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IV. Die Menschen jüdischer Abstammung

A. Lotte und Peter Paepcke
B. Irmgard und Ursula Giessler
C. Gerhard Zacharias
D. Die Bachenheimerkinder
    1. Die Zeugen
        a) Bernhard Coenenberg
       
b) Wilfried Buß
   
2. Der Besuch
        a) Dieter Bachenheimer erzählt
        b) Eva Bachenheimer bezeugt
E. Helga und Heinz-Kasimir Karmiol
F. Das Ende des Krieges

 

Den Herz-Jesu-Priestern war bekannt, daß gegen Ende des Krieges auf dem Gelände des Klosters in Stegen eine Jüdin versteckt worden war und mit ihrem Sohn die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus überlebte. Lotte Paepcke hatte in ihrem Buch "Unter einem fremden Stern", das ursprünglich nach dem Krieg unter dem Titel "Ich wurde vergessen" veröffentlicht wurde, ihr Schicksal und das ihres Sohnes Peter sowie ihren Aufenthalt in Stegen beschrieben (17).

Aber erst 1990 fand sich ein Brief vom 19.7.1985, den Grete Borgmann "An den Herrn Rektor von Stegen und wen immer es betrifft" adressierte und in dem sie berichtete, wie sie nach der Bombardierung Freiburgs am 27.11.1944 mit ihren Kindern in Stegen aufgenommen wurde, und daß auch eine Jüdin, Lotte Paepcke, mit ihrem Sohn Peter dort unterkam und versteckt wurde (18).

Diese Hinweise führten zu einer mehrjährigen Forschungstätigkeit, die bisher Unbekanntes und Unerwartetes zutage förderte. Pater Middendorf kümmerte sich mit seinen Mitbrüdern und mit den

Ordensschwestern um alle Hilfsbedürftigen und nahm jeden auf, der an die Klosterpforte klopfte, auch mit größter Selbstverständlichkeit bedrängte Nazianhänger, Ausländer und Menschen jüdischer Abstammung. Über die Letzteren sei im folgenden berichtet, so wie es die Nachforschungen ergaben.

A. Lotte und Peter Paepcke (19)

Lotte Mayer, Tochter des Kaufmanns und  Stadtverordneten Max Mayer und seiner Frau Olga geb. Nörtlinger (20) wurde 1910 in Freiburg geboren. Sie wuchs zusammen mit ihrem Bruder Hans in dem geräumigen Haus ihrer Eltern, die eine Lederhandlung betrieben, in der Schusterstraße 23 auf. Sie besuchte das Goethegymnasium, wo sie schon vor 1929, dem Jahr ihres Abiturs, unter Schülern antisemitische Äußerungen hörte. Deshalb wurden die jüdischen Kinder immer wieder von ihren Eltern ermahnt, besonders brav und artig zu sein, um nicht aufzufallen und keinen Unwillen zu erregen. Der ihr wohl gesonnene Direktor des Gymnasiums trug ihr auf, die Abiturrede zu halten zum Thema: Die Ringparabel im Schauspiel "Nathan der Weise" von Gotthold Ephraim  Lessing, was nicht selbstverständlich war. Nach dem Abitur studierte sie Jura und konnte das Studium 1933 abschließen, erhielt aber keine Anstellung mehr. Kurze Zeit arbeitete Sie in einer Anwaltspraxis in Rom, kehrte aber dann nach Deutschland zurück und heiratete ihren Freund, den aus Mecklenburg stammenden norddeutschen Protestanten und Nicht-Juden, Dr. Ernst August Paepcke, um dem Verbot solcher Ehen, das 1935 durch die Nürnberger Rassengesetze erlassen wurde, zuvorzukommen. Ihr Mann, der Literaturhistoriker war und auf eine Universitätslaufbahn hoffte, arbeitete während der kommenden Jahre bis 1945 in der pharmazeutischen Industrie in verschiedenen Städten wie Bielefeld, Köln und Leipzig. Jeder Umzug war mit einer Meldepflicht verbunden und der Lotte Paepcke auferlegten Vorschrift, mit Sara Lotte Paepcke zu unterschreiben. Da den Eheleuten 1935 ein Sohn Peter geboren wurde, galt ihre Verbindung   als privilegierte Mischehe, die zunächst vor einer Deportation schützte. Als Vorsichtsmaßnahme ließen die Eltern ihren Sohn evangelisch taufen.

Als schließlich ab 1942 nach der Wannseekonferenz auch die privilegierten Mischehen keinen Schutz mehr boten, beschloß Lotte Paepcke unterzutauchen. Eine ihr wohlwollende Ärztin, die bei ihr  eine Herz-Muskel-Entzündung behandelte, stellte einen Erlaubnisschein für die Bahnfahrt aus. So gelang es ihr, in ihre Geburtsstadt Freiburg zu fliehen, wo sie nacheinander in verschiedenen Wohnungen unterkam und auch ihren schon dort lebenden Sohn wieder zu sich nehmen konnte. Da sie krank war, wurde sie mit Hilfe von Grete Borgmann und durch Vermittlung des Kamillianerpaters Hubert Reinartz im Vinzentiuskrankenhaus untergebracht. All das geschah illegal, da sie keine Papiere besaß und dort gar nicht sein durfte.

Dann kam der Abend des 27. November 1944, an dem in kurzer Zeit durch einen Luftangriff der Alliierten große Teile der Freiburger Innenstadt in Schutt und Asche gelegt wurden. Auch das Vinzentiuskrankenhaus wurde getroffen. Lotte Paepcke konnte durch ein Kellerfenster entkommen und verbrachte die Nacht im Colombi-Park. Sie gelangte, geschwächt von den Schrecken des Erlebten und nur mit Mühe sich aufrecht haltend, zu einer Freundin. Schon trug sie sich mit dem Gedanken, sich bei dem Blockleiter, der die durcheinander gewirbelten Menschen von neuem registrierte, zu melden und sich damit auch als Jüdin zu stellen, was für sie das Ende bedeutet hätte.

