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VI. Pater Heinrich Middendorf (1898-1972)

A. Sein Leben
B. Yad Vaschem
C. Gerechter unter den Völkern
D. Die Feierstunde in Stegen: 24. Mai 1995
    1. Die Würdigung
    2. Die Übergabe der Ehrenurkunde und Medaille
E. Die Ehrentafel in Yad Vaschem: 19. Oktober 1995

A. Sein Leben

Der entscheidende Mann, der viel gewagt hat, war Pater Dr. Heinrich Middendorf. Er lenkte die Geschicke der Menschen im Missionshaus Stegen durch die Kriegszeit und rettete ihr bedrohtes Leben. Inwieweit noch weitere Personen oder Betreuer im Kloster von der Anwesenheit der Menschen jüdischer Herkunft wußten, ist nur teilweise zu klären. Da von den damaligen Herz-Jesu-Priestern niemand mehr lebt, ist unklar, ob die Mitbrüder von Pater Middendorf eingeweiht waren. Sicherlich wußten einige der Vinzentinerinnen davon sowie von den Angestellten die damals fünfzehnjährige Hilde Schiwon, die als Sr. Arnolda heute noch lebt und bezeugt, daß sie davon unterrichtet war. Man kann sogar davon ausgehen, daß mehrere Personen die Menschen jüdischer Abstammung kannten, da es wichtig war, daß sie Vorkehrungen treffen konnten, wenn das Kloster, das unter staatlicher Überwachung stand, von der Gestapo Besuch erhielt.

Pater Middendorf wurde am 31. August 1898 als Sohn des Schuhmachers Heinrich Middendorf und seiner Ehefrau Maria geb. Jaske in Aschendorf im norddeutschen Emsland geboren. Sein Vater, der ein streitbarer Politiker und zeitweise auch Gemeindevorsteher von Aschendorf war, mag seine unbeugsame Haltung auf seinen Sohn vererbt haben. Heinrich Middendorf hatte noch sechs weitere Geschwister (37). Er besuchte in seinem Heimatort zunächst die Volksschule und ab dem 11. Lebensjahr von 1909-1912 dort die Rektoratschule. Dann empfing er viereinhalb Jahre lang die weitere Gymnasialausbildung in einer Humanistischen Lehranstalt, nämlich in der Missionsschule der Herz-Jesu-Priester in Sittard in den Niederlanden. Am 5. Oktober 1917 band er sich durch die drei Ordensgelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams an diese Ordensgemeinschaft. Nach den höheren Studien in Sittard, Luxemburg und Sayn wurde er am 17. März 1923 in Limburg zum Priester geweiht. Als Neupriester hatte er den Auftrag, sich für die Ausbildung der Scholastiker des Ordens vorzubereiten.

Er studierte Theologie in Innsbruck, Berlin und Freiburg und schloß seine Studien mit der Promotion in den Bibelwissenschaften ab. Der Titel seiner Doktorarbeit lautete: "Gott sieht. Eine terminologische Studie über das Schauen Gottes im Alten Testament" (1935). Als Dozent der Exegese war er in Bendorf, Stegen, Handrup und Freiburg tätig. In diesen Häusern, außer in Handrup, war er auch Rektor. In seiner Rektoratszeit in Stegen von 1938-1946, in die die ganze Zeit des Zweiten Weltkriegs fiel, ereigneten sich jene Menschenschicksale, von denen oben die Rede war.

Nach dem Weltkrieg berief ihn die Generalleitung der Herz-Jesu-Priester 1949 als Generalrat nach Rom. Nach dem Ende seiner Amtszeit blieb er zunächst in Rom und meldete sich 1956 für den damaligen, später in Zaire umbenannten Kongo im Herzen Afrikas, obwohl er mit 58 Jahren nicht mehr jung war, und war dort 14 Jahre als Missionar tätig. Er betreute die Missionsstation Legu in der Diözese Wamba. In der Zeit des Simbaaufstandes 1964 wurde er bedroht und eingekerkert und erlebte die Ermordung seines Bischofs und vieler Missionare und Missionsschwestern. Unter Ihnen befand sich auch jene Ordensschwester von der Heiligen Familie, Marie Clementine Anuarite Alphonsine Nangapeta, die als Märtyrerin aus Liebe zu ihrem Gelübde der Keuschheit starb und 1985 als erste schwarzafrikanische Frau von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen wurde, - eine Frucht der missionarischen Tätigkeit der Herz-Jesu-Priester im Kongo.

1972 kam er zum Heimaturlaub nach Deutschland. Am 17. Juni 1972 besuchte er anläßlich des Geburtstags von Adolf Coenenberg die Familie in Düsseldorf, wo das wohl letzte denkwürdige Foto aufgenommen wurde, das ihn als Missionar mit weißem Bart zeigt. Am 14. Juli weilte er im Osnabrücker Kloster der Herz-Jesu-Priester. Am 16. Juli hielt er einen Missionstag in Osterkappeln. Am 23. Juli fuhr er zu einem Jubiläum in die Niederlande. Am 25. Juli wurde er wegen einer Oberkieferoperation ins Städtische Krankenhaus in Osnabrück eingeliefert, aus dem er am 1. August entlassen wurde. Am 5. August reiste er in seine Heimatstadt Aschendorf, um einen Missionssonntag zu halten. Dort kam er sterbenskrank an. Die Ärzte stellten eine Herzmuskelentzündung, eine Nierenerkrankung und einen Lungenstau fest. Zur besseren Versorgung wurde er ins Osnabrücker Marienhospital gebracht. Dort erlag er am 10. August 1972 gegen 04.40 Uhr einem Herz- und Kreislaufversagen (38). Er starb in den Sielen, oder wie es auf dem Totenzettel heißt: "In der Morgenfrühe des 10 August 1972 rief Gott ihn unerwartet schnell mitten aus all seinen Sorgen und Plänen für seine Missionsstation in Zaire zu sich in die Ewigkeit. Nach der Mühe und Arbeit der Erdentage möge der Herr ihm als Lohn das ewige Leben schenken". Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof des Herz-Jesu-Klosters in Handrup (Emslandkreis).

