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Wiesneck
Kulturgeschichtliche Erzählung nach mündlichen und schriftlichen Überlieferungen
von R. Finder. (das ist Wilhelm Flinsch)
Frankfurt a. M. Carl Jügels Verlag (M. Abendroth) 1905.

Inhalts-Verzeichnis:
Vorrede.
Zur Pfahlbauzeit
Unter römischer Herrschaft
Im MitteIaIter
Im Bauernkrieg.
Im 19. und 20. Jahrhundert

Vorrede.
Die Anregung zu nachstehenden Aufzeichnungen haben mir die »Ahnen« von Gustav Freytag gegeben. Dabei will ich gleich betonen, daß ich mich nicht in entferntesten unterfange, mit diesem Meister der Gestaltungskunst mich irgendwie messen zu wollen. Während aber Freytag die Geschichte eines Geschlechts schildert, habe ich mir vorgesetzt, die Schicksale einer Örtlichkeit in verschiedenen Zeiten zu erzählen Die Personen kommen dabei zumteil etwas schlecht weg; sie dienen dann eben mehr als belebendes Beiwerk.
Die Trümmer von Wiesneck oben im Dreisamtale anmutig auf einem vorgeschobenen Bergkegel von mäßiger Höhe gelegen, haben mein Interesse schon als Knabe wachgerufen, namentlich als ich nicht nur ihr zerbröckeltes Gemäuer aus nächster Nähe besichtigt, sondern auch einige Gegenstände kennen gelernt hatte, deren man sich in der Burg täglich bedient haben mochte. Das waren u. a. ein paar ungefüge eiserne Feuerhalter von menschlicher Gestalt, welche sich in dem eine Stunde von Wiesneck entfernten Gasthaus »zum Rainhof“ befanden und der Überlieferung nach aus der Burg stammten.
Mit dem „Rainhof“ hatte es auch seine besondere Bewandtnis. Woher rührte der eigentümliche Wirtshausname? Der Rhein kam dabei durchaus nicht in Betracht, wohl aber ein Grasrain, ein alter Wall, der sich in Höhe einiger Meter und in Ausdehnung etlicher Kilometer noch leicht verfolgen ließ, zweifellos als Umwallung der da oben zu suchenden verschollenen Römerstadt Tarodunum gedient hatte und auch besagten „Rainhof“ einschloß. Der geschichtliche Zusammenhang dieser römischen Ansiedlung mit der Burg Wiesneck galt als feststehend.
Daß ich es wage, mit meinen Ausführungen zumteil in sehr frühe, ja selbst weit in vorgeschichtliche Zeiten zurückzugreifen, mag bei manchem Leser ein bedenkliches Kopfschütteln erwecken. Ich bitte dann aber zweierlei nicht außer acht zu lassen: erstens, daß ich eben nur eine anspruchslose Erzählung schreiben will und nicht etwa eine hieb- und stichfeste geologische oder kulturhistorische Abhandlung; zweitens, daß doch selbst bei den auf gründlichster Forschung beruhenden Vorstellungen die Phantasie manch vorhandene Lücke überbrücken muss.
Wenn in meinen Schilderungen der Schicksale Wiesnecks und seiner Bewohner in den so verschiedenen Zeitaltern eine gewisse Gleichartigkeit auffällt so liegt dieser Übereinstimmung volle Absichtlichkeit zugrunde.
Der Verfasser.

Zur Pfahlbauzeit.
Es mögen jetzt 10.000 Jahre her sein, oder auch 100.000, denn auf eine Null mehr oder weniger kommt es in der Geschichte der Erde nicht an, da bildete der Titisee, oder wie man ihn damals nannte, Tisee, nicht das verhältnismäßig, kleine Wasserbecken, wie jetzt, sondern er erstreckte sich vom Fuße des Feldbergs weit weit über die ganze Hochebene des Schwarzwaldes hin. Sein Ablauf, ein schmales, aber wildes Gewässer, ergoß sich am Thurner vorbei, hinunter ins jetzige Dreisamtal. Dort nahm es ein riesiger See auf, der nicht nur das Dreisamtal, sondern auch das ganze Rheintal ausfüllte hinauf bis an den Jura und hinunter bis an den Niederwald. Wo jetzt das Germaniadenkmal hinabblickt auf die Klippen des Binger Lochs, da zeigte sich die Bergreihe bis hinüber nach der Nahe zu vollständig geschlossen; sie bildete einen natürlichen Wall gegen das Anbranden der Flut. Der Tisee war, wie viele andere der flacheren Seen, von Pfahlbauern bewohnt, deren Ansiedelungen sich in mäßiger Entfernung vom Ufer befanden. Um sich gegen Angriffe der zahlreichen und gewaltigen wilden Tiere zu sichern, verließ man deren Bereich auf dem festen Lande und erbaute die Hütten inmitten der schützenden Wasserfläche auf hohen Pfahlrosten.
In einer solchen Pfahlbauhütte lebte mit seinem Vater ein Mädchen, namens Ti. Schon zur damaligen Zeit liebten es die Menschen, ihre Herkunft von alten Geschlechtern abzuleiten; so auch die Familie Ti, welche behauptete, daß ihre Ahnen es gewesen seien, die dem Tisee seinen Namen gegeben, daß sie also schon seit urvordenklichen Zeiten in ihren Sitzen hausten. Andere Ansiedler meinten freilich, daß umgekehrt diese ihren Namen demjenigen des Sees entliehen hätten. (Die Sprache jener Pfahlbauer bediente sich nur ganz einfacher Formen. So bezeichnete Ti nicht nur den See, sondern auch die erwähnte Familie sowie jeden ihrer einst zahlreichen einzelnen Sprossen; nur in der Betonung lag der Unterschied.) In einer benachbarten Hütte wohnte ein Jüngling, namens To, dessen Eltern früh verstorben waren. Als Kinder hatten Ti und To zusammen gespielt und innige Freundschaft verband sie auch jetzt noch.
Es begab sich, daß die ohnedies beinahe beständig feuchte Witterung in diesem Jahre besonders starke Regenmassen zeitigte, so zwar, wie die auch damals schon angeführten „ältesten Leute“ es sich nicht erinnern konnten. Der See schwoll bedenklich an, und es regnete immer weiter; ja das Gewölk, anstatt sich zu lichten, verdichtete sich noch, und nun begann es eine Reihe von Tagen unausgesetzt wie aus geöffneten Schleusen vom Himmel zu gießen.
Die Pfahlbauer vermochten sich unheimlicher Gedanken nicht zu erwehren, zumal die Bewohner mancher auf niedrigeren Rosten angelegten Häuser durch das nasse Element schon daraus vertrieben worden waren und bei günstiger liegenden Nachbarn Unterschlupf suchen mußten. Aber wie lange blieb man da geborgen, wenn nicht bald ein Umschwung des Wetters eintrat? Eine düstere uralte Weissagung machte die Runde in den Hütten. Vor unendlich langer Zeit, so hieß es, habe dichter Wald den Boden des jetzigen Seebeckens bedeckt. Da sei eine lange, lange Regenzeit eingetreten und als sie geendet, sei anstelle des Waldes der See vorhanden gewesen. Dereinst werde nun eine neue Flutzeit kommen aber noch viel gewaltiger als jene, denn da würden Wasser, Luft und Feuer gemeinsam trachten, die Wohnungen der Menschen zu zerstören und ihnen Verderben und Untergang zu bringen.
Nur zu sehr schien es, als ob jene Botschaft sich nun erfüllen sollte, denn zu dem unaufhörlichen Regen gesellte sich als gefährlicher Bundesgenosse verheerender Sturm. Der Sturm artete in einen Orkan aus, die Wellen des Sees gingen haushoch und drohten die Wände der auf ihren Pfählen schwankenden Hütten zu zertrümmern. An ein Entrinnen auf das feste Land war nicht zu denken, denn Vernichtung wäre die unfehlbare Folge gewesen, hätte jemand gewagt, sich der Wut der entfesselten Elemente preiszugeben. Jeder blieb auf seine Hütte angewiesen und auf dasjenige, was er von Lebensmitteln darin aufgespeichert hatte. Und befand man sich da nicht doch in vergleichsweiser Sicherheit? Denn auf dem Festlande knickten unter den andauerd furchtbaren Erdschwankungen Riesenbäume wie Strohhalme zusammen und gigantische Felsblöcke rollten unaufhaltsam krachend zu Tal, alles ihre Bahn kreuzende zermalmend.