Die weiteren Geschehnisse erzählt Grete Borgmann so: "Nachdem wir die Kinder in Stegen hatten, sagte Pater Middendorf zu uns: 'Jetzt macht mal nicht so traurige Gesichter; es ist doch nicht so schlimm, daß eure Wohnung getroffen worden ist; die Kinder sind doch - guckt, die sind doch alle gesund, ihr seid gesund.' Dann haben wir gesagt: 'Es ist nicht das. Wir sind so bekümmert. Wir haben nämlich eine jüdische Freundin. Wir wissen nicht, wohin mit ihr. Die ist jetzt völlig ungeschützt in Freiburg.' Und dann hat er gesagt: 'Laßt mich mal nachdenken' - wegen der neunzig Kinder im Waisenhaus hatte er ein Auto behalten können und durfte Lebensmittel kaufen - 'morgen fahr ich in die Stadt; da könnt ihr sie holen.' Dann haben wir sie geholt, und von da an haben die Lotte und ich in einem Zimmer gewohnt" (21).

Lotte Paepcke erzählt den Vorgang so: "Da kam eines Morgens ein Mann in geistlicher Kleidung in unser Zimmer und fragte, ob ich Lust hätte, in das unweit der Stadt gelegene Kloster zu übersiedeln. Es sei dort besser für mich. Und ob ich meinen Jungen auch mitnehmen wollte, auf ein Bett komme es nicht an. Er werde uns mit dem Auto abholen lassen, wenn es das nächste Mal in die Stadt komme. Und als ich, ohne den Mut, mehr zu fragen, zu allem ja gesagt hatte, ging er wieder zur Tür hinaus. Damit war ich aufgenommen in die Schar der Schützlinge des Klosters, dessen Superior der einfach aussehende Mann gewesen war" (22).

Um sie vor den Nationalsozialisten auf dem Gelände wie etwa vor dem Lehrer Friedrich Abel oder den ausgebombten Nazianhängern aus Freiburg zu tarnen, arbeitete sie mit Bruder Innozenz in der Gärtnerei und gehörte damit scheinbar zum Personal. Ihr Sohn Peter wurde den Kindern des Schutzengelkinderheims zugeordnet und diente den Patres als Ministrant bei der Messe, um ihn katholisch erscheinen zu lassen. Schließlich kam im April mit dem Einzug der französischen Besatzungstruppen die Rettung (23).

B. Irmgard und Ursula Giessler (24)

Irmgard Giessler geb. Freitag war die jüdische Frau des katholischen Publizisten Dr. Rupert Giessler, der bis 1939 Redakteur der damaligen "Freiburger Tagespost", einer katholischen Zeitung, war. Sie war die Tochter jüdischer Eltern, nämlich des Holzgroßhändlers Karl Freitag und seiner Frau Mathilde geb. Wertheim und wurde 1896 in Bad Kissingen geboren. Da sie schon 1898, also mit zwei Jahren, ihre beiden Eltern verlor, kam sie zu einem Onkel namens Hertz nach Freiburg und wuchs dort auf. Hier lernte sie Rupert Giessler kennen. Sie heirateten 1928. Kurz vor ihrer Hochzeit trat Irmgard Giessler zum katholischen Glauben über. 1936 wurde ihnen eine Tochter Ursula geboren. Damit galt auch ihre Verbindung als privilegierte Mischehe. 1939 erhielt Rupert Giessler Berufsverbot, weil er eine jüdische Frau hatte. Ihretwegen war er auch "wehrunwürdig". Vom 1. Februar 1940 erhielt die "Tagespost" keine Papierzuteilung mehr und mußte ihr Erscheinen einstellen.

Nachdem Rupert Giessler daraufhin ein Jahr arbeitslos war, ermöglichte es ihm der Verleger des Colmarer Alsatia Verlags, Joseph Rossé, illegal bei ihm zu arbeiten, nach außen als Sekretär deklariert, in Wirklichkeit als Cheflektor. Wenn die Gestapo Rupert Giessler suchte, schickte Rossé ihn auf Reisen, und er stand bei der Rückkehr auf dem Bahnhof, um ihn, wenn Gefahr bestand, weiter zu schicken. Rossé hat sich für viele gefährdete Menschen eingesetzt.

Über die weitere Entwicklung berichtet Grete Borgmann (25). In der zweiten Hälfte des Jahres 1944 spitzte sich die Lage zu. Die Fronten rückten näher, die Möglichkeit von Luftangriffen auf Freiburg war nicht mehr auszuschließen. Borgmanns hatten mit den Herz-Jesu-Priestern in Stegen Verbindung aufgenommen. Pater Middendorf hatte zugesagt, er werde im Notfall alle aufnehmen.

Giesslers wohnten in der Erwinstraße unweit des Bahnhofs Wiehre. Rupert Giessler und seine Frau Irmgard hielten sich Wege ins Elsaß und in die Schweiz offen, die wichtig wurden, wenn es um Fluchthilfen für verfolgte Juden ging. Es begann die Zeit, in der Leute aus der Umgebung Giesslers zum Schanzen am Westwall herangezogen wurden. Der Blockwart kam auch zu Rupert Giessler, sagte aber dann: "Ach nein. Sie haben wir ja für was anderes aufgehoben." Damit war ein Alarmzeichen gegeben, daß auch sie wegen ihrer rassischen Mischehe bedroht waren.

Giesslers handelten sofort. Sie riefen Grete Borgmann zu Hilfe und überlegten mit ihr, welchen Zug sie am nächsten Tag nehmen sollten, den um sechs oder um acht. Grete Borgmann riet: "Um Himmelswillen, nehmt lieber den frühen."

Sie beschlossen, den Sechsuhrzug zu nehmen, und kamen überein, Grete Borgmann solle die Ursel mit dem Fahrrad nach Stegen bringen. Nachdem die Eltern am frühen Morgen abgereist waren, geschah, wie Grete Borgmann erzählt, folgendes: "Ach, ich lag da. Ich wußte, die sind gegangen, und um halb sieben, wahrhaftig, schellt es. Es - ich vergesse es nie!, ich bekomme noch ganz steife Glieder, wenn ich es mir vorstelle - ich habe mich ganz steif gehalten. Ich hab das Kind an mich gepreßt, und sie haben nochmals geschellt, und dann nicht mehr. Dann habe ich das Kind angezogen und habe es vorne auf mein Fahrrad in das Stühlchen gesetzt und bin mit ihm nach Stegen gestrampelt. Und unterwegs hat es zu mir gesagt: 'Aber Tante Grete, du läßt mich nit da, gell'?" (26). Später konnte auch die vorübergehend ins Elsaß geflüchtete Irmgard Giessler, die eine Zeitlang bei der Frau des Stegener Bürgermeisters wohnte, im Kloster der Herz-Jesu-Priester aufgenommen werden.