Lotte Paepcke, die ihn gut kannte, hat ihn so charakterisiert: "Er stammte aus einer emsländischen Handwerkerfamilie, und das Zähsehnige seines Körpers und die einfache Struktur seiner Hände sprachen noch deutlich davon. Schmucklos und nüchtern waren seine Bewegungen und seine Worte. Sie fielen schwer und gemessen wie Ackerschollen, und keines zuviel. Sein Blick war durchdringend, und da sein eines Auge ein wenig schräg stand, hatte man immer das Gefühl, er schaue damit an eine verborgene Stelle, die man ihm nicht hatte zeigen wollen. Überhaupt rief sein unerbittlich redliches Wesen in jedem Menschen, der ihm gegenübertrat, eine kleine Unsicherheit hervor, denn keiner von allen wußte sich in seinem eigenen Innern wirklich rein; dieser Mann aber war es. Sein großes, an den Universitäten erworbenes Wissen, sein Umgang mit geschickten Dialektikern, wie sie die Theologie so zahlreich hervorbringt, seine Erfahrungen aus mancherlei Reisen in fremde Länder als Missionar, - nichts hatte vermocht, die herbe Einfachheit seines Wesens unklar zu machen oder seine Klugheit auf Umwege zu führen. Er war kein gewandter Psychologe im Umgang mit den Menschen, denn seine eigene Seele kannte kein Zwielicht. Aber er zwang die, die um ihn waren, selbst voll ins Tageslicht zu treten, zu sein, wie es verlangt wurde, zu tun, was recht war, und sich ihrer Dunkelheiten zu schämen. Doch die einschichtige Unbedingtheit seines Wesens hinderte ihn nicht, mit der vielschichtigen Problematik jener Tage fertig zu werden und mit Umsicht sein Kloster und alle seine Insassen durch die politischen Wirren der nationalsozialistischen Zeit zu steuern" (39).

B. Yad Vaschem

Seit Mitte 1993 hatte Dr. Peter Paepcke zusammen mit seiner Mutter Lotte Paepcke und unterstützt von Dieter Bachenheimer und Eva Zwingmann bei den zuständigen jüdischen Behörden in Israel den Antrag gestellt, an der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem auch Pater Middendorf zu ehren. Dazu hatte er alle Unterlagen, vor allem die in dem Bücherverzeichnis dieses Beitrages angegebenen diesbezüglichen Veröffentlichungen zu den Vorgängen in Stegen während der Kriegszeit, an die jüdischen Behörden gesandt, wobei er einschränkend bemerkte, einem solchen Antrag werde nicht leicht stattgegeben, da die Beweismittel mit großer Strenge geprüft würden.

Yad Vaschem - was ist das? In Jerusalem gelangt man vom Herzl-Berg auf der Hazikaron-Straße zum "Hügel des Gedenkens" (Har Hazikaron), nämlich der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem für die von den Nationalsozialisten ermordeten Juden. Der Name der Stätte "Yad Vaschem" bedeutet "ein Denkmal und ein Name" oder "Dauerndes Gedenken"; er bezieht sich auf ein Wort des Propheten Jesaja: So spricht der Herr: Ich will ihnen in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben, einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll (Jes 56,4-5). Yad Vaschem besteht aus mehreren Gebäuden, in denen ein Holocaust-Archiv, ein Dokumentations- und ein Forschungszentrum, eine Synagoge, eine Kindergedenkstätte und ein Kunstmuseum mit Werken jüdischer KZ-Häftlinge untergebracht sind. Den Mittelpunkt des weiträumigen Geländes bildet die mächtige "Halle der Erinnerung": In den dunklen Steinboden sind die Namen der 22 größten Konzentrationslager eingemeißelt. Eine Ewige Flamme brennt vor einer Bronzeschale, die die Asche von Opfern aus jedem Lager enthält. Auf dem Vorplatz ragt die "Säule der Erinnerung" 30 m hoch empor; an ihrer Spitze steht das Wort "Zkhor" (Erinnere dich).

Der Besucher betritt zunächst die "Allee der Gerechten". Sie ist Nicht-Juden gewidmet, die unter Einsatz ihres Lebens Juden gerettet haben; ihnen verleiht Israel den Ehrentitel "Gerechter unter den Völkern", und sie werden durch einen mit ihrem Namen gekennzeichneten Johannisbrotbaum verewigt (40). Bisher wurden rund 14.500 Nicht-Juden, die Juden zur Rettung wurden, von Yad Vaschem mit dem Titel "Gerechter unter den Völkern" geehrt. Da die Allee für Johannisbrotbäume keinen Platz mehr bietet, wurde an anderer Stelle eine Gedenkwand errichtet, in die Steinplatten mit den Namen solcher Nicht-Juden eingemauert werden.

C. "Gerechter unter den Völkern"

Am 14. November 1994 teilte Dieter Bachenheimer hocherfreut mit, er habe von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem ein englisch verfaßtes Schreiben erhalten, in dem mitgeteilt werde, daß Pater Middendorf in Yad Vaschem geehrt worden sei. Einige Tage danach trafen von Dieter Bachenheimer und Dr. Peter Paepcke Kopien des Briefes ein, der in englischer Sprache und deutscher Übersetzung wiedergegeben sei.

a) Der Originalbrief lautet:

Yad Vashem

The Holocaust Martyrs' and Heroes' Remembrance Authority

Jerusalem, 1 November 1994

Ref.: Middendorf Pater Heinrich - Germany (5837)

We are pleased to annouce that the above person was awarded the title of "Righteous Among the Nations," for help rendered to Jews during the period of the Holocaust.

The above, or his nearest relative, is entitled to a medal and a certificate of honor, as well as having his name added on the Righteous Honor Wall at Yad Vashem.

Copies of this letter are being mailed to persons who have submitted testimonies, and other interested parties. Their assistance is asked to provide us with the address of the honoree or his nearest relatives.

Dr. Mordecai Paldiel

Director, Dept. for the Righteous

cc. Dr. Paepcke - Germany

      Mrs. Lotte Paepcke - Germany

      Mr. Dieter Bachenheimer - Germany

2.5/M.P./D.W.