Um das Maß der Schrecken für die armen Seebewohner voll zu machen, erfolgte nun auch noch ein gewaltiger Ausbruch des Vulkans auf dem jetzt als Kaiserstuhl bekannten Gebirge, der ja ständig feurige Steine auszuwerfen pflegte, und dessen Glut man am Wiederschein des Gewölks zu gewahren gewohnt war. Helle Flammen von unglaublicher Höhe und Mächtigkeit schlugen aus dem Krater empor, den ganzen Himmel weithin mit dunkelrotem Feuerschein überziehend, der durch die Ritzen zwischen den einzelnen Balken der Hütten drang und deren Inneres taghell erleuchtete. Ein förmlicher Regen glühender Steine ergoß sich weit weit im Umkreise und manche davon getroffene Hütte loderte in grellem Brande auf. Jetzt, mit dem Feuer, sagte man sich, ist das geweissagte Ende gekommen.
Mit einem Male erlosch die Glut und finstere Nacht deckte alles ringsum. Ob es aber wirklich Nacht war oder Tag, wer hätte vermocht es zu deuten? Denn tiefe Dunkelheit herrschte; die Sonne hatte schon seit Tagen nicht vermocht, das dichte Gewölk zu durchdringen. Immer aufs neue türmten sich schwarze Wolkenmassen auf; unversieglich ergoß sich ihr Inhalt in den hoch angeschwollenen See. Auch der Orkan brauste in unverminderter Stärke weiter, begleitet von ungewohnt heftigen Erschütterungen der Erde und anhaltendem unterirdischen Donner.
To lag in seiner Hütte ausgestreckt auf seinem Bärenfell. Der Schlaf hatte ihn endlich übermannt, nachdem er, er wußte selbst nicht wie viel, Tage oder Nächte schlaflos verbracht hatte. Da war es ihm, als würde seine Hütte gehoben und mit unheimlicher Schnelligkeit davongetrieben. Er konnte sich darüber nicht klar werden, ob diese Wahrnehmung nur auf einer Traumempfindung oder auf Wirklichkeit beruhe. Wie die Gedanken in seinem Gehirn kreisten, so glaubte er auch die Hütte um ihre eigene Achse kreisen zu fühlen; dann wieder, sie bewege sich vorwärts. Ein furchtbarer Stoß, den die Hütte erlitt, weckte ihn zum Bewußtsein dieser Wirklichkeit. Er klammerte sich mit aller Gewalt fest, um bei dem fortwährenden heftigen Schwanken nicht zu Schaden zu kommen. Plötzlich schien es ihm, als ob die Schnelligkeit des Vorantreibens sich noch vermehre. Als kühner Schiffahrer war er in seinem Einbaum schon manchmal durch die Stromschnellen des kleinen Flusses gesteuert und hatte dabei jenes eigentümliche Gefühl des schnellen Hinabgleitens auf schräger Fläche erprobt. Jetzt befiel ihn eine ganz ähnliche Empfindung, nur daß die Bewegung eine weitaus schnellere, heftigere war, von vielen ruckweisen Stößen und Gegenstößen begleitet. Auf einmal erkrachte die Hütte unter einem gewaltigen Anpralle und To wurde mit scharfem Rucke gegen die Wand geschleudert. Er fühlte, wie das Dach über ihm zusammenstürzte, wie die Hütte aus allen Fugen wich und wie einer der Balken ihn niederschlug. Dann verlor er das Bewußtsein. Sein letzter Gedanke galt der armen Ti, wie er denn überhaupt in den letzten schrecklichen Tagen durchaus nicht lediglich an sein eigenes Heil, sondern auch gar häufig an das der gefährdeten Genossin gedacht hatte. Immer wieder hatte er versucht, die Türe zu öffnen um nach Ti zu spähen, allein die Ausführung erwies sich in diesem Aufruhr der Elemente als ganz unmöglich. Und doch glaubte er durch den höllischen Lärm, durch das schaurige Pfeifen und Tosen des Orkans hindurch zuweilen Tis Angstrufe zu vernehmen. Es war ihm eine entsetzliche Vorstellung, auch sie schutz- und hilflos der furchtbaren Gefahr preisgegeben zu wissen und machtlos auf jeden Rettungsversuch verzichten zu müssen. . . .
Als To aus seiner Betäubung erwachte, herrschte ringsum stockfinstere Nacht. Noch strömte der Regen hernieder, noch tobte der Sturm, wenn auch mit etwas verminderter Heftigkeit. Es bedurfte geraumer Zeit, bis To sich Vergegenwärtigen konnte, daß er sich nicht in seiner Hütte oder auf festem Boden befand und daß das ihn durchdringende Gefühl der Nässe nicht nur vom Regen herrührte, sondern auch davon, daß er angeklammert an einen Balken, mit halbem Körper im Wasser hing. So mochten einige Stunden vergangen sein, als sich im Osten ein schwacher Lichtschein erhob und die allmählich wachsende Helligkeit gestatten, die Gegenstände rundum zu unterscheiden.
Kein wüster Traum äffte To, sondern er trieb tatsächlich auf einer fast unermeßlich scheinenden Wasserfläche dahin. Die Ufer in der Ferne kamen ihm fremd vor und doch meinte er wieder, bekannte Gebirgszüge zu schauen. Einige der Gipfel glaubte er, bestimmt an ihren Formen zu erkennen, nur wollten sie ihm bedeutend niedriger erscheinen als sonst; dann auch verwirrte es ihn, daß er einige von geringerer Höhe überhaupt nicht aufzufinden vermochte. Erst die weiter zunehmende Heiligkeit offenbarte ihm den Grund der Veränderung in der sonst so bekannten Gegend. Wohl befand er sich in dem eingangs erwähnten unteren Seebecken, da, wo sich heutzutage das Dreisamtal hinzieht, aber der See war infolge der andauernden Wolkenbrüche sowie durch den Ausbruch des Tisees und anderer Hochbecken in einem Maße angeschwollen, daß seine Fluten sämtliche niederen Berge überschwemmt hatten und nur die höchsten Gipfel inselartig hervorragen ließen. Wie er hierher gelangt war, das dämmerte in "Tos Gehirn, wo die Gedanken und Eindrücke durcheinander taumelten wie die stürzenden Wände seiner Hütte, nur mühsam empor. Wohl entsann er sich noch des tagelangen Eingeschlossenseins in seiner Hütte und des dann folgenden beängstigenden Gefühls, als werde dieselbe, einem leichten Fahrzeuge gleich, von den Fluten emporgehoben und mit Windeseile bergab getrieben. Nun erinnerte er sich auch des entsetzlichen Augenblicks als die Hütte zerschellte, und da mit einem Mal überkam ihn die trostlose Gewißheit, daß der rettende Balken, auf dem er dahin trieb, das letzte Überbleibsel von der Behausung seiner Ahnen sei .... Jetzt gewahrte er in geringer Entfernung vor sich eine inselartig aus dein Wasser aufragende Felsengruppe von mäßigem Umfang. Es gelang ihm, sein Fahrzeug dahin zu lenken und sich auf das rettende Ufer zu schwingen.
Die Umschau, welche er zunächst hielt, bot nichts tröstliches; zeigte sie ihm doch nur, daß er sich allein befinde in einem Meere von schier unendlicher Ausdehnung. Doch halt! Nicht ganz allein, denn was trieb da vorn in beträchtlicher Entfernung? War das nicht ein Rost, wie diejenigen, worauf man die Hütten zu errichten pflegte? und nun, was richtete sich von diesem Roste auf und schien die Arme wie Hilfe suchend nach ihm auszustrecken? Sein scharfes Auge entdeckte, daß es ein menschliches Wesen sei und wenn ihn nicht alles täuschte, niemand anders als die unglückselige Ti, welche mit dem Strome rasch dahin trieb. Was To aber mit Einsetzen erfüllte, war die Wahrnehmung, daß das Floß sich augenscheinlich in kreisender Bewegung befand und sich mit zunehmender Schnelligkeit dem Mittelpunkte des Kreises näherte. Da, wo von den verschiedenen Höhen die Wassermassen niederstürzend aufeinander stießen, hatte sich ein mächtiger Strudel gebildet, der das schwankende Fahrzeug zu verschlingen drohte.