Aus der Sicht des Kindes erzählt es Ursula Giessler: "Ich selbst erinnere mich sehr plastisch an Stegen. Grete Borgmann fuhr mich meiner Meinung nach im Hochsommer mit dem Fahrrad den Feldweg hinaus und brachte mir, einem schrecklichen Mamakind, langsam bei, daß meine Mutter verreist sei, bei meiner Großmutter sei, und ich nun eben nach Stegen käme. Ich durfte natürlich überhaupt nichts von der politischen Situation wissen. Ich hätte es als Kind (geboren 1936) ja ausplappern können. Ich weiß, wie ich dann eine Woche lang nur weinte, bis meine Mutter kam. Die armen Schwestern des Kinderheims, vor allem die gute Schwester Emma, hatten ihre liebe Not mit mir.

Stegen bedeutete für mich ein Pendeln zwischen dem Kinderheim, wo ich untergebracht wurde, und dem Zimmer meiner Mutter auf dem Klosterareal oder zeitweise auch in der Post. Auf Wunsch meiner Mutter, die wegen meiner Zaghaftigkeit Angst um mich hatte, sorgte Pater Middendorf auch dafür, daß ich richtig unter die Buben kam. Meiner Mutter war es nur recht.

Ich vergesse nie Pater Middendorfs Antwort, wenn meine Mutter ihre Angst vor der Gestapo äußerte: 'Über meine Schwelle kommt niemand!' sagte er, 'aber in der größten Not habe ich oben im Wald noch eine Hütte für Sie und Ihr Kind'. Das erzählte mir meine Mutter natürlich erst, als alles vorbei war. Eine wunderbare Idee von Pater Middendorf war es auch, die versteckten Jüdinnen arbeiten zu lassen: meine Mutter in seinem Büro, Lotte Paepcke im Garten.

Im übrigen bin ich in Stegen zusammen mit den Kindern des Kinderheimes noch kurz in die dritte Klasse der Schule im Kloster gegangen, wo der Nazi-Lehrer Abel unterrichtete. Am 20. April 1945 (!) fehlten den Mädchen des Heimes im Schlafsaal die Haarschleifen: Der Lehrer Abel hatte mit ihnen Hitlers Bild in der Klasse geschmückt! Und uns scheuchte er zum Kartoffelkäfersuchen (das war üblich an den Schulen) barfuß (das war nicht üblich) über die Stoppelfelder! Auch zur Erstkommunion ging ich in Stegen. Weil in den Kriegswirren der Stoff für das weiße Kleid, den meine Großmutter geschickt hatte, auf der Post hängenblieb, wurde mir ein Kleid von den Kindern des Heims geliehen. Soweit ich mich erinnere, bin ich unter anderem mit einer Elisabeth Sauer aus dem Heim zur Erstkommunion gegangen. Soweit, locker hingeschrieben, ein paar Erinnerungen. Stegen ist ein Teil von mir, lebt in mir. Und ganz besonders Pater Middendorf" (27).

Rupert Giessler besuchte Frau und Tochter oft in Stegen. Er war auch dort, als am 27. November 1944 Freiburg bombardiert wurde. Fast wäre er mit dem Fahrrad in den Angriff hineingefahren, wenn er nicht noch die Andacht der Klostergemeinschaft in der Kapelle hätte abwarten wollen, um sich zu verabschieden. Er war auch in Stegen, als 1945 die Franzosen kamen, und spielte für das ganze Kloster den Dolmetscher. So überlebte die Familie die Nazizeit.

Nach dem Krieg war Rupert Giessler Mitbegründer der "Freiburger Nachrichten", die vom 5. September 1945 an erschien, der später umbenannten heutigen "Badischen Zeitung" und sozusagen deren Chefredakteur, obwohl er in dieser Funktion damals noch nicht so hieß. Er hörte 1963 bei der Zeitung auf und lebte noch bis 1980.

C. Gerhard Zacharias (28)

In den Erinnerungen der obigen Personen, ehemaliger Waisenkinder, der Coenenbergs und der Ursula Giessler, tauchte auch ein Mann mit Namen Gerhard Zacharias auf, der ein "Halbjude" gewesen sei und

in Stegen die Kriegszeit überlebt habe. Nach einem Jahr der Nachforschung gelang es, ihn im Rheinland ausfindig zu machen und  in der Osterwoche 1994 zu besuchen, einen rüstigen Mann von siebzig Jahren, der gern bereit war, über die damaligen Zeiten Auskunft zu geben.

Danach wurde Gerhard Zacharias 1923 als Sohn der Eheleute Ludwig Zacharias und Helene geb. Heymann in Braunschweig geboren. Die Familie war mütterlicherseits jüdisch. Helene Heymann war die Tochter des Geheimen Justizrates Viktor Heymann und seiner Ehefrau Adele geborene Jonas. Beide Großeltern waren Juden. Viktor Heymann war und blieb auch Jude, hatte sich aber assimiliert und wollte als guter Deutscher gelten. Er ließ seine Kinder protestantisch taufen. Durch die Heirat mit dem Katholiken Ludwig Zacharias, der aus Regensburg stammte, ging Helene Heymann eine Ehe ein, die nach der Geburt von drei Kindern, neben Gerhard noch zwei Mädchen, als privilegierte Ehe galt, was den jüdischen Ehepartner zunächst schützte. Allerdings war die Mutter den starken Einschränkungen unterworfen, die für Jüdischstämmige galten. Sie durfte nicht in arischen Geschäften einkaufen, nicht in den Luftschutzkeller gehen und keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Im Krankheitsfalle mußten deutsche Ärzte sie nicht behandeln. Nach der Wannseekonferenz 1942 war auch Helene Zacharias in Gefahr, deportiert zu werden, kam aber bei einem Bombenangriff ums Leben. Eine Schwester der Mutter wurde von der Gestapo abgeholt, während Gerhard Zacharias direkt neben ihr stand; eine weitere Schwester wählte in einem Krankenhaus in Hannover den Freitod, um der Deportation zu entgehen. Der Vater, der eine kleine Fabrik hatte, die zwar kein Kriegsmaterial, aber doch solches, das man brauchen konnte, herstellte, "dem haben sie nichts getan", - er überlebte. "Makaber, wenn man sagt, daß sie Glück hatte und durch Bomben umkam, bevor sie deportiert wurde," fügte Dr. Zacharias zum Tode seiner Mutter hinzu.