P.O.B. 3477. Jerusalem 91034. Tel. 751611. Fax. 433511.

b) Die deutsche Übersetzung lautet:

Yad Vaschem

Amt zum Gedächtnis an die Märtyrer und Helden des Holocaust

Jerusalem, den 1. November 1994

Betrifft: Pater Heinrich Middendorf, Deutschland (5837)

Wir freuen uns, mitteilen zu können, daß der obigen Person der Titel "Gerechter unter den Völkern" verliehen wurde für die für Juden während der Zeit des Holocaust geleistete Hilfe.

Der oben Genannte (oder dessen nächster Verwandter) hat Anspruch auf eine Medaille und eine Ehrenurkunde; ebenso wird sein Name auf der Ehrenwand der Gerechten in Yad Vaschem eingetragen.

Kopien dieses Briefes werden an Personen verschickt, die Beweismittel geliefert haben, und an andere Gruppen von Interessenten. Wir bitten um ihre Hilfe, uns die Adresse des Geehrten oder seines nächsten Verwandten mitzuteilen.

Dr. Mordecai Paldiel, Abteilungsleiter für die Verleihung des

                      Titels "Gerechter unter den Völkern"

An: Dr. Peter Paepcke, Deutschland

      Frau Lotte Paepcke, Deutschland

      Herr Dieter Bachenheimer, Deutschland

2.5./M.P./D.W./

P.O.B. 3477. Jerusalem 91034. Tel. 751611. Fax. 433511.  

Die Ehrung eines Nicht-Juden auf Grund seiner Verdienste für die Rettung von Menschen jüdischer Herkunft, die von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem in Jerusalem ausgesprochen wird, verläuft in drei Schritten. Der erste Schritt besteht in dem Beschluß der israelischen Behörde in Yad Vaschem, jemanden wegen seiner Verdienste den Titel "Gerechter unter den Völkern" zu verleihen. Dieser Beschluß wurde am 11. September 1994 gefaßt und im Schreiben vom 1. November 1994 den Antragstellern mitgeteilt. Über diesen Schritt wurde oben berichtet.

D. Die Feierstunde in Stegen: 24. Mai 1995

Bald danach meldete sich die Botschaft des Staates Israel in Bonn, um die Übergabe der Medaille und der Ehrenurkunde vorzubereiten. So fand im Kolleg St. Sebastian am 24. Mai 1995 eine Feierstunde statt, in der diese Übergabe in festlichem Rahmen erfolgte. Von der israelischen Botschaft in Bonn nahmen daran teil der Gesandte, Avraham Benjamin, sowie die Referentin für Yad-Vaschen, Gisela Kuck.

1. Die Würdigung

In der von Schulorchester, Bläserkreis und Solisten musikalisch umrahmten Feierstunde begrüßte P. Rektor August Hülsmann SCJ die Festgäste, den Gesandten Avraham Benjamin und die Referentin, Gisela Kuck, von der Botschaft des Staates Israel, den Landesrabbiner der israelischen Religionsgemeinschaft Badens, Benjamin David Soussan, diejenigen Personen jüdischer Abstammung sowie weiterer, denen Pater Middendorf während des Krieges Zuflucht gewährte, nämlich Dieter Bachenheimer und Frau Wilhelmine, Ursula Giessler, Dr. Peter Paepcke, Dr. Gerhard Zacharias, Eva und Rudolf Zwingmann sowie Wilfried Buß und Frau Uschi, weiterhin Gymnasialprofessor Dr. Alwin Renker und Ursula Blum, die die Nachforschungen von P. Bothe im "Freiburger Rundbrief" veröffentlichten, weitere Vertreter von Kirche und Staat wie den Freiburger Weihbischof Wolfgang Kirchgässner und alle anwesenden Dekane und Pfarrer, den Stegener Bürgermeister Siegfried Kuster sowie alle weiteren Bürgermeister, die Vertreter des Oberschulamtes Freiburg, die Mitbrüder der Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester, die Vertreter der Schülerschaft und alle anwesenden Schülerinnen und Schüler, das Lehrerkollegium, die Eltern sowie Nachbarn und Bewohner von Stegen. Dann sagte er unter anderem:

"Wir alle sind dankbar für das mutige Zeugnis aufrichtiger und einfacher Mitmenschlichkeit, das Pater Middendorf, seine Mitbrüder, die damals hier lebenden Ordensfrauen und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Klosters Stegen gegenüber heimatlosen und gefährdeten Menschen, insbesondere gegenüber den verfolgten jüdischen Menschen, gegeben haben. Und wir sind auch ein wenig stolz auf dieses Erbe an diesem Ort.
Doch wer so des Vergangenen gedenkt, kann dies als Deutscher, als Christ und als katholischer Ordensmann nur tun, wenn er mit Scham auch auf den unfaßbaren Holocaust schaut. Deshalb stelle ich hier mit dem Beschluß 'Unsere Hoffnung' der Gemeinsamen Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland vom 22. November 1975 fest:

'Wir sind das Land, dessen jüngste politische Geschichte von dem Versuch verfinstert ist, das jüdische Volk systematisch auszurotten. Und wir waren in dieser Zeit des Nationalsozialismus, trotz beispielhaften Verhaltens einzelner Personen und Gruppen, aufs Ganze gesehen doch eine kirchliche Gemeinschaft, die zu sehr mit dem Rücken zum Schicksal dieses verfolgten jüdischen Volkes weiter lebte, deren Blick sich zu stark von der Bedrohung ihrer eigenen Institutionen fixieren ließ und die zu den an Juden und Judentum geübten Verbrechen geschwiegen hat. Viele sind dabei aus nackter Lebensangst schuldig geworden. Daß Christen sogar bei dieser Verfolgung mitgewirkt haben, bedrückt uns besonders schwer. Die praktische Redlichkeit unseres Erneuerungswillens hängt auch an dem Eingeständnis dieser Schuld und an der Bereitschaft, aus dieser Schuldgeschichte unseres Landes und auch unserer Kirche schmerzlich zu lernen' (Unsere Hoffnung, IV,2).

