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Das „Zartener Münster“ und seine mittelalterlichen Wandmalereien
Von
REGINE DENDLER
Aus: Schauinsland 2019


Die Johanneskapelle in Zarten wird liebevoll und nicht ganz zu Unrecht das „Zartener Münster“ genannt (Abb.1). Sie ist nicht nur die ehemalige Mittelpunktskirche des Dreisamtals — in dieser Funktion wurde sie „erst im frühen 12. Jahrhundert durch die Galluskirche ın Kirchzarten abgelöst 1 — sondern birgt auch unter ihrem bescheidenen Äußeren durchaus bemerkenswerte Kunstschätze: barocke Altäre, die teilweise Matthias Faller zugeschrieben werden, Skulpturen, eine bemalte Holzdecke des 17. frühen 18. Jahrhunderts und nicht zuletzt mittelalterliche Wandmalereien (Abb. 2).

 

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Abb.1 Die Johanneskapelle in Zarten, Ansicht von Südosten (Foto: Heiko Wagner).


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Abb. 2 Blick vom Langhaus in den Chor der Johanneskapelle mit den Altären und den beiden Wandgemälden. Eine weitere Malerei befindet sich auf der Chorbogenwand oberhalb der Decke (Foto: Regine Dendler).

Die Jahrhunderte hinterlassen farbige Spuren
Die ältesten Farbspuren, von denen man bis jetzt weiß, sind heute nicht mehr sichtbar. Bei eıner Außenrestaurierung 1964/65 wurde der Verputz abgeschlagen, wobei in der Südwand des Langhauses der Kapelle zwei kleine Rundbogenfenster aus dem 12, Jahrhundert zutage kamen.2 Das eine, vollständig erhalten, ist am Außenbau noch sichtbar. Das andere, angeschnitten von dem großen gotischen Spitzbogenfenster und nur noch ein Fragment, wurde wieder vermauert. Der Denkmalpfleger Hesselbacher (Freiburg), der im Oktober 1964 „zufällig“ vorbeikam, als die beiden Fensterchen gerade freigelegt wurden, stellte in einem Bericht an das Erzbischöfliche Bauamt fest, das fragmentarische Fensterchen sei insofern von besonderem Wert, als an seiner Laibung zwei Verputzschichten festzustellen sind, von denen eine noch die originale Farbgebung aus der Erbauungszeit der Kirche aufweist.3 Es existieren Zeichnungen der freigelegten Südwand, die auch die beiden Rundbogenfensterchen zeigen,4 näheres über die Farbspuren ist aber nicht überliefert. Aus der kurzen Notiz wird nicht klar, ob es sich um eine „echte“ Malerei, die farbige Betonung eines Architekturgliedes oder um einen getönten Anstrich handelte. Die Farbspuren dürften sich aber an der äußeren Leibung des Fensters befunden haben und nıcht an der inneren.5

Sicher ist jedenfalls, dass die Johanneskapelle bereits im 12. Jahrhundert, zur Zeit der Romanik, eine farbige Gestaltung besaß, in welcher Form auch immer. Bleibt zu hoffen, dass ıhre Spuren unter der Vermauerung noch vorhanden sind! Sollte an diesem Teil der Wand einmal erneut der Putz abgeschlagen werden, sind durchaus Überraschungen möglich.

Die jüngsten noch greifbaren Überreste von Wandmalerei sind nur zu erreichen, wenn man über körperliche Beweglichkeit verfügt und keine Angst vor Staub hat: Im Dachraum der 1878 an den Chor angebauten Sakristei ist der obere Teil der ehemaligen Chor-Außenwand zu sehen. Die beiden östlichen Polygonkanten sind mit einer Quadermalerei betont, mittig dazwischen liegt ein zugemauertes Stichbogenfenster mit gemalter Rahmung. Beides ist in hellem Rotocker mit dunklerem Kantenstrich ausgeführt. Unterhalb der Traufkante hat sich noch ein roter Begleitstrich erhalten. Diese Architekturfassung dürfte in die Barockzeit zu datieren sein, also ins 17./18., vielleicht auch noch ins 19. Jahrhundert.6

Die figürlichen Wandmalereien entstammen dem Spätmittelalter. Beim Betreten der Kapelle fallen die beiden Bilder an den Chorwänden beidseits des Hochaltars ins Auge (Abb. 3 und 4). Dargestellt sind auf der linken Seite ST.Johannes Bapt. und auf der rechten Sanct. Margareta, wie die bei einer Restaurierung hinzugefügten Inschriften erläutern. Ihrer Gesamterscheinung nach sind sie zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstanden, zur Zeit der ausgehenden Gotik. Sie sind nur noch als Dreiviertelfiguren erhalten, waren ursprünglich aber sicher vollständig.