Während die beiden Schwestern auf dem Land in der Nähe von Braunschweig bei Bauern versteckt waren und dort überlebten, nahm das Schicksal von Gerhard Zacharias einen anderen Verlauf. Er machte 1942 in Braunschweig das Abitur und begann zunächst in Paderborn das einzige Studium, das ihm noch erlaubt war, nämlich Theologie. Als ihm auch das verboten wurde, verließ er Paderborn. Ein Brief wurde ihm wenige Tage später nachgesandt, in dem man ihm mitteilte: "Soeben kamen zwei Polizisten und wollten Sie abholen." Da tauchte er unter. Er gelangte in den Schwarzwald und schließlich nach Stegen.

Er lernte die Familie Giessler kennen und freundete sich mit ihr an. Er und Irmgard Giessler, die beide um ihr Leben fürchten mußten, beschlossen, einen Ort ausfindig zu machen, wo niemand sie nach ihrer Herkunft fragte, wo sie also anonym leben konnten. Sie wählten Stegen aus, weil dort ihrer Meinung nach friedliche Menschen lebten, die sich für Politik wenig interessierten. Frau Giessler ging "in die Höhle des Löwen," nämlich zum Haus des nazionalsozialistisch eingestellten Stegener Bürgermeisters, der zu der Zeit Soldat im Krieg war, und bat die Frau des Bürgermeisters, ihnen ein Zimmer zu vermieten, da sie sich erholen wollten. Es gelang ihr sogar, zwei Zimmer zu mieten. Dort lebten sie beide einige Monate getarnt. Die Frau des Bürgermeisters, die auch die Post des Ortes verwaltete, war froh über ihre Mieter, zumal Gerhard Zacharias ihr auch bei der Erledigung der Post half.

Nachdem die Kontrollen der Polizei häufiger und gefährlicher wurden, und da sie keine Papiere gehabt hätten, um sich auszuweisen, konnten sie nicht weiter zur Miete wohnen. So wurden sie etwa in der ersten Hälfte des Jahres 1944 von Pater Middendorf ins Kloster der Herz-Jesu-Priester aufgenommen.

Von den weiteren Menschen jüdischer Abstammung kannte Gerhard Zacharias nur die Giesslers. Lotte Paepcke war ihm zwar dem Namen nach bekannt, aber er wußte nicht, daß sie jüdischer Herkunft war. Von anderen Menschen jüdischer Abstammung in Stegen wußte er nichts. Oder wie er sagte: "Es war gut, wenn die Menschen übereinander möglichst nichts wußten und so alles ein wenig im Verborgenen blieb."

Über seinen Stegener Aufenthalt wußte Gerhard Zacharias noch manche bezeichnende Einzelheiten zu berichten. So hatte er seine Schlafstätte in der Bibliothek. Nach dem Aufstehen räumte er sie so zurecht, daß man sie als Schlafstätte nicht mehr erkennen konnte. Denn auch das Kloster wurde von der Gestapo ständig überwacht. Wenn er gefragt wurde, warum er nicht an der Front sei, hustete er heftig und antwortete einfach: "Ich habe offene Tuberkulose." Dann liefen die Frager schnell von dannen.

Einmal war er in höchster Gefahr, entdeckt zu werden. Zwei Herren in Ledermänteln, unverkennbar Nazis, kamen durch das große Einfahrtstor beim gelben Angestelltenbau und gingen direkt auf die Haustür zu. Er sah sie kommen und war sich bewußt, daß er erledigt war, falls sie ihn kontrollierten, weil er keine Papiere, nicht einmal einen Wehrpaß hatte. Er flüchtete durch das Haus und fand zufällig die Hintertür, die normalerweise verschlossen war, offen. Er verließ das Haus, lief in den Schloßpark und verbarg sich dort.

Im Gegensatz zu den bedrückenden Zwängen vorher konnte Gerhard Zacharias sich im Kloster völlig frei fühlen. Es gab keine Vorschriften. Er war niemandem Rechenschaft schuldig, wenn er irgendwohin gehen oder sonst etwas tun wollte. "Es war wirklich der Zustand einer außerordentlichen Freiheit. Das ist mir so in Erinnerung geblieben. Das war wirklich ein Erlebnis. Pater Middendorf spielte dabei eine große Rolle, einfach atmosphärisch."

Von dem Bombenangriff am 27. November 1944 auf Freiburg weiß er folgendes zu berichten: "Ich habe die ganze Hölle miterlebt. Am Abend des 27. November war ich in der Stadt Freiburg und besuchte Bekannte. Ich war in der Wiehre ganz nahe bei Giesslers, aber nicht bei Giesslers, sondern schräg gegenüber in der Hildastraße. Auf einmal sah ich 'Christbäume' und hörte die angreifenden Flugzeuge. Wir waren zu Beginn des Angriffs sogleich in den Luftschutzkeller des Hauses gegangen. Das Haus selbst wurde zwar nicht getroffen, aber durch die Detonationen zersplitterten die Fensterscheiben. Es dauerte etwa 18 Minuten, und es sollen dabei 3000 Menschen ums Leben gekommen sein. Nach dem Angriff betrat ich die Straße und ging nach Stegen zurück. Es war gespenstisch wie eine Mondlandschaft, die brannte. Es brannte überall. Aber es war kein Mensch zu sehen, nur brennende Ruinen rechts und links. Später hörte ich, daß man bei solchen Bränden auch durch die Flammen wie durch einen Sog angezogen werden konnte. Die Menschen flohen vor dem Feuer, weil sie fürchteten, in das Feuer hineingezogen zu werden. Und ich ging hindurch, ging normal hindurch und war nicht zu nahe bei den Flammen, daß ich Angst haben mußte. So war es in der Wiehre. Ich ging ich die 14 km zu Fuß zurück. Ich ging langsamer als sonst und mußte auch manchmal ausweichen. Ziemlich spät in der Nacht kam ich in Stegen an. Dort war man noch auf. Erstaunt sah man mich an, als ich dort auftauchte, und schaute auf die 14 km entfernte Stadt, wo alles brannte. Man dachte, ich sei tot. Das konnte doch keiner überleben."

Über das Ende erzählt Gerhard Zacharias folgendes. Beim Einzug der Franzosen passierte in Stegen nichts. Pater Middendorf, der gut französisch sprach, verhandelte mit den einfahrenden Besatzungstruppen. Die Franzosen waren sehr nett. Die Atmosphäre war entschärft, fast freundlich. Die Kinder erhielten Bonbons und krochen auf den Panzern herum. Keinem wurde etwas zuleide getan. Lehrer Abel wurde innerhalb von 20 Minuten zum Widerstandskämpfer und verhielt sich ruhig. In der Kapelle wurde ein Dankgottesdienst gehalten. Gerhard Zacharias spielte alle Strophen des Liedes "Großer Gott, wir loben dich".