Wenn uns auch über die Gebote der Ritterlichkeit bei den Pfahlbauer keinerlei Überlieferungen zur Hand sind, so muß ich doch als Geschichtsschreiber des braven To feststellen, daß bei diesem entsetzlichen Anblicke der Entschluß in ihm aufflammte sich in die Fluten zu stürzen in der Absicht, seine Jugendgenossin schwimmend zu erreichen und sein bestes zu ihrer Rettung aufzubieten. Aber als ein so vorzüglicher Schwimmer er sich auch deuchte, so belehrte ihn doch ein Blick auf seinen weiter getriebenen Balken, daß die starke Strömung ihn in ganz entgegengesetzte Richtung fortreißen würde.
Die Geschwindigkeit der Umdrehung des Floßes hatte mittlerweile noch immer zugenommen. Jetzt neigte es sich in steilem Winkel nach innen. Ti konnte sich nur durch Anklammern an dem äußern Rande vor dem Hinabgleiten in den schäumenden Trichter bewahren. Doch was half ihr diese vorübergehende Rettung! Unaufhaltsam und immer rascher kreisend näherte sich das Floß dem Innern des Wirbels. Ein schriller Aufschrei gellte über die Wasserfläche hin und alles war verschwunden.
To stierte noch immer auf die Stelle, wo er seine Gespielin versinken sehen hatte; er wähnte, sie müsse noch einmal auftauchen. Doch:
»Es kommen, es kommen die Wasser all,
Sie rauschen herauf, sie tauschen nieder,
Die Jungfrau bringt keines wieder. “
Als sich ihm jedoch endlich die Überzeugung aufdrängte, daß keine Hoffnung mehr bestehe, sank er wie vernichtet auf den Felsen nieder.
Der verehrte Leser wird zweifelsohne den berechtigten Wunsch hegen zu erfahren, wie er sich denn eigentlich das Aussehen unseres Helden vorzustellen habe, und so will ich denn, wenn auch etwas spät, versuchen, ihn zu schildern. To besaß mittlere Größe; seine breitschultrig stämmige Gestalt, die auffallend langen muskulösen Arme deuteten auf große Körperkraft, die Bewegungen auf ungemeine Gelenkigkeit. Was Farbe anbelangt, so war deren Grundton auf braun gestimmt. Seine Haut spielte stark in’s Bräunliche, seine dunkelbraunen Haare fielen lang und straff auf die Schultern, braune Farbe zeigten auch die klugen Augen. Die Gesichtszüge trugen derben Schnitt; die Nase war leicht aufgestülpt, der Mund etwas breit, der Gesamtausdrück aber ein gutmütiger.
Tos Kleidung bestand zurzeit nur in seiner Haut, denn des WolfsfelIes, welches ihm sonst Brust und Lenden zu bedecken pflegte, hatte er sich im Schlafe entledigt gehabt und nun mit dem ganzen Inhalt seiner Hütte verloren.
Die Natur hatte die Pfahlbauer, ihrem mühseligen  Kampfe um’s Dasein entsprechend, nicht nur mit viel schärferem Gesicht und Gehör, sondern auch mit weit bedeutenderer Körperkraft und Zähigkeit ausgerüstet als sie der moderne Mensch aufweist. Trotzdem machte sich jetzt bei To die Ermütung geltend. Aus dumpfem Hinbrüten verfiel er in langen, tiefen Schlaf, eine Folge der übermäßigen Anstrengung und Aufregung bei den jüngsten Erlebnissen. Als er endlich erwachte, dämmerte der zweite Morgen herein und nun trat bei To die Empfindung eines gewaltigen Hungers in ihre Rechte. Aber da schien guter Rat teuer. Denn nichts erblickte er, als die weite Wasserwüste, und das Land, das allenfalls ihm hätte Nahrung bieten können, lag weit entfernt. Indem er nun seine Augen über das kleine Felseiland schweifen ließ, entdeckte er einige Muscheln, welche die Flut an’s Ufer gespült hatte. Heißhungrig griff er danach, ohne daß der willkommne Fund aber den auf eine gewisse Massenhaftigkeit der Mahlzeit zielenden Anforderungen seines Magens irgendwie genügen konnte. Da kam ihm denn ein dicht herantreibendes Behältnis gefüllt mit Rüben und allerlei sonstigen Feldfrüchten höchst gelegen.
Nachdem To seine Esslust befriedigt, oder, hoffen wir, schon währenddessen, fiel ihm aufs neue das traurige Schicksal seiner Gespielin auf die Seele. Trotzdem er es mit eignen Augen angesehen, mochte er noch immer nicht an die Wirklichkeit des Geschehenen glauben. Er hoffte, dass er sich getäuscht, dass Tis Hütte die Katastrophe überstanden habe. Es drängte ihn, darüber je eher, je lieber zu vergewissern und deshalb den Versuch zu machen, zu der Ansiedlung zurück zu gelangen, sobald die Witterungsverhältnisse dies nur einigermaßen zulassen würden. Regen und Wind hatten aufgehört, und es schien, als ob das Wasser, welches Tos Eiland umspülte schon merklich gefallen und in weiterem Abnehmen begriffen wäre. Da bei Anbruch des dritten Morgens der Wasserspiegel weiter gesunken war und die Strömung keine unüberwindlichen Schwierigkeiten zu bieten versprach, so besann sich To nicht länger, sondern sprang ins Wasser und schwamm hinüber an den Fuß des nächstliegenden Berges, den er wohlbehalten, wenn auch unter Ausbietung seiner vollen Kraft und Ausdauer erreichte. Von hier aus suchte er den Platz der alten Ansiedlung zu gewinnen. Es war ein mühseliges Beginnen, denn überall lag der Boden fußhoch mit Schlamm bedeckt. Der Pfad, welcher sich sonst dem Abfluss des Tisees entlang zog, war völlig überschwemmt und der Fluß brauste noch mit außerordentlicher Gewalt durch die Schlucht. To mußte sich also seinen Weg durch den dichten Wald, über den Kamm des Gebirges hinüber bahnen. Endlich stand er auf der Höhe und konnte nun von einer freien Stelle aus das Talbecken überschauen, worin seither der Tisee geflutet hatte.
Wohl hatte sich dessen Oberfläche wieder gesenkt, wenn auch noch lange nicht auf den alten Stand. Aber welche Veränderung mußte To wahrnehmen! Da wo eine Reihe von Ansiedlungen hunderte von Hütten umfasst hatte, ragten jetzt nur noch die Spitzen einiger Pfosten aus der Wasserwüste empor. Auch nicht eines der Gebäude war verschont geblieben; kein lebendes Wesen ließ sich weit und breit blicken. Waren sie alle zugrunde gegangen? Auf gleiche Weise wie die Unglückliche, deren schauriges Ende er gestern mit ansehen mußte und in der er nun seine Gespielin mit Gewißheit beklagte? Und er als einziger war diesem furchtbaren Naturereignis entkommen! Mit doppelter Wucht lasteten diese Gedanken auf ihm, verbunden mit der Erkenntnis, nunmehr ganz auf sich allein angewiesen da zustehen. Langsam und traurig schlich To der Stätte seiner Kindheit näher; weshalb, das wußte er eigentlich selbst nicht recht, denn einer Bestätigung seiner Wahrnehmungen bedurfte es wahrlich nicht. Und doch sollte sein Gang nicht unbelohnt bleiben. Als er dem Flußbette nahe kann, stieß er auf einen hierhin verschlagenen Einbaum, ein Fahrzeug, dessen er zum Weiterleben dringend bedurfte und deshalb nicht zögerte sich seiner zu bemächtigen. Das Boot schien so gut wie unverletzt und was Tos Freude krönte, es enthielt eine Unzahl der notwendigsten Werkzeuge, Gefäße und Steinwaffen, auch Angelhaken und Fischspeere aus Gräten. Vermutlich hatte einer der gefährdeten Pfahlbauer das Fahrzeug ausgerüstet, um auf ihm zu entfliehen, war aber vorher vom Verderben ereilt worden.