Johannes der Täufer trägt in seiner Linken ein Buch mit einer kleinen Siegesfahne darauf und weist mit der anderen Hand daraufhin. Margaretha hält mit der rechten Hand einen Kreuzstab, mit der linken scheint sie den angeleinten Drachen zu halten, von dem aber fast nichts mehr zu erkennen ist. Von den beiden in voluminöse Gewänder gekleideten Figuren ist wenig mehr als ockerrote Vorzeichnungen und die Reste von blaugrünen Flächentönen erhalten.

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Abb. 3 Johannes der Täufer, Wandmalerei im Chor
(Foto: Regine Dendler).
Abb. 4 St. Margaretha, Wandmalerei im Chor
(Foto: Regine Dendler).

Diese beiden Gemälde wurden vermutlich im Jahr 1900 von Übertünchungen befreit und restauriert. Beim Erzbischöflichen Archiv in Freiburg liegt ein Kostenvoranschlag der Maler Gebr. Endres (Freiburg) über das Aufdecken, Malen und Ergänzen der zwei alten Wandfiguren im Chor.7 Möglicherweise wurden sie bei größeren Kirchenrestaurierungen, die für die Jahre 1935 und 1958 aktenkundig sind, erneut bearbeitet, zuletzt 1985.8 Der heutige Zustand spiegelt diese Restaurierungen wider: Sie sind so ergänzt, dass die Fehlstellen innerhalb der Figuren weniger auffallen, Konturen sind nachgezogen und sie wurden mit einem heute leicht vergilbten Konservierungsmittel behandelt. Die sie umgebende Tünche verdeckt vermutlich weitere Farbspuren, die — wohl aus ästhetischen Gründen — nicht mit einbezogen wurden. Davon ausgespart blieben die Reste eines gotischen Weihekreuzes auf der Südwand des Chores, das etwa zeitgleich mit den beiden Figuren entstanden ist.

Ein merkwürdiger Ort für ein Wandgemälde
Ein weiteres spätmittelalterliches Wandgemälde, dem der Hauptteil dieses Beitrages gewidmet ist, ist dem Besucher nicht ohne Weiteres zugänglich. Es befindet sich an einer Stelle, an der man normalerweise keine Wandmalereien erwartet, nämlich im Speicher über dem Kirchenschiff (Abb. 5). Was hat es dort zu suchen, und wie kommt es dorthin?

 
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Abb. 5 Die Situation im Kirchenspeicher. Das Wandgemälde ist durch den Türdurchbruch in zwei ungleiche Hälften geteilt (Foto: Regine Dendler).

Diese Frage beantwortet ein Blick auf die Baugeschichte: Das Gemälde befindet sıch auf der Westseite der Chorbogenwand oberhalb der heutigen Holzdecke. Der Kirchenraum war aber ursprünglich höher als heute und durch ein hölzernes Längstonnengewölbe nach oben abgeschlossen, die Flachdecke existierte noch gar nicht. Der halbkreisförmige Umriss der Putzfläche, auf der das Bild liegt, zeichnet die Kontur dieses Gewölbes nach, Balkenlöcher in der Wand oberhalb des Gemäldes zeugen von einer ehemaligen Befestigungskonstruktion.10 Der Speicher mitsamt dem Gemälde wurde also erst durch den Einzug der bemalten Holzdecke im 17. Jahrhundert / um 1700 vom Kirchenraum abgetrennt. Damals muss der ganze Kirchenraum getüncht oder sogar völlig neu gestaltet worden sein, sodass die mittelalterlichen Bilder überflüssig wurden.

Wir dürfen davon ausgehen, dass ursprünglich die gesamte Chorbogenwand bemalt war, als Bestandteil einer den ganzen Kirchenraum umfassenden Ausmalung. Bei einer Restaurierung des Kirchenraumes 1985 konnten an verschiedenen Stellen der Langhauswände unterhalb der heutigen Decke Farbspuren festgestellt werden.11 Die beiden Wandgemälde im Chor waren möglicherweise ein Teil derselben Ausmalung. Sie haben aber mit Übertünchung, Freilegung und mehreren Restaurierungen eine gänzlich andere Vorgeschichte durchlaufen als die Malereien im Dachraum — wie noch zu sehen sein wird — und sind deshalb nur schwer mit diesen zu vergleichen.