Nach Kriegende schrieb Gerhard Zacharias auf Bitten des Bürgermeisters einen "Persilschein", in dem er angab, daß er in dessen Haus als Jüdischstämmiger verborgen gelebt habe. Es habe niemandem geschadet, aber dem Bürgermeister sei es von Nutzen gewesen.

Nach dem Krieg studierte Gerhard Zacharias in Göttingen und Freiburg Philosophie und promovierte (29). Er wandte sich von der katholischen der griechisch-orthodoxen Kirche zu. Die Psychologie C. G. Jungs, den er in Zürich kennen lernte, zog ihn an und veranlaßte ihn, Psychotherapeut zu werden, wenn auch kein Jungianer. Zeitweise war er auch unter Carl Friedrich von Weizsäcker am Max-Planck-Institut in Starnberg bei München in der Friedensforschung tätig. Die Vielseitigkeit seiner Arbeitsbereiche zeigte sich nicht nur in der Beschäftigung mit der Psychoanalyse, Philosophie und Theologie, sondern von jeher auch mit dem Tanz. Er veröffentlichte mehrere Bücher. Heute praktiziert Dr. Gerhard Zacharias als Psychotherapeut in Rheinland.

D. Die Bachenheimerkinder:

1. Die Zeugen:

a) Bernhard Coenenberg

Inzwischen ergaben sich neue Kontakte zu Mitgliedern zweier Personengruppen, die während des Krieges in Stegen waren und dort das Kriegsende miterlebten. Dabei handelte es sich einmal um Angehörige der oben schon erwähnten Familien Coenenberg und Rettig aus Düsseldorf, die im März 1993 in Stegen ein Familientreffen veranstalteten, um die zeitweiligen Stätten ihrer Kindheit zu besuchen. In seinem Beitrag "Stegener Jahre" erwähnt nun Bernhard Coenenberg, daß auch unter den Waisenkindern des Schutzengelkinderheims Kinder jüdischer Abstammung versteckt waren. Er schreibt:

"Ein Geschwisterpaar unter ihnen (den Kindern), Eva und Dieter Bachenheimer, war, wie wir später erfuhren, Juden" (30). Dazu vermerkt Bernhard Coenenberg in einem Brief vom 25.2.1992: "Über die 'Halbjudenkinder' aus dem Hagener Kinderheim kann ich folgendes berichten: Sie hießen Eva und Dieter Bachenheimer. Sie hatten einen jüdischen Vater, der sich noch vor Kriegsanbruch nach Holland abgesetzt hatte. Ob er überlebt hat, wissen wir nicht. Die Mutter, eine Dortmunderin, hatte die Kinder aus Sicherheitsgründen im Hagener Waisenhaus der Vinzentinerinnen untergebracht. Und wir erinnern uns an die Hiobsbotschaft, die uns im Kloster Stegen erreichte, daß Frau Bachenheimer bei einem Volltreffer auf einen Dortmunder Hochbunker mit allen Insassen ums Leben kam. Der Gedanke daran, daß bei diesem Schicksalsverlauf die Kinder von der Gestapo gesucht wurden, um sie in Auschwitz zu vergasen, läßt einen heute noch erschauern. Um so höher ist zu würdigen, daß Pater Middendorf sie mit Gefahr für sein Leben (und das anderer im Kloster) gerettet hat."

b) Wilfried Buß

Weiteres über diese Kinder war von einer zweiten Personengruppe zu erfahren, nämlich von Stegener Ehemaligen des Schutzengelkinderheims. Erste Kontakte ergaben sich zu Wilfried Buß, der als Waisenkind in Stegen weilte. Er schreibt in seinem "Tagebuchauszug vom Dezember 1991", den er dem Kloster der Herz-Jesu-Priester in Stegen zusandte: "Es waren Bruder und Schwester; sie hießen Bachenheimer, der Junge Dieter, das Mädchen Eva. Gewiß wären auch sie (bei einer eventuellen Entdeckung) dann in ein KZ gebracht und die verantwortlichen Schwestern und Patres hart - vielleicht sogar mit dem Tode - bestraft worden." 

Wilfried Buß, der noch Kontakte zu ehemaligen Kindern des Kinderheimes hatte, bemühte sich, die Geschwister Bachenheimer, die ja wohl noch leben konnten, ausfindig zu machen.

2. Der Besuch 

Am 1. Mai 1993 erhielt das Stegener Kloster unerwarteten Besuch von fünf ehemaligen Kindern des Hagener Waisenhauses. Es waren Wilfried Buß, Günter Gehrke, Hermann Lütteke, Dieter Bachenheimer und Eva Zwingmann geborene Bachenheimer. Zur Besuchergruppe gehörten auch die Ehepartner Uschi Buß, Wilhelmine Bachenheimer und Rudolf Zwingmann. Wilfried Buß war es gelungen, die Geschwister Bachenheimer wiederzufinden. So machte diese Gruppe der Stegener Ehemaligen eine Fahrt nach Stegen, um sich die damalige Heimat ihrer Kinderzeit wieder anzuschauen und Erinnerungen auszutauschen. Damit konnten mit Eva und Dieter Bachenheimer unmittelbare Zeugen befragt werden. 

a) Dieter Bachenheimer erzählt:

Dieter Bachenheimer hat 1992 über sein und seiner Schwester Lebensschicksal unter der Überschrift "Erlebnisse im 1000jährigen Reich 1938-1945 in Hagen-Eilpe, Stegen/Freiburg und Wetter" (31) einen längeren Bericht geschrieben, aus dem hier inhaltlich oder wörtlich folgendes wiedergegeben wird:

Max Bachenheimer war Jude, aber 1938 zur katholischen Kirche übergetreten, nachdem er seine Frau Hildegard geb. Seckler aus streng katholischem Haus kennengelernt und geheiratet hatte. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, Dieter und Eva Bachenheimer. Die Familie wohnte in Hüsten im Sauerland. Nach dem 9. November 1938 (Kristallnacht) wurde die Familie dort angefeindet. Max Bachenheimer war kurze Zeit im KZ in Sachsenhausen (Oranienburg bei Berlin), kam nach Weihnachten 1938 frei und verließ Deutschland am Silvestertag 1938 in Richtung Niederlande, um dort die Auswanderung seiner Familie nach Brasilien zu betreiben. Hildegard Bachenheimer zog mit ihren Kindern Anfang 1939 nach Hagen und brachte sie im Schutzengelkinderheim unter. 1943 führte dann die beginnende Bombardierung der Städte zur Verlegung des Waisenhauses von Hagen nach Stegen, und auch die Bachenheimerkinder zogen mit dorthin.