Seine Wohnung wieder hier oben in dem trügerischen See aufzuschlagen, damit konnte To nach den gemachten trüben Erfahrungen sich nicht befreunden. Die Ansiedelung auf dem Festlande aber erschien einem Pfahlbauer völlig undenkbar. Es blieb also nur übrig, eine Insel als Wohnstätte zu wählen, und das Schicksal hatte dem Vereinsamten ja den Weg dazu gewiesen. Er machte zunächst seinen Kahn flott und unternahm das Wagnis sich auf dem Ungestüm dahin brausenden Abflusse des Tisees in das untere Seebecken zu begeben. Zuvor aber belud er das Boot mit soviel Feldfrüchten, als es nur zu tragen vermochte. Von Feldfrüchten im heutigen Sinne kann freilich keine Rede sein, denn eigentlichen Feldbau betrieben die Bewohner des Tisees nicht. Wohl aber brachte die damals ständig herrschende feuchtwarme Witterung allerhand genießbare Erzeugnisse von Boden und Baum ohne Zutun des Menschen hervor, so daß To mit fast unerschöpflichen Vorräten rechnen durfte. Völlig zum Vegetarier zu werden brauchte er ja nicht, nachdem die ihm in die Hände gefallenen Gerätschaften ihn in die Lage setzten, sich auch mit Fisch und Fleisch zu versehen.
Mehr Sorge als die Nahrung erweckte ihm die Beschaffung eines geeigneten Obdachs, um nicht auf die Dauer ohne Dach und Fach auf der öden Felskuppe hausen zu müssen. An Holz herrschte freilich kein Mangel, denn dichter Hochwald bedeckte die Berge; aber wie sollte es To allein gelingen, die nötige Anzahl Stämme zu fällen, zu richten und an Ort und Stelle zu schaffen?
Noch einige Tage lang fiel das Wasser, dann behielt es seinen Stand bei und die Insel ragte etwa hundert Fuß aus dem Wasser empor. Das nächste Ufer lag so weit entfernt, daß eine Überrumpelung durch reißendes Landgetier als ausgeschlossen gelten mußte. Nur etwa das obere Drittel der Insel bestand aus Felsboden; von da ab zog sich fast rundum dichter Wald bis herab an den Wasserspiegel. Der Baumwuchs hatte durch die wochenlange Überflutung kaum merklich gelitten, war er doch an dergleichen überreichliche Wässerung gewöhnt.
To hielt es für angemessen, die künftige Stätte seiner Wirksamkeit, als deren Alleinherrscher in des Wortes engster Bedeutung er sich fühlen mußte, einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Dabei entdeckte er, daß der Hügel gegen das untere Ende hin sich wesentlich abflachte. Hier lagen große Felsblöcke wirr durcheinander geworfen, sei es durch frühere Ereignisse, sei es durch die Gewalt der eben erst Verlaufenen Flut. An einer Stelle erschien ihm die Schichtung der Gesteine sehr auffällig. Dicht am Wasserrande zeigte sich eine tiefe rundliche Öffnung, weit genug, einem Menschen bequemen Durchschlupf zu gestatten. Ein davor liegender Felsblock von ähnlich runder Form, schien den Zugang verschlossen zu haben, aber jetzt durch Unterspülung niedergestürzt zu sein.
Als To, seinem Wissensdrange folgend, durch das Loch gekrochen war, befand er sich in einem langsam ansteigenden, höhlenartigen Gange. Nur der unterste Teil erwies sich so enge, denn bald erweiterte sich die Höhle in Höhe und Breite dergestalt, daß To gut aufrecht zu schreiten vermochte. Vom oberen Ende her schien die Höhle gleichfalls einen Zugang zu besitzen, wenigstens fiel von dort aus spärliches Tageslicht herein, immerhin genügend, den Raum und was er barg zu erhellen. Den Boden bedeckte fußhoher, feiner, weicher und dabei ganz trockner Sand, eine an und für sich gar nicht üble Lagerstätte. Die Höhle schien auch schon Wohnzwecken gedient zu haben, denn es fanden sich zerstreut umherliegend kleinere und größere Knochenüberbleibsel, wie von Mahlzeiten herrührend, und in der Nähe des oberen Ausgangs deuteten unzweifelhafte Aschenreste auf eine ehemalige Feuerstätte. In geringer Entfernung hiervon lag fast unversehrt ein vollständiges Knochengerüst, allem Anscheine nach von einem menschenähnlichen Wesen herstammend, dem aber To kaum bis zur Schulterhöhe gereicht hätte. Jedenfalls waren lange, lange Zeiten verstrichen seit dieser letzte Bewohner geatmet hatte, denn beim Berühren zerfielen die Knochen zu Staub. Daß es sich hier ganz gemächlich hausen lassen müsse, daß auch dabei die persönliche Sicherheit genügend gewahrt werden könne, das übersah To  mit einem Blick. Er richtete sich also, wenn man so  sagen darf, häuslich ein und begann gleich damit, daß er sich auf dem weichen Sande zur Ruhe streckte.
Es würde zu weit führen, wollten wir Tos Bewegungen weiterhin im einzelnen verfolgen, Es genügt zu sagen, daß sein Leben sich etwa abspielte wie dasjenige  des uns allen aus den Kinderjahren bekannten Robinson.
Nachdem er selbst einen so trefflichen Unterschlupf gefunden, sorgte er auch für einen solchen für sein Boot. Ein weit überhängender Felsen an der tiefsten Einbuchtung deckte es gegen Regenfälle; weil aber das Ufer hier steil und schlüpfrig abfiel, wandelte es To in drei regelrechte Stufen um, deren unterste das Wasser bespülte. Der hier angeschwemmte stark tonhaltige Sand erstarrte schon binnen wenigen Tagen zu einer steinharten Masse.
Was Tos Vorgänger in der Höhle besessen, was To fehlte und was er auf die Dauer schmerzlich vermißte, war Feuer zur Bereitung seiner Nahrung. Der verehrte Leser wird sich aus Robinsonaden und dergleichen entsinnen, daß man den Naturvölkern die Fähigkeit zuschreibt, sich Feuer leicht zu verschaffen, indem sie zwei Hölzer von verschiedener Beschaffenheit in heftige Reibung versetzen. Welcher Knabe hätte nicht auch einmal diesen Versuch gemacht und wohl mit ebenso unbefriedigendem Ausgang wie der Verfasser! Woran es gelegen, weiß ich nicht zu sagen, vielleicht im Mangel an der nötigen Kraft und Ausdauer bei Unsereinem. To, dem es an diesen Eigenschaften freilich keineswegs gebrach, bemühte sich auch vergebens. Wohl hatte er die Dorfalten von dieser Art und Weise der Feuererzeugung reden gehört, allein niemand hatte die Kunst ausgeübt, einfach weil man ihrer nicht bedurfte, da man Feuer besaß und dafür sorgte, dass es auf dem Herde nie verlöschte. Genügender Vorrat gut ausgetrockneten Holzes lagerte zu diesem Zweck in der Nähe des Feuerplatzes. To entsann sich aber auch einer Sage, wonach die Bewohner des Tisees ihr Feuer ursprünglich von dem Vulkan jenseits des großen Seebeckens empfangen hatten und zwar in Gestalt eines bis zu ihnen geschleuderten großen glühenden Blockes. Was seinen Vorfahren der gütige Zufall gespendet, das beschloß To aus eigener Kraft sich zu beschaffen, indem er sich einen der feurigen Steine holte, wie sie der jetzt wieder zu ganz harmloser Tätigkeit zurückgekehrte Vulkan in seine nächste Umgebung streute.
So sehen wir denn To an einem der nächsten Tage seinen Einbaum besteigen und mutig auf sein Ziel lossteuern. Windstille herrschte und das gewaltige Seebecken lag in vollständiger Ruhe. Trotz ungehinderter Fahrt langte To erst abends am Fuße des Feuerberges an. Gleich hohen Herrschaften heutzutage in ihrer Pacht, verbrachte er die Nacht in seinem Boote. Früh am nächsten Morgen stieg er bergan und es gelang ihm, einen mächtigen glühenden Stein den Berg hinab zu rollen und mit Aufbietung aller Geschicklichkeit auf im Boote bereitgehaltenen großen Muschelschalen zu betten. Die Glut bewahrte er durch beständiges Zulegen gedörrter Holzspähne. Am zweiten Abend wieder in seiner Höhle angelangt, entzündete er auf der alten Feuerstätte die Flamme und sorgte für ihre dauernde Erhaltung.