Staunend und dankbar sehen wir heute auf die Bereitschaft des jüdischen Volkes zur Versöhnung. Wenn in Yad Vaschem nicht nur die Namen der umgebrachten Juden bewahrt, sondern trotz millionenfachen Mordes auch die Namen der wenigen, die sich in diesem unfaßbaren Grauen für jüdische Menschen eingesetzt haben, geehrt werden, dann ist das ein bewundernswerter Schritt zur Versöhnung. Dafür danken wir!

In konkreter Weise danken wir, daß heute, am 24. Mai 1995, Pater Middendorf als 'Gerechter unter den Völkern' geehrt wird. Dieser Akt lebendiger Geschichte soll für unser Kolleg St. Sebastian im fünfzigsten Jahr nach dem Kriegsende und nach der Befreiung der Konzentrationslager und im dreißigsten Jahr der aufgenommenen diplomatischen Beziehungen zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik Deutschland eine Aufforderung zu Toleranz, Versöhnung und mutiger Standhaftigkeit sein, nach innen und außen. Er sei uns Verpflichtung, auch mit konkreten Schritten der Verständigung, wie dem zweimaligen Schüleraustausch mit Ra'anana, in der Nähe von Tel Aviv, fortzufahren.

Nun zu meinem Glaubensbekenntnis: Nach den Erfahrungen des Krieges und des unsäglichen Holocaust vor allem an Menschen jüdischer Herkunft haben viele Juden und Christen nicht mehr von Gott sprechen können. Ich halte mich an die letzte Zeile eines Gedichts der jüdischen Schriftstellerin und Dichterin Nelly Sachs: 'Wieder ist Gott reisefertig'. Sie knüpft mit diesem Bild an bei dem Gott, der mit dem Volk Israel auf dem Zug durch die Wüste war. Der Gott der Juden und der Gott der Christen, unser gemeinsamer Gott, will auch heute mit uns aufbrechen in eine gemeinsame Zukunft, die für uns wohl immer eine schamvolle Zukunft sein wird, aber eine Zukunft, die uns leben läßt. 'Wieder ist Gott reisefertig'. Laßt uns den Weg gehen in Dienmut mit unserem Gott! (vgl. Micha 6,8)."

Nach der Begrüßung gab P. Bothe in einem Dia-Vortrag einen Bericht über die Forschungen der letzten vier Jahre, in dem sich nach und nach mosaikartig Personen und Ereignisse zum Bild zusammensetzten. Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte des Stegener Klosters der Herz-Jesu-Priester legte er dar, in welchen Gruppen sich die über 150 Menschen gliederten, die von 1942-45 auf dem Klostergelände lebten: die Patres und Brüder der Ordensgemeinschaft unter der Leitung von Pater Middendorf, die Dominikanerinnen, die den Haushalt führten, die Vinzentinerinnen, die die 75 Waisenkinder betreuten, zu denen noch 19 Kinder aus kriegsbedrohten Familien kamen, dazu einige Familien, deren Häuser in den Städten zerstört wurden, schließlich gegen Ende des Krieges eine Schar ausgebombter Freiburger jeglicher Couleur, von denen auch einige treue Nazi-Anhänger waren, - und unter dieser großen Schar jene sieben bis neun Menschen jüdischer Abstammung, die wohl gerade hier in diesem Menschengemenge unauffällig versteckt werden konnten, weil niemand sie dort vermutete.

Darauf hielt Gisela Kuck die Laudatio auf Pater Middendorf und sagte:

"Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem in Jerusalem hat Pater Dr. Heinrich Middendorf für die Rettung jüdischer Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus die Ehrung 'Gerechter unter den Völkern' zuerkannt. Um einem Antrag auf Ehrung stattgeben zu können, benötigt die Prüfungskommission in Yad Vaschem eine eidesstattliche Erklärung des oder der geretteten Juden über die seinerzeitigen Geschehnisse.

Lotte Paepcke, die zusammen mit ihrem Sohn Peter von Ende November 1944 bis zur Befreiung durch die französischen Truppen am 23. April 1945 im Kloster Stegen versteckt war, hat durch ihre Zeugenaussage vom 2. Juni '93 diese Ehrung für Pater Middendorf erwirkt. Der nüchterne und sich nur auf das Allerwichtigste beschränkende Wortlaut ihrer Aussage ist kaum dazu angetan, dem flüchtigen oder gar unkundigen Leser - 50 Jahre nach den menschenverachtenden Maßnahmen der Nazis gegen deutsche Bürger jüdischen Glaubens - die damaligen Lebensumstände und das Ausmaß des Verhängnisses vor Augen zu führen. Um so eindringlicher vermögen dies jedoch ihre kurz nach Kriegsende schriftlich niedergelegten Erinnerungen. Ihr bewegender Bericht schildert ihr persönliches Schicksal, das Schicksal einer in Mischehe lebenden Jüdin, die Leiden ihrer Familie, die Angst vor dem Entdecktwerden, das Abrücken der Freunde, aber auch die unerschrockene und oft unerwartete Hilfsbereitschaft einiger Nachbarn, und daß Pater Middendorf sie und ihren Sohn in den allerschwärzesten Stunden in den Schutz der Klostermauern holte.

Dieser Bericht und gleichermaßen die Aufzeichnungen über die Nachforschungen, die P. Dr. Bernd Bothe in den vergangenen Jahren über 'Lebensschicksale in Stegen von 1942 bis 1945' betrieb, geben dieser Feierstunde eine besondere Dimension. Denn P. Bothe fand heraus, daß neben Lotte Paepcke und ihrem Sohn Peter sieben weitere Juden im Kloster Stegen versteckt waren und dort überlebten.

 Angesichts der Geschehnisse in einer Zeit höchster Unmenschlichkeit sind wir dankbar, heute im Rahmen dieser Feierstunde das mitmenschliche Verhalten Pater Middendorfs öffentlich würdigen zu können. In dieser Stunde geht es um einen Menschen und seine Taten, der sich die Fähigkeit bewahrte, Mitleid mit der gequälten Kreatur zu empfinden, und aus dem Mitleiden die Motivation zum Engagement entwickelte. Er verschloß seine Augen nicht, als das Unrecht bei ihm einbrach. Er stand nicht am Fenster und schaute zu, sondern handelte, stellte sich schützend vor die Verfolgten, versuchte unter Einsatz des eigenen Lebens zu helfen, zu retten.