Da Dieter Bachenheimer schon 1944 seine Schulzeit beendet hatte, konnte er Stegen verlassen, um sich einer Berufsausbildung zuzuwenden. Darüber berichtet er: "Alle hatten schon eine Lehrstelle, nur ich nicht. Ich war dann der Letzte, der nach Freiburg zum Arbeitsamt mußte. Dort traf ich auf zwei unangenehme Herren von der Gestapo. Diese wollten von mir wissen, was ich werden wollte, und wo mein Vater sei. Ich glaube, daß ich damals den Wunsch äußerte, Ingenieur, Feinmechaniker oder Radio-Elektriker zu werden (wegen der noch immer geplanten und erhofften Auswanderung). Gefunden und befohlen wurde mir dann der Beruf des Betriebs-Elektrikers in der Schwerindustrie (Großkranbau und Panzerherstellung) auf der DEMAG in Wetter-Ruhr. Den Aufenthaltsort unseres Vaters habe ich der Gestapo, wenn auch unter Tränen,  nicht verraten."

Schon Bernhard Coenenberg erwähnt den Tod der Mutter der Bachenheimerkinder. Dieter Bachenheimer berichtet: "Bei dem großen Angriff am 6. Oktober '44 auf Dortmund gab es große Verluste. Mutter kam nicht heim; zehn Tage lang wurden sämtliche Krankenhäuser abgesucht, auch die Friedhöfe. Großmutter fand und identifizierte dann unsere Mutter auf dem Zentralfriedhof. Mutter war tot. Sie war im höchsten Haus in Dortmund mit über 600 Leidensgenossen durch eine Bombe zu Tode gekommen. Mutter fehlten sämtliche Wertsachen, 400 Reichsmark, nur die Ringe (Ehering und Aquamarin-Ring) hatte sie noch. Mutter liegt auf dem Ehrenfriedhof auf dem Dortmunder Zentralfriedhof, Feld 57, Reihe 17."

Daß sich Pater Middendorf auch noch weiter um Dieter Bachenheimer Sorgen machte, zeigt folgende Aussage: "Es muß im November 1944 gewesen sein; in der Lehrwerkstatt der DEMAG erklang durch den Lautsprecher die Durchsage: 'Bachenheimer zum Pförtner kommen'. Ich dachte: 'Jetzt wirst du auch abgeholt.' Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich endlich beim Pförtner war; dort stand Manfred Matuschewski aus Wattenscheid-Eppendorf und lud mich dringend zum Wochenende nach Eppendorf ein. Ein Brief von Pater Rektor Middendorf sei da, den man mit mir besprechen wolle. Ich fuhr hin. Man zeigte mir den Brief, in dem sinngemäß folgendes stand: An Frau Matuschewski (Mutter von Manfred und Witwe). Ich sei Halbjude, sehr gefährdet (KZ oder ähnliches), anbei 200,-- Reichsmark und Lebensmittelkarten. Wenn ich irgendeine leise Gefahr auf mich zukommen sähe oder Matuschewskis, dann sollten wir beide, Manfred und ich, uns in den nächsten Zug setzen, möglichst viel umsteigen und nach Stegen kommen. Pater Rektor Middendorf wollte mich dann verstecken, notfalls in der Schweiz. Ich war gerührt, auch über Matuschewskis und vor allem über deren Mut. Es war damals nicht ungefährlich, mit Juden, wenn ich auch nur ein halber war, Umgang zu pflegen. Ich hatte Glück und wieder einmal einen guten Schutzengel und habe die Fürsorge des Pater Rektor nicht in Anspruch nehmen müssen."

Des weiteren berichtet Dieter Bachenheimer, wie er zweimal von der Gestapo vorgeladen wurde. Aber jeweils vor seiner Ankunft wurden die Gebäude der Gestapo bei Fliegerangriffen zerstört. "Das muß doch mein Schutzengel gewesen sein", bekennt er immer wieder. Über die Rückkehr des Vaters schreibt er: "Und dann kam Vater wieder, der längst tot geglaubte! Es war sonntags im Sommer 1945. Ich lag noch im Bett, auf dem Bettrand saß mein Vater, der mich weckte, Tränen in den Augen, da er soeben erfahren hatte, daß Mutter tot war. Die Geschenke für Mutter, ein ganzer Koffer voll - es wurde ein trauriger Sonntag. Von da an brauchten wir keinen Hunger mehr zu leiden. Vater sorgte für alles. Da Dortmund zerstört war, zogen wir auf meinem Wunsch wieder nach Hüsten im Sauerland."

a) Eva Bachenheimer bezeugt:

Während ihr Bruder Dieter nach der Schulzeit 1944 Stegen verließ, blieb Eva bis zum Kriegsende 1945 dort. Sie berichtet folgendes:

"Nach Kriegsende, etwa im Juni 1945, erfuhr ich durch einen Brief meiner Großeltern aus Dortmund, daß mein Vater den Krieg überlebt hatte. Er würde mich so schnell wie möglich aus dem Schwarzwald zu sich holen. Bevor es aber dazu kam, ergab sich im Oktober 1945 für mich die Möglichkeit, mit Bekannten die Heimreise anzutreten. Schwester Emma, die Oberin, ließ mich auf mein ständiges Bitten hin trotz Bedenken mitziehen; denn ich war erst 13 Jahre alt. Zum Abschied erzählte sie mir:

Die Gestapo hatte gegen Ende des Krieges meinen Bruder Dieter und mich im Hagener Kinderheim gesucht und erfahren, daß wir evakuiert waren. Die Hagener Schwestern informierten die Stegener Schwestern, und die faßten folgenden Plan (Dieter hatte als fünfzehnjähriger das Heim inzwischen verlassen und war beim Volkssturm): Sollte die Gestapo in Stegen auftauchen, wollte man sagen, ich läge mit einer Polypen-Operation im Krankenhaus in Freiburg. Unterdessen wollte man mich an den Bodensee schicken. Dort sollte ich dann bei einer Schwester unserer Schwester Gudila versteckt werden. Der Krieg war aber schon zu Ende; es kam nicht mehr so weit.