Auf diese Weise mochte eine Reihe von Monaten vergangen sein, da verfinsterte sich der Himmel wieder und schon wähnte To, dass eine neue Wassersnot hereinbräche. Aber diese Befürchtung erwies sich als falsch, denn nicht feuchte Dünste waren es, die den Himmel trübten, sondern dichte, dem Vulkan entsteigende Rauchwolken, gefolgt von einem neuen gewaltigen Ausbruche. Die Erde erbebte weit im Umkreis. To wurde von dieser Bewegung unsanft aus dem Schlafe gerüttelt. Weitere Sorgen erweckte sie jedoch in ihm nicht, denn derartige, wenn auch gelindere Erschütterungen bildeten auch früher fast die Alltäglichkeit, ebenso wie der die Luft erfüllende Schwefelqualm. Tos Atmungsorgane zeigten sich solchen atmosphärischen Einwirkungen freilich völlig gewachsen. Eine früher gemachte Beobachtung fand er jetzt wieder bestätigt, daß nähmlich zurzeit derartiger Vorgänge in der Natur der Fischfang sich am ergiebigsten gestaltete. Die Fische drängten dann gleichsam nach der Oberfläche des in seinen Grundtiefen aufgewühlten Wassers. Diesen Umstand wollte To sich zunutze machen. Er gedachte einen mächtigen Fischzug zu unternehmen und dann die Beute am Feuer zu trocknen, als willkommenen Vorrat für schlechtere Zeiten. Bei seiner oben beschriebenen Fahrt war seinem kundigen Auge der bedeutendere Fischreichtum in dem äußeren Seebecken aufgefallen, auch andere und größere Arten als in seiner Nähe gab es dort. Sie trachtete er zu gewinnen und in Erwartung eines gleich günstigen Ausganges wie bei seinem ersten Argonautenzuge stach er munter in See.
Die Heftigkeit des vulkanischen Ausdrucks dauerte an. Auch die Erdstöße folgten sich in immer kürzeren Pausen, begleitet von gewaltigem unterirdischen Donner sowie von einem ganz eigentümlichen, nie zuvor vernommenen Geräusche, gleichsam wie aus weiter Ferne über den Wasserspiegel herzitternd. Geriet auch die Wasserfläche zeitweise in starke Wallung, so vermochte dies To doch ebensowenig von der Ausführung seines einmal gefaßten Planes abzuhalten, als die Wahrnehmung, dass der Berg immer gewaltigere Feuermassen ausspie. Jetzt stieg eine Feuersäule von außerordentlichem Umfange berghoch und senkrecht in die Luft. Gleichzeitig ergossen sich zwei breite glühende Lavaströme in den See, nahe der Stelle wo To einst gelandet war. In weitem Umkreise fielen mächtige Stücke der glühenden Masse in das hochaufspritzende Wasser. Wo der Lavastrom dasselbe erreichte, zischten Riesenwolken von Dampf auf; sie lagerten sich, untermischt mit dein schwärzlichen Kraterqualm in dichter Schicht über die Wasserfläche und verbreiteten Dämmerung ringsumher.
Die Fischwelt schien durch das Naturereignis aufs höchste geängstigt; scharenweise erschienen die stummen Schuppenträger an der Oberfläche. To hätte in kürzester Frist sein Boot mit ihnen anfüllen können; warum aber griff er nicht zu? Bei all seiner Ursprünglichkeit hatte er Anwandlungen von Feinschmeckerei, welche sich in ausgesprochener Vorliebe für einen bestimmten lachsartigen Wasserbewohner offenbarte. Ihm galt Tos diesmaliger, bisher ergebnisloser Beutezug; denn keiner seiner Gattung ließ sich bisher blicken. Wollte To nicht unverrichteter Dinge umkehren, so musste er sich entschließen, der herabregnenden glühenden Steine ungeachtet, nahe an das Vulkangebirge heran zu rudern, in dessen Buchten er seine Beute sicher zu finden glaubte. Allein unerklärlicherweise wollte es Tos starkem Arme nicht gelingen, den Einbaum in gewünschter Richtung voran zu treiben. Immer trieb er nördlich ab und je weiter To in den See hinaus gelangte, als desto unwiderstehlicher erwies sich die Gewalt der Strömung, deren Vorhandensein ihm bei seinem ersten Besuche nicht aufgefallen war. Und doch hatte er damals kaum nennenswerte Anstrengungen machen müssen; heute dagegen arbeitete er mit vollen Kräften und dennoch ohne Erfolg. So gewohnt ihm auch sonst die feuchte Wärme, die rauchgeschwängerte dicke Luft war, heute schienen ihm beide unerträglich. Stromweise rann der Schweiß an ihm herab, keuchend ging sein Atem und er fühlte die Kraft seiner Muskeln erlahmen. Um sich zu kühlen, schöpfte er Wasser mit der hohlen Hand, aber erschreckt zog er sie zurück, denn die Flut fühlte sich ganz heiß an. Jetzt trieben auch tote Fische in Menge an ihm vorüber; mechanisch erhaschte er einen derselben und gewahrte, daß dieser förmlich gesotten war. To fühlte, dass er seinem Untergange rettungslos entgegengehe, dass menschliche Widerstandsfähigkeit dieser unheimlichen Vereinigung feindseliger Elemente nicht gewachsen sei. Und doch trachtete er instinktmäßig der verderbendrohenden Glühhitze des Feuerberges zu entkommen, indem er nun der Strömung folgend aus Leibeskräften nach Norden ruderte. Wirklich schien dieses Bestreben aussichtsvoll, denn je mehr der Kahn vordrang, umso lichter wurde es ringsum und die Wasserwärme nahm merklich ab.
To begann freier aufzuatmen. Da auf einmal erfolgte ein Stoß, eine Erderschütterung von furchtbarer Gewalt. Hochauf schwoll das Wasser, To´s Einbaum zuerst in rasch kreisende Bewegung versetzend, ihn dann jedoch pfeilschnell in südlicher Richtung voranschiebend. In kürzester Frist fand sich der unglückliche Schiffer in unmittelbare Nähe der vom Vulkan herabfließenden Glutströme getrieben. Noch dichter als vorher lagerte hier der erstickende Qualm und Dampf; das Wasser schwoll und quoll und brodelte, mächtige Blasen stiegen auf, Schaum trieb umher, die ganze Seebucht dampfte in Siedehitze Tos Körper war bedeckt mit Brandwunden, verursacht durch das überspritzende kochende Wasser. Krampfhaft angeklammert hielt er sich, um nicht aus dem heftig schwankenden Fahrzeuge geschleudert zu werden. Die Sinne begannen ihm zu schwinden . . . Da, plötzliche Tagehelle! Ein mächtiger glühender Block traf das Bot und begrub es samt seinem Insassen in dem hoch über ihnen zusammenschlagenden Gischte . . . .
An jenem Tage wurde, unterstützt durch die Gewalt des Erdbebens, die bereits Jahrtausende lang währende Sägearbeit des Wassers von Erfolg gekrönt. Da wo heutzutage im ,,Binger Loch“ noch einzelne niedere Klippen ragen, hatten die Fluten sich Bahn durch das Gestein gebrochen herab zum Weltmeer. Das anfangs nur schmale Rinnsal wühlte sich nach weiteren Jahrtausenden ein tiefes Bett für die grünschillernden Wellen des gewaltigen Stromes, den unsere Lieder als „Vater Rhein« besingen.

Unter römischer Herrschaft.
Die Wasser des Tisees, oder Titisees, wie man ihn jetzt nannte, umspülten schon seit Jahrtausenden nicht mehr die Pfähle, auf welchen einst Tos Heimatdorf geruht hatte. Die jetzigen Anwohner wußten sich nicht zu deuten, wozu die mächtigen Eichenpfosten gedient haben mochten, welche noch vereinzelt auf sumpfiger Matte hervorragten. Aus abergläubischer Furcht aber wagten sie nicht Hand daran zu legen. Ungläubig würden sie die Köpfe geschüttelt haben, hätte man ihnen vorerzählen wollen, dass die Wasser des Sees einstmals bis hierher fluteten, noch mehr aber bei der Behauptung, daß auch das weite unterhalb gelegene Tal einstmals mit Wasser angefüllt und von Fischen belebt gewesen sei. Pochten sie doch darauf Autochthonen zu sein, deren Ansiedlungen von jeher hier gestanden hätten, also die Ureinwohner und eigentlichen Besitzer des Landes, wenn auch erstmals von den stürmischen Germanen und dann mit diesen durch die Römer unterjocht. In der Tat deutete auch nichts darauf hin, dass einst der Titisee eine solche Ausdehnung besessen haben könnte. Und nun gar der kleine Tümpel da unten im Tale, von knapp einer halben Stunde im Umkreise. Wie dürfte sich jemand unterfangen in ihm den Überrest eines meerartigen Seebeckens zu sehen!