Die früheste bekannte Erwähnung des Wandbildes fällt ins Jahr 1918: In einem Bericht über die regelmäßige Gebäudenachschau durch das Erzbischöfliche Bauamt findet sich unter der Rubrik „Altertümer” der Vermerk Reste alter Wandmalereien am früheren Chorbogen im Dachraum.12

Notizen in den Akten des Denkmalamtes und des Erzbischöflichen Archives aus den Jahren 1918 und 1964 belegen, dass die Malereien zwar gelegentlich bemerkt wurden, aber ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen nach sich gezogen hätte.13 Im Christoph-Inventar sind sie zusammen mit den beiden Figuren im Chor recht ausführlich beschrieben, aber dennoch sind sie
wieder in Vergessenheit geraten.14

Die eigentliche Entdeckung ist Monika und Franz Asal (Zarten) zu verdanken, die im Frühjahr 2005 beim Aufräumen des Speichers erstmals wirklich Kenntnis von dem Gemälde nahmen. In der Folge leitete die Kirchengemeinde eine Konservierung in die Wege, die im Herbst 2005 von der Verfasserin durchgeführt wurde.

Ein seltener Fall für den Restaurator
Der Zustand des Gemäldes erscheint auf den ersten Blick ziemlich ruinös, Die dargestellte Szene ist noch so weit erkennbar, dass sie sich der Passionsgeschichte Christi zuordnen lässt — worauf noch zurückzukommen sein wird. Ein Wanddurchbruch für einen Zugang zum dahinterliegenden Chordachraum, vermutlich im 19. Jahrhundert angelegt, teilte das Bild „brutal“ in zwei
ungleiche Hälften. Weitere Schäden verursachten eine große Gipskittung, die ein Kabel festhält, und noch in jüngerer Zeit eine unverhältnismäßig große Kabeldurchführung 15 durch den linken unteren Bildteil. Von der ursprünglichen Farbigkeit ist nicht mehr viel übriggeblieben, fast nur noch Vorzeichnungen und ein paar Flächentöne. Durch menschliche Unachtsamkeit (vermutlich wurde auch gelegentlich der Speicher mitsamt der Bildwand gefegt), durch Klimaschwankungen im nicht isolierten Dachraum und den natürlichen Abbauprozess des in den Farben enthaltenen Bindemittels sind größere Teile von Verputz und Malerei verlorengegangen. Der Zahn der Zeit hat fleißig an dem Bild genagt und nur ein Fragment übriggelassen, allerdings ein höchst bemerkenswertes.

Schon bei der ersten Begutachtung des Wandgemäldes im Vorfeld der Konservierung stellte sich heraus, dass es sich trotz der vielen Beschädigungen um eine absolute Rarität handelt: Das Bild wurde seit seiner Entstehung niemals übermalt, übertüncht oder restauriert: es war aus konservatorischer Sicht völlig unberührt. Für Wandmalereien aus dem Mittelalter ist das außerordentlich selten. Um diesen einzigartigen Zustand möglichst wenig anzutasten, wurde nur eine reine Bestandskonservierung durchgeführt, bestehend in einer vorsichtigen Entstaubung und der Sicherung gelockerter Putzbereiche. Die verbliebene Malerei war glücklicherweise in ihrer Substanz stabil genug, sodass sie nicht mit einer Fixierung behandelt werden musste.16

Um den heutigen Zustand des Bildes besser zu verstehen, ist ein Blick auf die Maltechnik notwendig, in der der Künstler das Bild ausführte. Es ıst in Seccotechnik gemalt, mit einem Temperabindemittel auf' einen bereits trockenen, mit einer Tünche überzogenen Wandverputz.17 Der Farbauftrag erfolgte in mehreren Schichten, Diese Technik bringt es mit sich, dass die zuerst aufgetragenen Farben sich am besten erhalten, weil sie im Laufe des Arbeitsfortschritts mehrmals durchfeuchtet werden, was ihre Haftung verbessert. Die zuletzt gemalten Schichten sind dagegen in der Regel weniger widerstandsfähig und gehen als erste verloren. Aus diesem Grund ıst das Bild heute ın seiner Substanz reduziert und wirkt stark beschädigt. Der Substanzverlust hat jedoch zur Folge, dass wir die Arbeitsweise des Malers nachvollziehen können: Als erstes hat er mit rotem Ocker, dem gängigen Farbpigment für diesen Arbeitsgang, eine Pinselvorzeichnung angelegt: die kreisrunden Umrisse der Heiligenscheine wurden zusätzlich mithilfe eines Zirkels in den Putz geritzt. Danach wurden die Flächentöne ausgefüllt, und von dieser Basis ausgehend die malerische Ausarbeitung in Form von Faltenmodellierungen, Lichthöhungen etc. aufgetragen. Diese Ausarbeitung ging im Laufe der Jahrhunderte verloren und gab die Vorzeichnung, die im fertigen Bild durch darübergelegte Farbschichten unsichtbar ist, wieder frei.