Als Schwester Emma mir das erzählte, konnte ich mir endlich erklären, warum es eines Tages hieß, ich müßte meine Polypen heraus operieren lassen. Nie hatte ich Beschwerden, und bis heute stören sie mich nicht. Vielleicht fürchteten die Schwestern, ich erzählte den Plan meinen Freundinnen, wenn ich ihn erfahren hätte. Und über diesen Weg wäre er möglicherweise der Gestapo bekannt geworden. Also erfuhr ich erst davon, als die Gefahr vorbei war" (32).

E. Helga und Heinz-Kasimir Karmiol

Am 28. Mai 1994 kam es nach über 50 Jahren seit der Verlegung des Schutzengelkinderheimes aus Hagen-Eilpe zu einem ersten Treffen der Stegener Ehemaligen, an dem etwa vierzig Personen teilnahmen. Im Laufe des Tages wurde über die Stegener Zeit ein Lichtbildervortrag gehalten. Auf einigen der alten Fotos entdeckte man auch ein schwarzhaariges Mädchen namens Helga Karmiol, das zusammen mit ihrem Bruder Heinz-Kasimir Karmiol zu den Waisenkindern gehört habe. Es wurde behauptet, beide seien jüdischer Abstammung gewesen. Nachforschungen haben ergeben, daß Heinz-Kasimir Karmiol verstorben ist. Seine Schwester Helga, die später heiratete und unter anderem Namen im Ruhrgebiet lebt, hat bisher jegliche Kontaktaufnahme abgelehnt, da sie, wie sie mitteilen ließ, an die Zeit nicht mehr erinnert werden wolle.

Als Zeugin konnte Ruth Flügge, die als Ruth Sattler, geboren 1932, vom 3. November 1943 bis zum 20. August 1944 zum Schutzengelkinderheim in Stegen gehörte, befragt werden. Danach weilte Helga Karmiol zur gleichen Zeit wie sie in Stegen. Beide Mädchen freundeten sich an. Im August 1944 verließ Ruth Sattler Stegen, weil sie mit dem Lehrer Friedrich Abel nicht zurechtkam.  Die Freundschaft zwischen den Mädchen dauerte auch noch nach dem Kriege an, als auch Helga Karmiol mit dem Schutzengelkinderheim wieder nach Hagen-Eilpe zurückgekehrt war.

Nach Ruth Sattlers Aussage habe ihre recht hübsche Freundin, die an der Pforte tätig war, auch damals noch um ihr Leben große Angst gehabt. Die Freundschaft wurde 1951 abgebrochen, als Ruth Sattler heiratete. Sie wünschte sich Helga Karmiol als Trauzeugin. Diese aber durfte auf Anweisung der Leitung des Schutzengelkinderheimes an der Hochzeit nicht teilnehmen, weil Ruth Sattler reformiert getraut wurde. Die Freundinnen durften einander nicht mehr sehen und lebten sich auseinander. Ruth Flügge bezeugt, daß Helga Karmiol, die später Tänzerin wurde, einen jüdischen Vater und eine deutsche Mutter gehabt habe.

F. Das Ende des Krieges

Endlich kam der Tag der Befreiung, nämlich Montag, der 23. April 1945. Über das Ende des Krieges liegen verschiedene Berichte vor. Lotte Paepcke schreibt dazu:

"Dann hörten wir an einem jener Vorfrühlingstage fernes Artilleriefeuer. Die Franzosen näherten sich. Noch wußten wir nicht, ob sie aus der Ebene in die Täler des Gebirges eindringen oder von den Bergen her in die Täler herabstoßen würden. Bald aber war es sicher, daß sie aus der Ebene kämen, und der Volkssturm wurde zusammengerufen, um den Eingang in das Tal, an welchem das Kloster lag, zu verriegeln. Alle Einsichtigen durchschauten von vornherein die Lächerlichkeit dieser Vorkehrungen, aber nicht einmal der toten Macht des Nationalsozialismus wagten seine Diener den Gehorsam zu verweigern. So mußten wir mit allen den vielen Kindern und Evakuierten zwei Tage in den Kellergewölben des Klosters zubringen. Am dritten Tag konnte man von der Gartenmauer aus die fernen Panzer heranrollen sehen. Ich blieb mit einigen andern oben. Nach zwanzig Minuten fuhren zwei französische Wagen heran und hielten vor dem Tor des Klosters. Ich war gerettet" (33).

Bernhard Coenenberg schildert das Ende folgendermaßen:

"Voller Spannung sahen wir, wie die ersten französischen Panzer unsere Dorfstraße entlang fuhren, und einige Infanteristen, das Gewehr im Anschlag, in unseren Klosterhof kamen. Wir Kinder liefen aus dem Keller, um sie jubelnd zu empfangen. Eine Frau Braun, die in unserem Keller saß und nicht nur Braun hieß, rief empört: 'Die jubeln unserm Feind zu.' Immerhin: Wir brauchten nicht mehr zu Lehrer Abel in die Schule und auch nicht mehr zur Hitlerjugend. Pater Middendorf und das ganze Kloster atmeten auf und feierten das Kriegsende mit einem 'Te Deum' und einer Prozession durch den Park.

Dann kam die Rückreise nach Düsseldorf. Wir freuten uns auf unsere Heimat, die wir dreieinhalb Jahre nicht gesehen hatten, und auf unseren Vater. Aber wir spürten auch, daß wir von einer Kindheit Abschied nehmen mußten, die niemals wiederkehren würde. Meine Schwester Resi erzählte mir später, ich hätte mit einem Gesicht voller Tränen nach Stegen geschaut, als unser Pferdefuhrwerk gen Freiburg fuhr" (34).

Wilfried Buß schildert den Tag aus seiner Sicht:

"Gemeinsam erlebten wir das dramatisch verlaufende Kriegsende. An einem Nachmittag hatten die Schwestern eine große weiße Fahne zu nähen (4 Bettlaken wurden dazu auf dem Platz vor dem Schloß ausgebreitet, um die entsprechende Größe zu begutachten), die beim Hissen auf dem Schloßdach später in der Mitte ein rotes Karree zeigte. Die Fahne flatterte dann oberhalb der Krone an einer Fahnenstange auf dem Dach des Schlosses. Am nächsten Morgen kamen die französischen Truppen. Wir befanden uns zu dieser Zeit im Schloßkeller und beteten gemeinsam mit den Schwestern, den Patres und einigen Ausgebombten aus Freiburg, verstanden aber damals nicht den Ernst der Lage. Vom Pater Rektor und von der Oberin Sr. Emma, die wohl an der Schloßpforte gewacht hatten, wurden wir aus dem Keller des Schlosses nach draußen beordert und sahen, blinzelnd im grellen Tageslicht, die fremden Soldaten unweit des Hauptgebäudes lagern oder hantieren. Auch dunkelhäutige Soldaten, damals für uns eine Sensation, waren unter ihnen.