Dichter Urwald deckte sämtliche Höhen und erstreckte sich auch über die Talflächen. Nur an wenigen Stellen glänzten Lichtungen, Matten, worauf Vieh weidete. Wenn man genauer zuschaute, mußten einem in dem die Ebene beschattenden Walde einige schnurgerade Linien von beträchtlicher Ausdehnung ausfallen, die strahlenförmig von einem Mittelpunkt ausgingen. Es waren dies Durchhaue welche den Wald in Reviere teilten und zugleich nach Entfernung der gröbsten Hindernisse in Gestalt von Wurzeln, Sträuchern und Schlinggewächsen leidlich gangbare Verkehrswege durch diese Wildnis bildeten. Außerdem gab es noch schmale, nur den Eingeborenen bekannte Waldpfade
Den Mittelpunkt jenes Verkehrsnetzes - wenn man es so nennen darf - bildete die Römerstadt Tarodunum. (Manche wollen den Namen des in der Nähe liegenden heutigen Zarten davon herleiten.) Ungleich den Festungen und Burgen späterer Jahrhunderte, welche man mit Vorliebe auf erhöhten Punkten anzulegen pflegte, breitete sich die Stadt mit ihren Umwallungen mitten in der Ebene aus, wie dies dem Wesen solcher römischen Ansiedelungen entsprach. Bei ihrer Anlage war vor allem Bedacht genommen auf Sicherung gegen die meist zur Nachtzeit ausgeführten Überfälle durch die aufsässigen Alemannen. Um den Feinden solche Unternehmungen tunlichst zu erschweren, hatte man nach alter Kriegsregel einen breiten, baumlosest Gürtel rings um die Außenwerke gezogen und im Anschluss daran die vorerwähnten Durchhaue geschaffen. Die Lage der Stadt schien günstig gewählt, denn von hier aus ließen sich auch die Pfade gut überwachen, welche aus verschiedenen Richtungen vom Gebirge in die Ebene hinabziehend sich an dieser Stelle kreuzten Dennoch erwies sich mit der Zeit eine noch weitere Umschau erforderlich, als sie der städtische Wartturm zuließ. Vom östlichen Gebirge her drohte stets die größte Gefahr, und es erschien dem Befehlshaber der Stadt deshalb wünschenswert, sich einen Auslug zu schaffen, von dem aus man die Bewegungen des Feindes früher und sicherer als bisher beobachten konnte. Von den mancherlei Anhöhen, welche man zur Errichtung einer solchen Warte ins Auge faßte, schien keine sich besser eignen zu wollen, als der kleine vorgeschobene felsgekrönte Berg, welcher die Verkehrswege durch Wagensteig und Höllental beherrschte. Die ganze Bildung und nahezu völlig freie Lage des Hügels mit seiner breiten Kuppe und den steil abfallenden Wänden machte ihn zur Anlage einer Bergfestung recht geeignet.
Es handelte sich, wie der geehrte Leser schon erraten haben wird, um keinen anderen Ort, als um die einstmals von To bewohnte Felsinsel, deren Boden sich im Laufe der Jahrtausende mit einer hohen Humusschicht bedeckt hatte.
Was aber in den Augen des römischen Feldherrn einen besonders beachtenswerten Vorzug bildete, war die zufällig gefundene Höhle, welche sich von der oberen Abdachung bis weit hinunter zog und gute Gelegenheit zu heimlichen Ausfällen, aber auch in Fällen äußerster Bedrängnis noch einen letzten Ausweg zum Entweichen bot.
So ging man denn rüstig ans Werk. Die den Bergkegel umstehenden Buchen, Eichen und Fichten wurden gefällt, letztere dienten zugleich zur Aufrichtung der doppelten Palisadenreihe. Die Baumstümpfe wurden abgebrannt, und wo sich ehemals schattige Baumkronen gewölbt hatten, entstanden jetzt geräumige Hofe wie auch, nach Süden gelegen, ein Garten zu Nutzen und Annehmlichkeiten. Dann begann der Bau des eigentlichen Wartturmes, das unterste Stockwerk aus mächtigen, roh zugehauenen Quadern, das nächste aus kleineren Felssteinen, die oberen beiden aus Holz errichtet. Die Räume zur Lagerung der Besatzung und ihres Befehlshabers,  vorläufig in Fachwerk ausgeführt, gruppierten sich um den Wartturm herum; die Herstellung in dauerhafterer Weise behielt man sich auf gelegenere Zeiten vor.
Von dem Wartturme aus genoß man einen weiten Ausblick; westlich, da wo das breite Silberband des Rheins erglänzte, ragte Brisaccum auf seinem Felsklotz; im Vordergrund, nur einige römische Meilen entfernt lag Tarodunum, so dass man sich durch verabredete Zeichen leicht verständigen konnte. Die Nähe des neuen Kastells gab ihm seinen Namen ,,Castrum vicinum“
Zum Befehlshaber des Kastells wurde der Centurio Marcellus ernannt. Geborener Römer, hatte er manches Jahr in germanischen Garnisonen zugebracht, war mit Wesen wie Kampfesart der Germanen, auch einigermaßen mit ihrer Sprache vertraut und daher wohl besonders für besagten Posten geeignet.
Marcellus hatte vor ungefähr einem Jahre eine junge Römerin aus edlem Geschlecht namens Lavinia heimgeführt, und sie war dem Gatten ohne Zaudern hierher in die Wildnis gefolgt. Im Hause ihres Vaters, der längere Zeit einen weit vorgeschobenen Posten in Germanien befehligte, hatte sie zugleich mit der rauhtönenden Sprache Land und Leute kennen und schätzen gelernt; wir möchten sagen, dass gerade die Aussicht, wieder nach Germanien zu kommen, mitbestimmend auf sie bei Annahme der Hand des wesentlich älteren Marcellus wirkte.
Monatelang bereits hatten die Gatten zu Lavinias voller Befriedigung in Tarodunum gelebt, als der Centurio Befehl erhielt, sich nach Castrum vicinum zu begeben. An ihrem neuen Bestimmungsorte angelangt, richtete Lavinia die Gemächer so wohnlich ein als die obwaltenden Umstände es zuliessen. Auch für die Annehmlichkeiten außerhalb des Hauses, für den Aufenthalt im Freien, sorgte sie. So wurde unter ihrer kundigen Leitung nicht nur der Küchengarten sondern auch ein Ziergärtlein angelegt. Einzelne höhere Laubbäume, welche man geglaubt hatte stehen lassen zu dürfen, wurden geschickt zur Anbringung schattiger Ruhesitze benutzt. Allerhand Blumen erfreuten das Auge, frischsprossende Fichten, sowie Epheu und andere Schlinggewächse, verliehen dem düsteren Mauer- und Balkenwerk der Gebäude einen freundlicheren Anstrich.
Lavinia stand sich ihres Werkes freuend im Garten, als sie sich von Marcellus gerufen hörte:
“Nicht nur drinnen im Hause hat sich alles in den wenigen Tagen Deiner Anwesenheit so behaglich gestaltet, nein auch hier außen erkennt man Deine ordnende Hand, Deinen feinen Sinn. Wo hast Du nur in der kurzen Frist all die Gewächse aufgetrieben?“
„Die verdanke ich zumeist der lebhaften Mitwirkung des Riquinus, der einen ebenso regen Eifer, als Anstelligkeit in Gartenangelegenheiten zu entwickeln beginnt“ erwiderte sie.
„Kein Wunder unter solch vortrefflicher Anleitung, wie der Deinigen,“ gab er scherzend zurück. Doch wenn ich nicht irre, so kommt da gerade der Wolf in der Fabel, oder ich müßte mich sehr täuschen, wenn sich hinter dem glänzend grünen Blattwerk nicht des Riquinus blonder Lockenkopf versteckte.“
Dieser war es in der Tat; er schleppte in jeder Hand einen mannshohen Stechpalmenstrach und keuchte auf die Frage, wo er sie gefunden, die Antwort hervor: „Die kannte ich schon längst, standen sie doch da unten am See ganz in der Nähe meines Lieblings-Fischplatzes; ich meine, sie müßten sich trefflich eignen, den Eingang des Gartens zu zieren, umsomehr als sie ihr Laub im Winter bewahren und dadurch einen freundlichen Anblick gewähren, wenn Deine Augen in die Winterlandschaft fallen.“
Er hatte sich damit an Lavinia gewandt, in fließendem Latein, wenn auch mit fremdartiger Aussprache. Nicht leicht konnte man größere Gegensätze sehen, oder einen deutlicheren Unterschied der verschiedenen Typen, als bei den drei hier zusammenstehenden Personen.