Die Farbpigmente entsprechen der für das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit üblichen Palette: Roter Ocker für Pinselvorzeichnungen und Flächenanlagen des Hintergrundes: ein kühles Grün, wahrscheinlich aus dem Halbedelstein Malachit gewonnen, für den Mantel der einen Figur und im Bildvordergrund. Das Rot wurde insgesamt großzügig in der Fläche verwendet, wohl als eine Art Grundierung, die die Tönung der danach aufgetragenen Farbschicht mit beeinflusst. Das Schwarz ist vermutlich ein Pflanzenschwarz (pulverisierte Holzkohle). Mit Schwarz wurden auch gerne Blau- oder Grüntöne untermalt, weil es die Farbe intensiver erscheinen lässt. Eine solche Untermalung dürfte in einem Teil des grünen Mantels oder ım grünen Bildvordergrund vorliegen, wo sich Grün und Schwarz zu mischen scheinen. Mit diesem Hilfsmittel bzw. mit seinem Weglassen können helle und dunkle Grünschattierungen geschaffen werden.

Was heute fehlt, sind z.B. Blau- und Gelbtöne, Hautfarbe (sogenanntes „Inkarnat“) oder Weißhöhungen. Sie müssen ursprünglich ebenfalls vorhanden gewesen sein, gehörten aber zur verlorenen Ausarbeitung des Bildes.

Schwer zu lesen — was ist hier dargestellt ?
Schon auf den ersten Blick ist erkennbar, dass das Zartener Gemälde im Umkreis der Passion Christi angesiedelt sein muss (Abb. 6 und 7). Darauf verweist eine ans Kreuz geschlagene männliche Gestalt, die vor einem Hintergrund aus Büschen oder ähnlichem im linken (nördlichen) Bildteil platziert ist. In diesem Bildbereich dominieren heute Rotockertöne.

Der zweite Blick offenbart Bildinhalte, die weniger leicht zu lesen sind. Die Gestalt am Kreuz ist nicht Christus, sondern einer der Schächer: Der Mann besitzt nämlich keinen Nimbus, während die anderen abgebildeten Personen damit ausgestattet sind. Wie die Untersuchung ergab, hat er auch nie einen besessen. Rechts daneben (vom Betrachter aus gesehen) steht oder kniet eine offenbar weibliche Gestalt, die eine weitere in den Armen hält. Die weibliche Gestalt trägt einen grünen Mantel, der über der Brust mit einem Band geschlossen ist; vom Rest ihres Gewandes sind nur noch die ockerroten Vorzeichnungen zu sehen. Auffällig sind die roten Wellenlinien an ihrer linken Körperseite, die lange, stark gewellte Haarsträhnen andeuten, die im Wind flattern. Die zweite Gestalt, die von der Frau gehalten wird, ist schlechter erhalten als die erste. Erkennbar sind der nach rechts geneigte Kopf mit Nimbus und rote Vorzeichnungen eines heute farblosen Gewandes, das mit Ärmeln versehen ist, wie am linken Arm der Figur zu sehen ist. Mit ihrer linken Hand scheint die Gestalt ein faltenreiches Tuch zu fassen, das offenbar vor ihr liegt. Diese Szene bricht nach unten hin ab.

Zwischen diesen beiden Gestalten und dem Türdurchbruch ist in roter Zeichnung eine kleine Gebäudegruppe dargestellt, über die einige der gewellten Haarsträhnen hinwegflattern. Es scheint sich um eine Kirche mit polygonalem Chor, hohen Fenstern und vielleicht einem Westturm zu handeln, links daneben einige Nebengebäude. Identifizierbar sind die Gebäude leider nicht. Es ist fraglich, ob sie überhaupt real existierten oder ob sie ein Sinnbild darstellen sollen, vielleicht für die Stadt Jerusalem.18 Auch das Zeichen direkt darüber ist rätselhaft, nicht zuletzt wegen seiner schlechten Erhaltung.

