm und heißt den Besucher in Stegen willkommen.
Wer weiter auf den Turm zugeht, kommt durch ein Tor und betritt den Platz vor der Herz-Jesu-Pfarrkirche. Ihr schließen sich eine Anzahl von schulischen Gebäuden an, was auch eine Inschrift an einer Mauer beim Eingang des Hauptgebäudes bestätigt: Kolleg St. Sebastian. Inmitten alter und moderner Gebäude, des Schloßparks und der Sportanlagen steht nahe bei einem altrosafarbigem Schloß eine Schloßkapelle, die auch heute noch den geistlichen und religiösen Mittelpunkt der ganzen Anlage bildet. Sie mag beispielhaft sein für die bis in die fränkische Zeit zurückreichende Geschichte dieses alten Maier-Anwesens, das vermutlich nach den Rittern de Willer, als den ältesten bekannten Lehnsherren aus dem 12. Jahrhundert, in früherer Zeit "Weiler" genannt wurde. Im südlichen Chorfenster der Kapelle steht geschrieben: "Gott beschütze diesen Weiler!" (4)
Im Laufe der Geschichte wurden verschiedene Familiengeschlechter mit dem Weiler belehnt, die Meier-Niessen, Reischachs, Mosers und Kagenecks (5). Diese Letzten holten 1929 Mitglieder der Herz-Jesu-Priester (SCJ), einer 1878 vom französischen Priester Leo Dehon gegründeten katholischen Ordensgemeinschaft (6), von Freiburg nach Stegen, um das fast leerstehende Schloß und die Wirtschaftsgebäude des alten Gutshofes einer neuen Verwendung zuzuführen. Nachdem es zunächst dem Freiburger Studienhaus der Herz-Jesu-Priester als Erholungsheim diente, wurde in den dreißiger Jahren eine Spätberufenenschule eingerichtet, die aber in den Jahren nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 aufgelöst werden mußte. Von dieser Schule her erhielt der Weiler von den Herz-Jesu-Priestern den Namen "Missionshaus Stegen", wie schulische Einrichtungen missionierender Orden damals genannt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Name mit der Gründung eines altsprachlichen Progymnasiums leicht verändert in "Missionsschule Haus Stegen". Schließlich wurde 1966 der Weiler mit dem Ausbau der Schule zu einem Vollgymnasium nach dem Schutzherrn der Schloßkapelle nochmals umbenannt in "Kolleg St. Sebastian" (7).
Wer heute das Kolleg St. Sebastian betritt, mag sich
vorstellen, daß das Gelände in früherer Zeit anders aussah. Neben der schon
erwähnten Schloßkapelle und dem Schloßbau gehörten zu den alten Gebäuden
des Gutshofs der am Haupteingang befindliche gelbe
Angestelltenbau und auf der anderen Seite der Straße das langgestreckte
sogenannte "Tantenhaus", in dem Angehörige der
gräflichen Familie wohnten. Wo sich jetzt das Kollegiengebäude I der
Schule mit seinem auffällig breiten Glaseingang befindet, stand eine große
Scheune; denn in früherer Zeit wurde von den Klosterbrüdern der
landwirtschaftliche Betrieb des alten Maierhofes, der die Voraussetzung für die
Ernährung vieler Menschen bildete, intensiv bearbeitet. Dies ist der örtliche
Rahmen, in dem während der Zeit des Zweiten Weltkrieges jene politisch- und
kriegsbedingten, teilweise dramatischen Ereignisse stattfanden, von denen im
folgenden berichtet werden soll.
Der Verfasser (mit Bild)
Pater Dr. Bernd Bothe SCJ wurde 1936 in Schelmkappe bei Löningen (Kreis Cloppenburg) geboren. Er besuchte die einklassige Volksschule in Schelmkappe und für kurze Zeit die Bürgerschule in Löningen. Von 1948-57 machte er seine gymnasialen Studien am Missionshaus Handrup (Emslandkreis) und schloß sie 1957 mit dem Abitur ab. Er trat in die Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester ein und legte 1958 die Ordensgelübde ab. Von 1958-67 studierte er Philosophie und Theologie in Rom und wurde 1964 zum Priester geweiht. Er promovierte 1967 in Philosophie, machte das Staatsexamen für das Lehramt am Gymnasium und war von 1975-83 und von 1991-96 Lehrer für Religion und Philosophie am Kolleg St. Sebastian in Stegen. Von 1983-89 war er Provinzial der Deutschen Ordensprovinz. Seit 1996 lebt er im Herz-Jesu-Kloster in Freiburg im Breisgau.
zu IV. Die Menschen jüdischer Abstammung
zu VI. Pater Heinrich Middendorf (1898-1972)
zu VII. Nachwort,