Lavinia galt als vollendete Schönheit, und mit Recht; besaß sie doch rein klassischen Gesichtsschnitt: die niedere Stirn und Nase eine Linie bildend, kleinen Mund und starkes Kinn, dunkle, ausdrucksvolle Augen, das Ganze umrahmt von reichem, tiefschwarzem Haar. Wie die Gesichtsbildung, so zeigte auch ihre Gestalt klassische Formen. Trotz der damals herrschenden Mode - und sie verstieg sich zu ebenso großen Torheiten wie heutzutage - trug Lavinia ihr Haar nicht in einem künstlichen Aufbau, sondern einfach in der Mitte gescheitelt, an den Schläfen zurück gestrichen und im Nacken mit einem griechischen Knoten befestigt. Auch in der Tracht hatte sie sich den Erfordernissen der Gegend anbequemt; das lichtgraue Gewand ließ die kleinen Füße sehen, es vermied die sonst vorgeschriebene Schleppe, die auf den unbequemen Schwarzwaldpfaden schlecht am Platze gewesen wäre.
Marcellus erschien als das Urbild eines römischen Kriegsmannes; dunkles Haar, dunkle Hautfarbe, stark gebogene Nase, selbstbewußter Ausdruck kennzeichneten ihn. Seine Gestalt zeigte nur Mittelmaß, kaum dass sie die Grösse der hochgewachsenen Lavinia erreichte.
Diesen Vertretern des Römertums gegenüber musste jeder in dem wohlgebildeten Antlitze des Jünglings sofort den Germanen erkennen, dessen Namen Richwin man sich als Riquinus mundgerecht gemacht hatte. Breitschultrig und kraftstrotzend überragte er den Centurio fast um Hauptes Höhe. Seine blauen Augen blickten hell und freundlich in die Welt, entbehrten aber nicht eines gewissen Ausdrucks von Schwermut. Dass sie auch wild und zornig blitzen konnten, das mußte mancher erfahren, den sein Unstern ihm als Gegner gegenüberstellte. Er stammte aus einem Geschlechte alemannischer Edelinge an der oberen Donau. Wie mancher seiner Stammesgenossen hatte er, germanischem Wandertriebe folgend, in früher Jugend den Weg nach Rom gesucht, um dort in Kriegsdiensten Weltkenntnisse, Ruhm und Beute zu erwerben. Der Zufall führte ihn mit Lavinias Vater zusammen; da dieser an Richwins Wesen großen Gefallen fand, so veranlaßte er den jungen Alemannen, ihm in seine Garnisonen, zuerst nach Gallien, dann an den Rhein nach Germanien zu folgen. So war er, vollständig im Hause und wie ein Zugehöriger desselben lebend, gewissermaßen als Gespiele Lavinias aufgewachsen. Unbegrenzte Verehrung und Wertschätzung für sie erfüllte ihn, ohne dass jedoch ein Gedanke sie zu besitzen in ihm aufkeimte.
Als nun die Jungvermählten nach Germanien versetzt wurden und Richwin sich aus freien Stücken erbot, sie dahin zu begleiten, wurde dies Anerbieten auch seitens Marcellus´ dankbar angenommen, weil dieser sich die Vorteile der Gegenwart eines so durchaus zuverlässigen, mit den Verhältnissen genau vertrauten Hausgenossen nicht verhehlte, ganz wie dazu geschaffen, die mancherlei Schwierigkeiten in dem fremden Lande für beide Ehegatten zu ebnen. Schon während des Aufenthalts in Tarodunum hatte Richwin, der als Unterbefehlshaber über einheimische Truppen und eine Abteilung iberischer Bogenschützen wirkte, in seiner freien Zeit die Gegend nach allen Richtungen hin durchforscht und manche nützlichen Kenntnisse von seinen Streifzügen mitgebracht, ganz zu schweigen von erbeutetem Wildpret und Fischen, welche angenehme Abwechslung für die Tafel boten. Der römische Feldherr betrachtete es als ganz selbstverständlich, dass Richwin den Centurio an seine neueste Wirkungsstätte begleitete, weil er da von noch größerem Nutzen zu sein versprach.
Man hatte den Wartturm gerade über dem oberen Eingang zu der Höhle erbaut. Auf dem obersten Treppenabsatze ließ sich ein anscheinender Quader - in Wirklichkeit ein auf die Dicke eines schwachen Mühlsteins flach zugehauener Stein, der auf zwei kräftigen Zapfen befestigt war - durch einen geheimen Federdruck türartig bewegen. Hinter dieser Türe lag, in der Mauerdicke verborgen, eine schmale Steintreppe, welche in die Höhle hinab führte. Der Ausgang der Höhle mündete außerhalb der untersten Palissaden in der steilen Seitenwand des mächtigen, von der Natur geschaffenen Grabens.
„Nachdem wir jetzt dem Angenehmen und Schönen gehuldigt, wollen wir doch auch das Nützliche beaugenscheinigen,“ rief Marcellus. Lasst uns in den Turm gehen, um den geheimen Ausgang zu untersuchen; es ist ganz gut, sich in Zeiten, wo noch keine Gefahr droht, mit den Zufluchtsmitteln vertraut zu machen, damit man eintretenden Falles ihre Anwendung kennt.“ Mit diesen Worten schritt er den beiden anderen voran durch die Steintüre in den sich vor ihnen auftuenden dunklen Schlund.
Marcellus tastete nach einer zur linken an der Wand hängenden Lampe, entzündete sie und erhellte damit die Treppe zur Genüge. Langsam stieg man dann hinab bis zu der Stelle, wo sich die Höhle zu einem schmalen, das aufrechte Gehen verhindernden Gang verengte
“An dieser Stelle muß noch eine widerstandsfähige Tür eingebracht werden, um jedes Eindringen Unberufener zu vereiteln,“ bemerkte Marcellus „die Hauptsache ist ja bereits vollendet, eine sichere Verwahrung der unteren Öffnung, die lediglich von innen beweglich, von außen nur durch einen mit dem Geheimnis genau Vertrauten mit Gewalt erbrochen werden kann.“
Er zeigte hierbei, seinen Begleitern gebückt vorangehend, zwei gewaltige eiserne Bänder, woran ein die Öffnung genau Verschließender wuchtiger Steinblock derartig befestigt war, dass er von innen unschwer gehoben werden konnte, während ein starker Riegel als Verschluß diente. Die drei Besucher schlüpften unter dem jetzt gehobenen Deckel mit Leichtigkeit ins Freie.
„Jetzt müssen die wenigen vorhandenen Fugen noch auf recht natürlich erscheinende Weise mit Moos ausgekleidet werden“ begann Marcellus wieder, „und dann wird es unserm lieben Richwin wohl gelingen, einen tüchtigen Brombeerstrauch zu finden, den er in entsprechender Entfernung davor pflanzt, und der sich bald genug bestreben wird den geheimen Ausgang zuzuspinnen ohne doch seine Benutzung zu verhindern.“
Richwin nickte lebhafte Zustimmung.
„Ehe wir unseren Rückweg antreten,“ fuhr der Römer fort, „möchte ich Dir noch eine Erscheinung zeigen, die mich schon gleich, als ich diesen Ort entdeckte, in Erstaunen setzte. Nur wenige Schritte von hier befinden sich drei Stufen aus hartem Tone, offenbar von Menschenhand angelegt, wie auch kaum zweifelhaft erscheint, dass in unsrer Höhle Menschen gewohnt haben. Und doch weis ich mir den Zweck jener Tritte in keiner Weise zu erklären, denn sie enden nach unten über lotrecht abfallendem Fels; vielleicht ist Dir, der Du mit den Verhältnissen in Germanien vertrauter bist, eine Deutung möglich.“
So sprechend wies er Richwin die einige Schritte von dem Höhleneingang neben einem überhängenden Felsen angebrachten Stufen, To´s Werk.
Als auch Richwin den Kopf schüttelte, fuhr Marcellus fort: Die Anlage erinnert ganz an Treppchen, wie sie sich an den Gestaden unserer hemischen Seen finden, auf welchen man zur harrenden Barke hinabsteigt, aber wo eine Barke gleiten soll, da muß doch vor allem Wasser fließen. Die Fische, welche sich um diesen Fels tummelten, müßten eigentümlich beschaffen gewesen sein; jedenfalls hätten wir sie uns mehr in der Art leicht beschwingter Schwalben vorzustellen, deren munteres Gezwitscher dort aus der Schlucht herauf tönt, worin sie seit ewigen Zeiten Nester bauen.“
In sein heiteres Lachen stimmten auch die beiden andern ein.