Die grünen und schwarzen Farbtöne von einer Art Wiese oder Erdboden im Bildvordergrund setzen sich rechts des Wanddurchbruches fort. Hier verdichten sich die Farbflecken zu eıner Landschaft mit einem See, auf dem ein kleines Schiff mit Ruderern unterwegs ist, bergigen Ufern im Hintergrund und einem im Vordergrund stehenden Reiter. Auch hier dominiert wieder der Rotocker, ergänzt durch die Grün- und Schwarztöne des Vordergrundes.

Die Gesamterscheinung des Bildes weist auf eine Entstehung im frühen 16. Jahrhundert hin, in der Zeit der spätesten Gotik. Dafür sprechen außer stilistischen Gesichtspunkten die Art der erkennbaren Gewandungen und die Bart- und Haartracht des Schächers (sie entsprechen der zeitgenössischen Mode) und der Landschaftshintergrund: dies alles ist in Gemälden und
Stichen aus dieser Zeit häufig in dieser Form zu finden. Die Ausführung in Seccotechnik ist im ausgehenden Mittelalter ebenfalls gängige Praxis.

 


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Abb. 6 Der linke Bildteil: Schächer am Kreuz, Figuren im Vordergrund und eine kleine Gebäudegruppe (Foto: Regine Dendler).
 
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Abb. 7 Der rechte Bildteil: eine Landschaft mit See, Schiff und Reiter (Foto: Regine Dendler).

Der Bildinhalt bietet Diskussionsstoff
Bei der Betrachtung des Gemäldes darf nicht vergessen werden, dass größere Teile der Gesamtkomposition fehlen, einerseits durch den Wanddurchbruch und die anderen Fehlstellen, andererseits hat sich die Bemalung der Wand ursprünglich auch weiter nach unten fortgesetzt. Die Figurengruppe, die heute so zentral erscheint, war ehemals Bestandteil eines größeren Programms und vielleicht nur eine Szene von mehreren. Vermutlich wurde die Passionsgeschichte noch weitererzählt, im Grunde können wir aber über die verlorene Ausmalung nur spekulieren.

Der kleinere Bildteil rechts vom Türdurchbruch ist im Hinblick auf den Bildinhalt vergleichsweise unproblematisch: Eine Landschaft, die den Hintergrund belebt, vielleicht mit dem See Genezareth in der Mitte. Das Schifflein mit den Ruderern könnte eine Anspielung auf die Stillung des Sturmes sein oder auf Petrus und Andreas, die Christus nachfolgen und von nun an
Menschenfischer sein sollen.19

Der linke. größere Bildteil liefert dagegen immer wieder Stoff für Diskussionen, da der Sinngehalt der Szene nicht ohne weiteres ablesbar ist. Sicher ist nur der Zusammenhang mit der Passion Christi.

Als Interpretationen wurden von verschiedenen Seiten, sowohl von Fachleuten als auch von diskussionsfreudigen Besuchern, eine Kreuzigung, eine Kreuzabnahme oder eine Pietä bzw. eine Beweinung vorgeschlagen. Alle diese Möglichkeiten haben aber mit Erklärungsnöten zu kämpfen.

Eine Kreuzigung beinhaltet im Wesentlichen Christus am Kreuz, flankiert von den beiden Schächern, dazu die Trauernden Maria, Johannes und eventuell Maria Magdalena, die sich um das Kreuz Christi versammeln. Hier fehlt aber die Hauptperson, nämlich Christus am Kreuz, auch von den Schächern ist nur einer vorhanden. Sie könnten vielleicht in dem großen Türdurchbruch „verschwunden“ sein: es ıst allerdings fraglich, ob diese Fläche für zwei Kreuze ausreicht. Wenn die Zweiergruppe Johannes (mit grünem Mantel) abbildet, der Maria in den Armen hält, müsste das Kreuz Christi oberhalb dieser beiden Figuren patziert sein.20 An der betreffenden Stelle fehlt aber jede Spur davon. Die Bildkomposition einer Kreuzigung ist also mit den vorhandenen Bildresten kaum in Einklang zu bringen. Auch die Figur des „Johannes“ wäre zweifelhaft: Er wird zwar gerne als Jüngling mit fast mädchenhaften Zügen dargestellt, aber hier deuten die langen welligen Haare und die weiblichen Rundungen unter dem Gewand eindeutig auf eine Frau hin.