Rückblickend können wir stolz sagen: Wir Waisenkinder waren dabei, als in den frühen Vormittagsstunden des 23. April 1945 mit der wärmenden Frühjahrssonne der Hoffnungsstrahl wiedergewonnener Freiheit auf das Schloß Weiler und seine dörfliche Umgebung fiel. Das zuvor unter entscheidender Mithilfe 'unseres Pater Rektors', wie wir ihn liebevoll nannten, ausgehandelte Abkommen, das Schloß mit seinem Weichbild kampflos an die französische Truppe zu übergeben, hielt. Noch Tage zuvor befürchteten die Verantwortlichen unter Leitung Pater Middendorfs mit tatkräftiger Hilfe durch unsere Oberin Sr. Emma das Schlimmste für ihre Schutzbefohlenen, als sie in den Berghang hinter der Mühle in aller Eile einen Schutzstollen treiben ließen, wobei bei den dafür notwendigen Sprengarbeiten ein bei uns untergebrachter Junge aus der näheren Umgebung schwerste Verletzungen erlitt.

Ein französischer Offizier, dem ich auf Geheiß Pater Rektors unsere Schloßkapelle zeigen sollte, reichte mir die Hand und ließ sie auf dem kurzen Wege vom Schloßportal bis zum Altar nicht mehr los. Dann 'zauberte' er zu meinem Erstaunen aus seiner Uniform eine lilafarbene Stola, küßte sie kurz und legte sie sich um den Hals gleich so, wie wir jungen Meßdiener es täglich in der hinter dem Hauptaltar befindlichen Sakristei so oft bei den Patres gesehen hatten.

Dies konnte nicht der seit Sommer 1943 von Lehrer Abel als böse und mörderisch bezeichnete Feind sein, der am Altar einige Minuten im stillen Gebet verweilte. Ich kniete rechts neben ihm auf der Stufe, die zum Altar führte. Nach einer kurzen Weile der inneren Einkehr schloß er sein stilles Gebet mit einem Kreuzzeichen, verneigte sich mit einer kurzen Kniebeuge vor dem Allerheiligsten und wandte sich zu mir, indem er seine Stola faltete und in einer Seitentasche seiner Uniformjacke verstaute. Dann verließen wir gemeinsam die Kapelle. Er sah sich noch kurz den kleinen Weiher an, warf einen flüchtigen Blick hin zum Schloßpark, und dann betraten wir wieder den Schloßhof. In gebrochenem Deutsch wies er auf die rechts vor dem Brüderhaus unter einer mächtigen Kastanie gestikulierenden dunkelhäutigen Soldaten und bat mich, den anderen Kindern mitzuteilen, man solle diese marokkanischen Muslime vor allem dann nicht ansprechen, wenn sie, auf den Knien zum Boden gebeugt, in ihren Gebeten verharren würden. Nun wurde der französische Geistliche wieder von Pater Rektor in Empfang genommen, und gemeinsam verschwanden sie in unserem Schloß.

Von dieser ersten Begegnung mit dem apostrophierten Feind, der so freundlich auf mich wirkte, spürte ich von Stund an und in den folgenden Jahren mittels der durch die Vinzentinerinnen einfühlsam betriebenen Aufklärung mehr und mehr, daß der Friede stärker sein werde als der Krieg, der freie mitmenschliche Umgang stärker als die Angst vor einem falschen Wort, das Leben in freier Entfaltung stärker als die Furcht vor einem gewaltsamen, kriegerischen Tod, kurz die völkerverbindende Liebe stärker als der Haß sein werde.

Auch in den folgenden Tagen wurde ich noch einige Male gebeten, dann als Meßdiener einzuspringen, wenn der mir bekannte französische Feldgeistliche im Beisein einiger weniger Soldaten die Messe las. Wir erfuhren ein, zwei Tage nach dem Einmarsch der Franzosen zum ersten Male - eher ungläubig - aus dem Radio, das uns die Vinzentinerinnen wohl absichtlich in unseren Aufenthaltsraum gestellt hatten, von den Greueltaten in den KZs, und auf unsere entsetzten Nachfragen nach dem Wahrheitsgehalt dieser uns entrüstenden Meldungen nickte unsere Betreuerin, Schwester Dionysia, den Blick schamhaft zu Boden gesenkt.

Im nachhinein wurde mir klar, daß die Patres und Ordensfrauen von dem Genozid - vielleicht nicht in seinem ganzen unbeschreiblichen Ausmaß - gewußt haben müssen. Dies geht vor allem auch daraus hervor, daß sie mit Bedacht und größter Vorsicht Juden und andere mit dem Tode bedrohte Verfolgte unter Lebensgefahr in den Schloßgebäuden versteckten, aber uns 'kindlich naiven Plappermäulern' dies wohlweislich verschweigen mußten.

Die für viele Millionen Deutsche - Ausgebombte, Verletzte, Flüchtlinge, Witwen, Greise und Kinder - so schweren, entbehrungsreichen Wochen und Monate der permanenten Sorge ums Überleben nach der Kapitulation blieben uns Waisenkindern, dank der aufopfernden Hilfe der Schwestern und Patres, erspart. Zwar spürten wir täglich die umsichtige Verwaltung des Mangels, aber hungern mußten wir nicht, auch wenn wochenlang das tägliche Brot knapper wurde und als Brotaufstrich lediglich Apfelmus gereicht werden konnte oder hin und wieder Brennesselsalat serviert wurde." (35).

Merkwürdigerweise war es zunächst nicht möglich, den genauen Tag des Einmarsches der Franzosen in Stegen festzustellen. Zwar stand fest, daß die Truppen am 21. April 1945 Freiburg besetzten. Weiterhin heißt es im Kirchzartener Festbuch: "Am 23. April 1945, fünfzehn Tage vor der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation durch die deutsche Wehrmacht, marschierten französische Besatzungstruppen in Kirchzarten ein" (36). Eine Umfrage ergab, daß noch lebende Zeugen übereinstimmend Montag, den 23. April 1945, als Tag der Befreiung auch Stegens nannten.