Neben den vielen anderen Hilfesuchenden waren seine Schützlinge jüdischer Herkunft: Lotte Paepcke und ihr Sohn Peter, Irmgard Giessler und ihre Tochter Ursula, Gerhard Zacharias, die Geschwister Dieter und Eva Bachenheimer sowie die Geschwister Helga und Heinz-Kasimir Karmiol.

Lotte Paepcke bringt das Wesentliche in ihrer Zeugenaussage auf den Punkt: '... Es ist offenkundig, daß Pater Middendorf unter Einsatz seines Leben mich ebenso wie auch andere Personen, die er, wie ich weiß, im Kloster versteckte, vor der Verfolgung bewahrt hat... Es wäre mir ein große Genugtuung, wenn Pater Middendorf für seinen Einsatz, mit dem er nach den damaligen Gesetzen sein Leben riskierte, geehrt würde.'

Pater Dr. Heinrich Middendorf wurde in den Kreis der 'Gerechten unter den Völkern' aufgenommen. Wir freuen uns, daß der Name dieses Menschen in Yad Vaschem verewigt wird."

 Danach hielt der Gesandte der israelischen Botschaft, Avraham Benjamin, einen Festvortrag und sagte in seiner Würdigung:

"Heute sind es 50 Jahre, ein Monat und ein Tag her seit der Befreiung der Stadt Freiburg vom Nazi-Regime. In diesem Jahr haben wir sehr viel Anlässe gehabt, uns an die schrecklichen Tage und Monate des 2. Weltkriegs zu erinnern. Schon seit Januar, mit dem Gedenken der Befreiung von Auschwitz und dann in raschen Abständen mit den Gedenkfeiern für die Befreiung von anderen Konzentrationslagern bis zu den Feierstunden, die am 8. Mai in Paris, London, Berlin und Moskau stattfanden, sind wir wieder in die Vergangenheit zurückversetzt und gewissermaßen gezwungen worden, uns an die Ereignisse und Erlebnisse von damals zu erinnern.

Wir - ich gehöre auch der Nachkriegsgeneration an, und erst durch meine Versetzung nach Deutschland kam ich dazu, mich mit der  Geschichte des Holocaust intensiv auseinanderzusetzen - wir versuchen uns vorzustellen, wir es wirklich war - was für Juden fast ein religiöses Gebot ist. Während des Pesach-Festes, das den Exodus aus Ägypten feiert, lesen wir, daß jeder Jude in jeder  Generation dieses Fest mitfeiern muß, als wäre er selbst damals vor 3500 Jahren erlöst worden. Stellt ein Jude heute den Sinn und das Gebot des Mitfeierns in Frage, wird ihm erwidert, daß er, wenn er vor dreieinhalb Jahrtausenden in der ägyptischen Sklaverei gewesen wäre, nicht gerettet worden wäre. Der Gründer der jüdischen Bewegung des Chassidismus im 18. Jahrhundert hat diesen obsessiven Erinnerungsdrang der Juden in Worte zusammengefaßt, die zum Sprichwort geworden sind: 'Vergessen führt zum Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung.'

Für die Juden, für die Überlebenden, die diesen Tag überhaupt erleben durften, bedeutete der 8. Mai die Befreiung vom Nazi-Terror, der nicht am Anfang des Krieges mit der Invasion von Polen begann, sondern seit 1933 zwölf Jahre lang gedauert hatte. Jener Tag bedeutete das Ende des Mordens, wenn auch nicht gleich das Ende des Sterbens. Wie Sie wissen, starben auch nach Kriegsende Zehntausende von Befreiten von 'Überlebenden', an totaler Erschöpfung, und viele haben sich von den hinterlassenen Wunden nie mehr erholt.

Vor diesem Hintergrund ist aus dem heutigen Anlaß des Gedenkens an Pater Middendorf einmal mehr zu spüren, wie die Vergangenheit in die Gegenwart hinein wirkt, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt. Daß wir erst heute der Rettungsaktion und des Verhaltens von Menschen wie Pater Middendorf gedenken, zeugt davon, wie lange Zeit hat offenbar verfließen müssen, bis das Verhältnis der Deutschen zur eigenen Geschichte sich soweit stabilisiert hat. Heute sind Deutsche sogar stolz auf diejenigen, die sich aktiv dem Nazi-Regime widersetzten. Vor 50, ja sogar vor 30 Jahren, war ein solch unverkrampftes Verhältnis zur Geschichte dieser Periode fast undenkbar. Wir, und ich meine uns in der Botschaft, die wir seit Jahren mit diesen Gedenkveranstaltungen befaßt sind, - wir haben die Erfahrung gemacht, daß derjenige, der bis zum 8. Mai 1945 Juden versteckt hat, am 9. Mai noch kein Held war. Kein Wunder, daß eines der wenigen Bücher, die über die Taten von Menschen wie Pater Middendorf berichten, den Titel 'Unbesungene Helden' trägt. Heute ist man im Umgang mit der Vergangenheit unbefangener geworden. Die Jugend dürstet nach Information, die Herzen sind freier geworden.

Pater Middendorf war ein katholischer Priester, der das ewige Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams abgelegt hat. Er hat sich unter der Nazi-Diktatur trotz Bedrohung, der auch die Kirche ausgesetzt war, nie in die Irre führen lassen, nie vom richtigen Weg ablenken lassen, sondern sich von seinem reinen Glauben an Gott und die Menschen und von seinem Gehorsam gegenüber Gottes Geboten leiten lassen.

Im babylonischen Talmud wird im Namen des 'amora', des Lehrers Abbaye, überliefert, daß in jeder Generation 36 Gerechte oder Heilige unter den Völkern leben. Sie leben unbehelligt und von ihren Mitmenschen unbemerkt. Nur in Zeiten der äußersten Not und der größten Gefahr tritt das Wirken dieser Menschen in Erscheinung, indem die Bedrohung abgewandt wird. Und dann kehren sie wieder in ihre Anonymität zurück. - Ich glaube, wir können Pater Middendorf als einen von diesen mystischen, heilbringenden Gerechten betrachten, ohne die - so die Legende des Talmud - die Welt nicht bestehen kann."