Eine weitere Option, die diskutiert wird, ist die Kreuzabnahme. Häufig ist das Herunterlassen des Körpers mit Hilfe von Tüchern und einer Leiter direkt dargestellt, oder Christus liegt bereits unter dem Kreuz. Die trauernde Maria, Maria Magdalena und Johannes sind anwesend, als Assistenzfiguren treten oft noch Nikodemus und Joseph von Arıimathia, die den toten Christus vom Kreuz nehmen, auf. Auch die beiden Schächerkreuze werden oft mit dargestellt.

Hier müsste eigentlich das leere Kreuz im Hintergrund zu sehen sein, sein Fehlen wäre aber wiederum mit dem Wanddurchbruch erklärbar. Für die Assistenzfiguren würde der Platz jedoch kaum reichen, Die Gestalt mit den wehenden Haaren müsste Maria sein, die den toten Christus, die zweite nimbierte Figur, im Arm hält. Dagegen spricht aber zum einen, dass „Maria” einen grünen Mantel trägt, was ungewöhnlich wäre; in der Regel ist er blau. Ebenso ungewöhnlich wäre sein modischer Schnitt, denn Maria ist meist eher konservativ gekleidet und trägt auch einen Schleier, für den es hier keine Hinweise gibt. Zum anderen ist „Christus“ hier bekleidet: Der linke Arm der Figur steckt unverkennbar in einem Ärmel. Christus müsste aber bis auf das Lendentuch nackt sein und dürfte bestenfalls in ein Tuch gehüllt sein.

Würde es sich um eine sogenannte „Pietä” handeln (eine trauernde Maria, die den toten Christus auf dem Schoß hält) fiele das Fehlen des Kreuzes nicht ins Gewicht, da sie in der Regel als Andachtsbild für sich allein steht. Diese Darstellungsgewohnheit weckt aber Zweifel daran, dass wir hier eine Pietä vor uns haben, da der eine Schächer vorhanden ist und demnach beides
Bestandteil einer größeren Szene sein muss. Weiterhin sprechen auch die oben angeführten Stichpunkte in Bezug auf die Kleidung der abgebildeten Personen gegen eine Pieta.

Diese drei Interpretationsvorschläge gehen im Grunde davon aus, dass das Geschehen sich mehr oder weniger oberhalb der Flachdecke abspielt, bedingt durch die jeweils notwendige Bildkomposition. Wird stattdessen eine sogenannte „Beweinung” angenommen, Ist der Wandbereich unterhalb davon wesentlich leichter mit einzubeziehen.

Als Beweinung wird eine Art von erweiterter Pietä bezeichnet: Maria betrauert Christus, weitere Personen wie Maria Magdalena und Johannes versuchen ihr beizustehen. Diese Szene folgt im Ablauf der Passionsgeschichte chronologisch unmittelbar auf die Kreuzabnahme und findet in der Regel noch am Ort der Kreuzigung statt. Meist sind die Personen so gruppiert, das Marıa Christus hält, oft auf dem Schoß wie bei einer Pietä. während die anderen Personen bei ihr stehen oder knien.

Die Frau im grünen Mantel ließe sich ohne weiteres als Maria Magdalena benennen, die gerne in modischer Aufmachung dargestellt wird. Die bekleidete Person, die vor ihr kauert und von Ihr gehalten wird, müsste dann Maria sein. Wo aber ist Christus? Die Bildkomposition muss hier also aus dem Rahmen des Üblichen fallen.

Ein berühmtes Vorbild als Inspiration?
Der Zufall in Form einer Ausstellung über die Holzschnitte Hans Baldung Griens im Augustinermuseum Freiburg führte auf eine interessante Spur.21

Gewisse Parallelen einiger seiner Stiche mit dem Wandgemälde aus der Johanneskapelle sind unverkennbar: Eine wild gelockte Haarpracht, ähnlich wie bei der Figur mit dem grünen Mantel, tritt bei den Frauengestalten in Baldungs Holzschnitten regelmäßig auf, ebenso wie die Landschaftshintergründe mit kleinen Gebäuden. Auch bei anderen Künstlern dieser Zeit sind sie gebräuchlich, z.B. bei Albrecht Dürer, bei dem Baldung mehrere Jahre gearbeitet hat.

Ein bestimmter Holzschnitt Baldungs fiel besonders ins Auge: Die „Beweinung Christi”, die um 1515/1517 entstanden ist (Abb. 8).22 Zu dieser Zeit ist Baldung in Freiburg, malt den Hochaltar und verfertigt weitere Holzschnitte und Entwürfe für Glasmalereien.

Die „Beweinung" des toten Christus ist hier sehr ausdrucksstark interpretiert: In einer Dreierkonstellation ist eine stehende Maria Magdalena dargestellt, mit erhobenen Händen lamentierend, mit wilden Locken und gekleidet in ein modisches Gewand. Vor ihr kauert Maria am Boden und betrauert händeringend den halb am Boden liegenden toten Christus. Als Nebenfiguren sind ein weinender Johannes und - am oberen Bildrand — die Füße der Schächer zu sehen.

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Abb. 8 Die „Beweinung Christi” von Hans Baldung Grien, entstanden 1515 bis 1517 in Freiburg (aus: REUSSE [wie Anm. 22], S. 27, Abb. 24:
(Foto: Axel Killian).
Abb. 9 Die Figurengruppe im Bildvordergrund. Ließ sich der Maler von der „Beweinung“ Hans Baldung Griens inspirieren?
(Foto: Regine Dendler)

Es spricht einiges dafür, dass wir in Zarten eine ähnlich übereinandergestaffelte Bildkomposition aus drei Personen vor uns haben (Abb. 9): Maria Magdalena wäre mit der Frauengestalt im grünen Mantel zu identifizieren, Maria mit der zweiten Figur mit geneigtem Kopf. Abwei
chend von Baldungs Stich ıst Maria Magdalena eher kniend als stehend dargestellt, und Maria
kauert nicht vor ihr, sondern wird von ihr in den Armen gehalten. Die Figur des toten Christus allerdings ist heute nicht mehr auszumachen, weil sie durch die später eingezogene Deckenkonstruktion verdeckt oder zerstört ist. Ein letzter Überrest seiner Gestalt könnte das Tuch sein, das Maria mit der linken Hand fasst. Es scheint nicht zu ihrem Gewand zu gehören, sondern vor ihr zu liegen: die Faltenzüge in diesem Bereich wirken zu unorganisch für ein Kleidungsstück. Eın Leichentuch, in das der Körper Christi gehüllt ist. wäre aber durchaus eine Möglichkeit.

Der eine Schächer ist hier anders als im Stich als Ganzfigur abgebildet, vom zweiten ist nichts zu sehen und Johannes fehlt ebenfalls. Vielleicht waren diese beiden gar nicht dargestellt oder sie sind einer der Beschädigungen oder dem Einbau der Decke zum Opfer gefallen. Dies wäre hier ohne weiteres möglich; die Bildszene wäre so aufgebaut, dass sie sich auf jeden Fall
unterhalb der Decke fortgesetzt hätte.

Baldung hat die „Beweinung“ in Freiburg geschaffen, etwa zu der Zeit, als auch das Wandgemälde in der Johanneskapelle entstanden ist, Der Gedanke liegt nahe, dass der Zartener Maler diesen Stich gekannt hat. Eine nicht ganz alltägliche Bildkomposition in Verbindung mit einem — soweit der Zustand des Bildes eine solche Bewertung zulässt — ausgereiften, aber eher konventionellen Malstil könnte darauf hindeuten, dass der Maler sich eines hochklassigen Vorbildes
bedient hat. Es braucht aber sicher mehrere Brechungsstufen, bis ein Entwurf von einem Meister wie Baldung auf' der Chorbogenwand des „Zartener Münsters“ angekommen ist.

Um jeder Spekulation zuvorzukommen: Hans Baldung Grien selbst ist als Künstler für das Zartener Wandgemälde sicher auszuschließen. Er war nicht als Freskenmaler aktiv, und der Stil seiner Werke, seien es Stiche oder Tafelbilder, erscheint doch deutlich progressiver. Viel eher ist anzunehmen, dass der unbekannte Maler sich von den Stichen Baldungs, die zweifelsohne in Freiburg leicht verfügbar waren, inspirieren ließ und sie als Vorlage benutzte. Er hat diese Vorlage aber nicht einfach nur kopiert, sondern eine eigene Interpretation des Themas geschaffen.