2. Die Übergabe der Ehrenurkunde und Medaille

Nach der Würdigung übergab Avraham Benjamin die Ehrenurkunde und die Medaille, die P. Bothe stellvertretend für die Herz-Jesu-Priester von Stegen und für das Kolleg St. Sebastian entgegennahm. Dabei las der israelische Gesandte für die Gäste den in hebräisch und englisch verfaßten Text der Urkunde sowie die Beschreibung der Medaille in deutscher Übersetzung vor:

Die Übersetzung der Urkunde lautet:

Hiermit wird bestätigt, daß bei ihrer Sitzung vom 11. September 1994 die Kommission zur Anerkennung der Gerechten, eingesetzt von YAD VASCHEM, der Erinnerungsstätte an die Helden und Märtyrer des Holocaust, aufgrund vorgelegten Beweismaterials entschieden hat zu ehren

Pater Heinrich Middendorf,

der während der Zeit des Holocaust sein Leben einsetzte, um verfolgte Juden zu retten.

Die Kommission hat ihm deshalb die Medaille der "Gerechten unter den Völkern" zuerkannt. Sein Name soll auf einer Gedenkwand im Garten der "Gerechten" in YAD VASCHEM verewigt sein.

Jerusalem, Israel - 5. März 1995

Ganz oben in der Mitte steht geschrieben:

Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung.

Vom da gehen die umrahmenden Worte aus:

Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet.

Die Beschreibung der Medaille lautet:

Diese Medaille, die den "Gerechten" (Christen, die Juden unter Einsatz ihres eigenen Lebens gerettet haben), verliehen wird, wurde speziell für YAD VASCHEM geprägt. Der Künstler Nathan Karp aus Jerusalem gestaltete in dieser Medaille in symbolischer Form die Worte des Talmud: "Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet". Die Hände, die eine Lebenslinie aus Stacheldraht umfassen, scheinen aus dem Nichts herauszuragen, während die Linie, die um den Erdball gewunden ist und ihm die treibende Kraft verleiht, aussagt, daß Taten wie die der "Gerechten" die Existenz der Welt und unseren Glauben an die Menschheit bestätigen.

Nach der Übergabe der Medaille sprach derjenige, der sich vor allem für die Ehrung Pater Middendorfs eingesetzt hatte, Dr. Peter Paepcke. Er appellierte mit bewegenden und überzeugenden Worten an die Jugend, sich der Ungeheuerlichkeit des Holocaust bewußt zu werden und in ihrem Leben alles zu tun, damit ein solches Geschehen nie wieder Wirklichkeit werde: "Habt Mut in Zeiten, in denen Mut noch etwas bewirken kann. Laßt euch nicht auf die Verallgemeinerungen derjenigen ein, die gegen andere hetzen." Sein letzter Satz lautete: "Ich freue mich, daß ich diesen Tag noch erleben durfte." Erst nach der Feier wurde bekannt, was ihm dieser Satz bedeutete. Dr. Paepcke war zu der Zeit schon schwer erkrankt. Er besuchte Stegen noch einmal am 7. Juni 1995, nahm Abschied und starb am 25. Juni 1995 in Karlsruhe, "ein aufrichtiger, honoriger Mann, edel gesinnt und vornehm, auf ihn konnte man bauen", wie Oberbürgermeister Dr. Gerhard Seiler in einem Nachruf sagte (41)

Das Schlußwort sprach der Schulleiter des Kollegs, Oberstudiendirektor Eberhard Breckel, der unter anderem ausführte:

"Die Ehrung Pater Middendorfs, die wir heute miterleben durften, ist nicht Ergebnis einer mechanisch-technischen Dokumentation, sondern entspringt dem Geist und der menschenfreundlichen Solidarität, die uns als Bausteine für eine bessere Zukunft dienen sollen. Sie ist Zeugnis dafür, daß selbstloser Einsatz für den Mitmenschen nicht nur möglich ist, sondern auch seine Würdigung findet.
Wir danken dem Staate Israel und den Verantwortlichen des Yad Vaschem, daß sie durch die Auszeichnung von Pater Middendorf uns alle mahnen und erinnern, seinem Beispiel zu folgen. Wir danken Ihnen, Herr Gesandter, daß Sie sich der Mühe unterzogen haben, zu uns zu kommen, um die Auszeichnung zu überreichen. In den Dank eingeschlossen ist auch Frau Gisela Kuck für ihre Laudatio, die sie uns vorgetragen hat. Ich versichere Ihnen, daß wir Urkunde und Medaille in würdiger Form an zentraler Stelle innerhalb der Schule aufbewahren werden als Zeichen des Gedenkens und der Verpflichtung, mitzuwirken am Bau einer besseren Zukunft."

E. Die Ehrentafel in Yad Vaschem: 19. Oktober 1995

Der dritte Akt der Ehrung Pater Middendorfs fand an der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem in Jerusalem statt. Dazu machte sich eine Gruppe von 14 Personen im Oktober 1995 auf den Weg nach Israel. Zu ihr gehörten: Dieter Bachenheimer mit Frau Wilhelmine, Eva Zwingmann geb. Bachenheimer und ihr Mann Rudolf Zwingmann, P. Dr. Bernd Bothe und sein älterer Bruder Theo Bothe, Wilfried Buß mit Frau Uschi, Hans Coenenberg mit Frau Resi und Tochter Elisabeth, Hermann Lütteke sowie Josef Pater und Frau Ferdinande, ein mit allen befreundetes Ehepaar. 

Die einwöchige Reise vom 14.-21. Oktober 1995 führte zunächst zur Bäderstadt Netanya. Von dort aus bereiste die Gruppe den Norden Israels und besuchte die Ruinenstadt Caesarea, dann Nazareth, den Berg Tabor, den See Genesareth mit dem Berg der Seligpreisungen und Tabgha, den Ort der Brotvermehrung, die Ruinen von Bet Shean und den Kibbuz En Harod zwischen Bet Shean und dem Berg Tabor.

Danach begab sich die Gruppe nach Jerusalem, besichtigte die Stadt und machte eine Fahrt zum Toten Meer.