1 HEIKO WAGNER: Das „Zartener Münster“. Die Baugeschichte der Johanneskapelle in Zarten, in: Schau-ins-Land 137 (2015), 5. 9-23, bes. S. 10. Wagner berichtet über die Untersuchung anlässlich einer Sanierung und verbindet die Ergebnisse mit älteren Aufzeichnungen zur Baugeschichte, archäologischen Funden und der Quellenlage.
2 Siehe auch WAGNER (wie Anm, 1), S. 11f
3 Erzbischöfliches Archiv Freiburg (EAF), Nachlass Ginter II Nr. 440, Schreiben vom 23.10.1964
4 Die eine ist abgebildet bei WAGNER (wie Anm. 1). S. 12 (aus: EAF, Nachlass Ginter II Nr, 440}, die andere ist eine Bauaufnahme vom August 1965 (aus: EAF, Nachlass Ginter | Nr. 982). — Es wurden recht schnell beide Fensterchen wieder zugemauert, aber das vollständige wieder soweit freigelegt, dass es am Außenbau zu sehen ıst.
5 Die innere Leibung ist entweder durch das gotische Fenster zerstört oder man hat sie bei der kurz vorher durchgeführten Inneninstandsetzung 1957/58 nicht bemerkt. Damals wurde offenbar nicht großflächig Innenputz abgeschlagen, sondern hauptsächlich die Wände abgewaschen und neu gestrichen, EAF, Fk-neu Nr, 17877, Kart. 1676, Schreiben vom 23.12.1957 (Kostenvoranschlag des Erzbischöflichen Bauamtes) und vom 13.10.1958 (Genehmigung des Erzbischöflichen Ordinariates).
6 Es muss auch eine Innenraumfassung des 19. Jahrhunderts gegeben haben, davon ist aber nichts mehr sichtbar.
7 EAF, B3l/1638, Schreiben vom 16.04,1900, Veranschlagt wurden I00 Mark pro Figur,
8 Nachrichten darüber beim EAF (B22/33018, Fkneu Nr. 17877 Kart. 1676: B31/1638, Nachlass Ginter I Nr. 982 bzw. Nachlass Ginter II Nr. 440) und in den Ortsakten des Landesamtes für Denkmalpflege in Freiburg (Bau-und Kunstdenkmalpflege).
9 Siehe auch WAGNER (wie Anm. 1), 5. 17-20,
10 Freundlicher Hinweis von Bauforscher Stefan King (Freiburg).

11 Bericht von Restaurator Emil Geschöll (Freiburg) vom 20.06.1985 in den Ortsakten des Landesamtes für Denkmalpflege in Freiburg (Bau- und Kunstdenkmalpflege, Dokumentationsarchiv).
12 EAF, B31/1638, Schreiben vom 23.01.1918,
13 Siehe Anm. 3 und 12.
14 GERTRUD CHRISTOPH: Inventar der mittelalterlichen Wandmalerei in Südbaden, Stichwort „Zarten“, 1970er Jahre (unpubliziert). Einsehbar beim Landesamt für Denkmalpflege in Freiburg (Bau- und Kunstdenkmalpflege). - Die Johanneskapelle wurde von Christoph 1971 begutachtet.
15 Die Kabelführungen konnten bei der Konservierung 2005 zwar nicht entfernt, aber wenigstens optisch verbessert werden.
16 Unpublizierter Konservierungsbericht der Verfasserin vom 15.12.2005 beim katholischen Pfarramt Herz-Jesu Stegen und beim Landesamt für Denkmalpflege Freiburg (Bau- und Kunstdenkmalpflege, Dokumentationsarchiv}.
17 Im Gegensatz dazu wird bei der Freskotechnik in feuchten Putz gemalt und die Farbe wird beim Abbinden des Putzes quasi zu einem Bestandteil der Wand. Fresken sind deshalb widerstandsfähiger als Seccomalereien.
18 Es wurde schon versucht, die Gebäudegruppe mit dem Kloster St.Märgen in Verbindung zu bringen, aber leider weiß man nicht viel über dessen Baugestalt zur fraglichen Zeit.
19 Matthäus 8, 23-27 bzw. 4, 18-20,
20 Aus diesem Grund kann das Kreuz Christi auch nicht unterhalb der Flachdecke gewesen sein, es wäre schlicht der falsche Platz.
21 Haus der graphischen Sammlung im Augustinermuseum, 17.09.2016 bis 15.01.2017.
22 Hans Baldung Grien. Holzschnitte, hg. von FELIX REUSSE für die Städtischen Museen Freiburg, Augustinermuseum, Freiburg 2016, 5. 25-27 und Abb. 24.