Am Donnerstag, dem 19. Oktober 1995, fand in Yad Vaschem die Ehrung Pater Middendorfs statt. Am Vormittag traf die Gruppe bei der Holocaust-Gedenkstätte ein. Zunächst führte Tanja Degani, eine ehemalige KZ-Insassin, die Gruppe  durch die Gedenkstätte. Sie zeigte ihr das "Tal der Gemeinden", wo auf wuchtig aufeinandergetürmten hellen Sandsteinen (dem sogenannten Jerusalemstein) die Namen aller ausgemerzten jüdischen Gemeinden eingetragen sind. Danach führte sie die Gruppe in die "Allee der Gerechten", in der zu Ehren der "Gerechten unter den Völkern" rund 10.000 Johannisbrotbäume angepflanzt wurden, die mit den Namen der Retter bzw. Retterinnen versehen sind. Dabei zeigte sie der Gruppe jene Stellen, an denen Oskar Schindler und Raoul Wallenberg geehrt sind. Beim Schild mit dem Namen "Wallenberg" wurde erst jetzt ein Bäumchen gepflanzt, das deshalb noch recht klein ist. Seine Mutter hat immer noch gehofft, ihn lebend wiederzusehen. Nunmehr hat sie die Hoffnung aufgegeben und erlaubt, daß das Bäumchen gepflanzt wurde.

Um 10.45 Uhr meldete sich die Gruppe bei der Verwaltung der Gedenkstätte. Zugleich mit ihr war mit einem Bus eine weitere Reisegruppe angekommen. Es stand also eine Doppelehrung bevor. Der Abteilungsleiter für die Verleihung des Titel "Gerechter unter den Völkern", Dr. Morecai Paldiel, begrüßte die beiden Gruppen und fragte nach den Personen jüdischer Herkunft und den Vertretern der zu Ehrenden. Das waren von der deutschen Gruppe Dieter Bachenheimer, Eva Zwingmann geb. Bachenheimer und P. Bothe. Dann begab sich Dr. Paldiel mit den beiden Gruppen in die "Halle der Erinnerung". Während die Gruppen im Zuschauerraum stehen blieben, ging Dr. Paldiel mit den Vertretern der beiden Gruppen und den Personen jüdischer Herkunft in den unteren Raum hinab und stellte sie vor der Ewigen Flamme auf. Dann leitete er die Feier ein mit den Worten:

"Wir ehren heute zwei Deutsche, die Juden gerettet haben. Diese beiden Personen heißen Heinz Scheidling und Pater Heinrich Middendorf. Sie sind nicht hier; denn sie leben nicht mehr. Aber ihre Familien oder ihre Vertreter sind hier, ebenso wie die Menschen, die sie gerettet haben. Wir werden sie hier vor der Ewigen Flamme ehren. So lade ich Otto Scheidling, den Sohn von Heinz Scheidling, und seine Frau ebenso wie Herrn und Frau Groß und ihre Tochter ein, hierher zu kommen.
Pater Middendorf war ein katholischer Priester. Heute sind hier zwei Personen anwesend, die damals als Kinder von ihm gerettet wurden, Dieter und Eva Bachenheimer. Ich möchte sie und P. Bothe bitten, hierher zu kommen.
 
Wir stehen hier in der Halle der Erinnerung vor der Ewigen Flamme im Angesicht der geheiligten Überreste unserer Väter, die uns an sechs Millionen Menschen unseres Volkes erinnern, die durch die Hand der Nazis und ihrer Vordenker starben. Ein Teil der Asche aus den Krematorien liegt hier unmittelbar vor Ihnen unter diesem Grabstein. Wir gedenken der jüdischen Gemeinden, die zerstört wurden. Wir werden ihre Namen immer in Erinnerung behalten.
Wir gedenken der Gerechten unter den Völkern, die wir ‘hasid umot ba'olam’ nennen. Zu ihnen gehören Pater Middendorf und Heinz Scheidling und andere, die ihr Leben eingesetzt haben, um Juden vor der Verfolgung und vor dem Tode zu retten. Jetzt wird Herr Groß das Kaddisch, das Gebet der Trauernden, sprechen."

Danach trug Herr Groß in hebräischer Sprache das Kaddisch vor:

"Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen erschaffen hat. Er lasse sein Reich kommen in eurem Leben und in euren Tagen und in dem Leben des ganzen Hauses Israel, bald und in naher Zeit. Darauf sprecht Amen. Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten! Gepriesen und gelobt, verherrlicht und erhoben, erhöht und gefeiert, hoch erhoben und bejubelt werde der Name des Heiligen, gelobt sei er, der erhaben ist über allen Preis und Gesang, Lob und Lied, Huldigung und Trost, die in der Welt gesprochen werden. Darauf sprecht Amen. Des Friedens Fülle und Leben möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteil werden. Darauf sprecht Amen. Der Frieden stiftet in seinen Höhen, er stifte Frieden unter uns und ganz Israel. Darauf sprecht Amen."

Nach dem Trauergebet legten die Vertreter der beiden Gruppen, Herr Scheidling und P. Bothe, vor der Flamme einen Kranz nieder. Die Anwesenden verharrten einige Zeit in stillem Gedenken.

Nach dem ersten Teil der Ehrung fuhren die Gruppen zur Gedenkwand. Auch in diese Ehrenmauer waren schon viele schwarze Gedenktafeln mit den Namen der "Gerechten unter den Völkern" eingelassen. Die Gruppen wurden von Dr. Paldiel dorthin geführt, wo zwei Tafeln mit weiß-blauen Tüchern, den Farben des Staates Israel, abgedeckt  waren. Auch hier gedachte Dr. Paldiel der beiden "Gerechten unter den Völkern" und sagte:

"Welcher Grundgedanke steht hinter dieser Gedenkwand. Wir haben auf unserer Liste der 'Gerechten unter den Völkern' inzwischen rund 13.000 Namen. Vor der Ehrung muß nachgewiesen werden, daß die dafür in Frage kommenden Personen unter Einsatz ihres Lebens Menschen jüdischer Herkunft gerettet haben, und zwar wenigstens eine jüdische Person, nicht mehr. Das ist die Grundlage für die Ehrung. Wir gedenken der beiden Deutschen, Heinz Scheidling und Pater Middendorf. Jede dieser Personen hat ihre Geschichte.

Heinz Scheidling hat zufällig neben einem Konzentrationslager gearbeitet. Er freundete sich mit einer jüdischen Gefangenen namens Judy Finkelstein an. Er organisierte und leitete die Rettung dieser Person aus dem Lager, indem er für sie einen Weg plante und vorbereitete, auf dem sie das Lager verlassen konnte. Er lud sie ein, mit zu seiner Familie zu kommen. Die Frau zog es jedoch vor, nicht mit zur Familie zu gehen, um sie nicht in Gefahr zu bringen. So setzte Heinz Scheidling sie in einen Zug auf dem Weg nach Polen. Dort konnte sie sich als Polin bis zum Kriegsende verbergen. Wäre der Einsatz von Heinz Scheidling entdeckt worden, so wäre er getötet worden. Dank seiner Hilfe war diese Frau in der Lage, ihr Leben wieder auszubauen.

Die zweite Person, Pater Middendorf, war ein katholischer Priester, der für ein Waisenhaus verantwortlich war. In diesem Waisenhaus brachte er Leute unter, die aufgrund ihres jüdischen Ursprungs verfolgt wurden. Eine dieser Personen, Dr. Peter Paepcke,  - so hört ich eben - sei vor einigen Monaten verstorben. Pater Middendorf schützte in seinem Waisenhaus Menschen, die von den Nazis gesucht wurden, um sie zu deportieren, - er, ein katholischer Priester.
Wir glauben, daß diese Menschen nach Yad Vaschem gehören und ihre Namen bewahrt werden sollten. Die beiden Personen wurden sehr genau überprüft, damit wir sicher sind, daß sie diese Ehrung verdienen. Sie sind Personen, die das Recht haben, hier geehrt zu werden, weil sie geholfen haben. Wir möchten ihren Namen zum ewigen Gedächtnis auf der Ehrenmauer eintragen.

Unter den Geehrten befinden sich Menschen aus allen Bevölkerungsschichten und aus allen Nationen Europas. Sie sehen nun, wie wir es tun. Eine Person kommt, um einen Namen anbringen zu lassen. Wir enthüllen ihn und machen es weiter und weiter, bis der ganze Platz ausgefüllt ist. Vielleicht ordnen wir nochmals alles neu, nämlich in alphabetischer Reihenfolge oder nach Ländern in alphabetischer Ordnung. Das werden wir vielleicht noch tun, damit wir alle 13000 Namen hier genau aufbewahren. Vielleicht bauen wir etwas Schönes oder gestalten einen entsprechenden Platz für sie. So sind wir hier in Yad Vaschem. Jetzt werden die Personen jüdischer Herkunft und die Vertreter der zu Ehrenden die Tücher in den israelischen Nationalfarben, die die Gedenktafeln bedecken, abnehmen. Sie können sie mit nach Hause nehmen, damit man dort weiß, daß Ihre Familienangehörigen hier geehrt wurden. Die Namen der Geehrten und ihr Land sind in hebräischer und englischer Sprache geschrieben."

So nahmen nach den Vertretern und Angehörigen von Heinz Scheidling Dieter Bachenheimer, Eva Zwingmann sowie P. Bothe das Tuch ab. Hervor kam eine rechteckige Steintafel, auf der in hebräisch und englisch stand: Pater Heinrich Middendorf, Germany. Danach sagte P. Bothe einige Worte: 

"Wir denken heute und hier an Pater Middendorf. Er war von 1938 bis 1946 der Leiter eines katholische Klosters in Deutschland, und zwar in Stegen bei Freiburg im Schwarzwald. In dieser Zeit rettete er Menschen jüdischer Herkunft. Er tat es, weil er ein katholischer Priester war. Er ist sogar der erste katholische deutscher Priester, der den Titel 'Gerechter unter den Völkern' erhielt und hier in Yad Vaschem geehrt wird. Er handelte auf der Grundlage des christlichen Glaubens. Er rettete nicht nur Menschen jüdischen Glaubens, sondern auch andere Menschen in Not, unter  ihnen jene, die damals im Waisenhaus waren und heute hier bei uns sind.
An dieser Stelle sei besonders an Lotte Paepcke und ihren Sohn, Dr. Peter Paepcke, erinnert. Lotte Paepcke ist jüdische Schriftstellerin. Sie lebt noch, ist aber alt und konnte an dieser Enthüllung der Ehrentafeln nicht teilnehmen. Auch sie und ihr Sohn Peter wurden im Kloster gerettet. Dr. Peter Paepcke ist vor einigen Monaten verstorben. Er sagte vor seinem Tod, er sei sehr glücklich, daß er dieses Ereignis der Ehrung Pater Middendorfs noch erleben durfte. Hiermit danken wir dem Staate Israel, der Gedenkstätte Yad Vaschem und besonders Dr. Mordecai Paldiel für diese Ehrung der 'Gerechten unter den Völkern'.“

Dr. Paldiel schloß die Feier mit folgenden Gedanken:

"Vielen Dank! Bevor wir schließen, möchte ich noch auf folgendes hinweisen: Wir haben Deutsche aus allen Schichten, sogar Deutsche in Uniform, d.h. aus der Armee. Wir haben nicht wenige Pastoren aus der Bekennenden Kirche, die Juden geholfen haben. Und, wie P. Bothe erwähnte, haben wir zum ersten Mal einen katholischen deutschen Priester. In Deutschland lebten zwischen 5000 und 15000 Juden in Verstecken und überlebten. Genaue Zahlen haben wir nicht. Ich vermute, es werden um die 10000 gewesen sein. Sie wurden wie in dem genannten Waisenhaus geschützt. Wir kennen die Namen der meisten Helfer nicht. Aber selbst im Nazi-Deutschland, in diesem totalitären Staat, haben jene, die es wollten, den Mut und den guten Sinn für Humanität gehabt, um etwas für die Rettung zu tun, wenn sie wollten. 
Nun danke ich Ihnen dafür, daß Sie hierher gekommen sind. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in Israel! Fahren Sie fort, Israel zu besichtigen. Hiermit wollen wir den offiziellen Teil der Feier beenden."