In verhältnismäßiger Eintönigkeit floß das Leben der Kastellbewohner dahin. Ab und zu tauchte, mit seinen Berichten aus nah und fern willkommene Abwechslung bringend, ein gallischer oder italischer Hausierer auf. Mitte Mai erschien abermals ein solcher Ankömmling, ein zungenfertiger Mediolaner namens Severus. Jeder der beiden Gatten schien eine Heimlichkeit mit diesem Fremdling zu haben, denn jeder nahm ihn beiseite zu eindringlichem Gespräche und zu wichtigem Auftrage. Er hatte Verschwiegenheit gelobt und geschworen das Bestellte zu liefern, sobald der regelmässig verkehrende kaiserliche Bote in seinem Karren den nötigen Platz zur Beförderung gewähren würde. Aber es dauerte bis eine Woche vor der Sommer-Sonnenwende, ehe von Tarodunum die Ankunft des Kuriers gemeldet und daraufhin die für unser Kastell bestimmte Sendung abgeholt werden konnte. Früh am nächsten Morgen begab sich Marcellus mit seinem Päckchen in Begleitung einiger Gartenknechte ins Freie, wo er Lavinia bereits antraf.
“Heute will ich Dir ein Beispiel meiner Gartenkunst geben,“ bemerkte er mit wichtiger Miene und entrollte der Umhüllung ein halbes Dutzend dürr aussehenden fingerdicker Ruthen, deren jede einzeln den Wurzelballen in einem kleinen Korbgeflecht verwahrt trug. „Severus bürgt mir dafür, dass diese so hergerichteten Reben schon im nächsten Jahre Früchte tragen werden. Sie müssen nun vor der Sommer-Sonnwende an eine nach Norden zu geschützte, alle Sonne aufnehmende Stelle, am besten an eine Mauer gepflanzt und der Stamm im Winter durch vorsichtige Bedeckung gegen Frost geschützt werden. Da vermöchte man denn keinen günstigeren Platz zu wählen als die Südseite unseres Turmes, da wo er mit unserem Hause den Winkel bildet. Wenn ich auch kaum glaube und wünsche lange genug hier im Kastell verweilen zu müssen, um unsern selbstgekelterten Wein zu trinken, so dürften doch die Früchte eine angenehme Zugabe zu den Genüssen der Tafel bilden“
„Aber glaubst Du wirklich dem Worte des geriebenen Mediolaners,“ warf hier Richwin ein, der herzugetreten war, „hast Du nicht beachtet, dass es bei uns hier oben weit rauher ist als auf dem warmen Boden von Brisaccum, wo allerdings Obst gedeiht? Freilich, Severus versteht es seine Ware an den Mann zu bringen.“
„Nun wir werden ja sehen, und der Versuch kann keinesfalls schaden,“ brach der Centurio etwas gekränkt die Unterhaltung ab. –„Was hat denn Dir der Kaiserbote mitgebracht? wohl irgend welche neue Modetorheiten?“ wandte er sich lächelnd zu Lavinia.
„Ja und nein,“ erwiderte sie; „aber Du weißt, dass ich mit Ergänzung meiner Sommergewandung etwas zurückgeblieben bin und dass es die höchste Zeit wurde, den Mangel zu beseitigen.“
„Nun, nun, es ist mir nichts dergleichen an Dir aufgefallen, ich meine vielmehr, Du habest immer recht schmuck ausgeschaut,“ antwortete er in gleichem Tone wie zuvor.
So rückte das Fest der Sonnenwende heran. Die Eingeborenen pflegten es immer mit besonderen Feierlichkeiten und unter Wahrnehmung gewisser Gebräuche zu begehen. Einer derselben bestand in Darbringung kleiner Geschenke an die Stammeshäuptlinge, seit der römischen Herrschaft auch wohl an die Befehlshaber der Festungen. Aus solchen freiwilligen Gaben entwickelten sich mit der Zeit die Abgaben, eine Einrichtung, in deren Ausbildung und Ausnützung unsere modernen Steuerkünstler ja unerschöpflich sind. Im wesentlichen bestanden die Darbietungen aus Frühgewächsen des Gartens und Feldes, in Eiern, Hausgeflügel, auch wohl Krametsvögeln, Wachteln und anderem kleinen Getier welches man in Netzen fing. Obwohl Marcellus diesen Gebrauch kannte, so fühlte er sich doch überrascht, dass man auch ihn in seinem entlegenen Winkel bedachte; er meinte dies seiner Beliebtheit bei den Umwohnern und seiner Kenntnis ihrer Sprache zuschreiben zu sollen.
Unter einer der großen Buche im Burghof empfing der Centurio die Träger der verschiedenen Geschenke und nickte Richwin der von ferne zusah, munter zu.
„Was sagst Du zu dieser Bescheerung? Beweist sie nicht, dass man sich mit unserer Herrschaft mehr und mehr befreundet? Würde man uns sonst Aufmerksamkeiten erzeigen, wie sie für gewöhnlich nur unter Stammesgenossen gebräuchlich sind? schade, dass Lavinia verhindert ist, diese sinnige Huldigung mit anzusehen, sie, die für dergleichen so regen Sinn besitzt“
Richwin zuckte nur Bedeutungsvoll die Achseln und rief auf lateinisch zurück „Sei auf Deiner Hut,“ welche Warnung jedoch nur einem ungläubigen Kopfschütteln von seiten des Centurio begegnete.
Richwin aber machte sich unauffällig in dessen Nähe zu schaffen, indem er dabei jeden Herantretenden genau beobachtete. Zumeist erwiesen sie sich als gleichmütige Hörige, an ihren ganzen Äußeren dem gedrungenen Wuchse, der dunkeln Haut und Haarfarbe, dem kurzgeschorenen Haar auf runden Schädeln leicht erkennbar. Manchen Gabenträgern schritten auch ihre alemannischen Herren voraus; sie benützten diese Gelegenheit, das neue Kastell einmal von innen zu betrachten und offenbarten dabei eine Art kindlicher Neugier. Ohne Auffälligkeit verstand es Richwin jedoch immer wieder, sie von allzu vielem Umschauen abzubringen, dadurch dass er sie in Gespräche verwickelte und dafür sorgte, dass sie möglichst bald wieder zum Tore hinaus gelangten. Nur ein hochgewachsener älterer Mann mit bräunlichem Haar und Bartwuchs vereitelte seine Absichten. In Begleitung zweier anderer Freien war er gekommen, und während diese Marcellus und Richwin ansprachen, nützte er die Zeit, seine Augen eingehend im ganzen Hofraum umher laufen zu lassen. Er wußte an die Brustwehr heran zu gelangen, sich hier genau umzuschauen und nach allen Seiten zu spähen, ehe Richwin ihn wegzudrängen vermochte.
„Wer bist eigentlich Du?“ redete er ihn an, „ich kenne doch all’ die Freien, die heute hier eingekehrt, nur Dich nicht, und doch erscheinst Du mir nicht fremd; allein mich dünkt, es war an einem anderen Orte, wo ich Dich zuletzt sah.“
„Ich entsinne mich Deiner nicht,“ gab der Alemanne mit einem stechenden, beinahe feindlichen Blick zurück. „Mein Name lautet Ortwin, ich hause seit einigen Tagen drunten beim alten Ludegar, dessen Weib zu meiner Sippe gehört und in dessen Verhinderung ich komme; doch scheint es,“ dies klang beinahe höhnisch, „dass hier nur solche Leute wohlgelitten sind, die mit der Sprache auch ihr Volkstum mehr oder weniger abgelegt haben.“
„Was willst Du damit sagen?“ fuhr Richwin heraus, dem die Zornesröte auf die Stirne stieg, da er wohl merkte, gegen wen sich die Spitze der Rede richtete.
“Oho, nicht so heftig, junger Kampfhahn“ lautete die Antwort; „ich meinte nur, man käme mit den Herren hier besser zuwege, wenn man ihre Sprache redete; dazu bleibt meine Zunge aber zu ungefügig. Man muß schon in jungen Jahren mit der Erlernung begonnen haben und es mag ja sein, dass mit den Redewendungen auch unwillkürlich manch welsche Gepflogenheit sich bei einem festsetzen. Das soll beileib kein Vorwurf sein,“ fügte er rasch hinzu, als er bemerkte, wie Richwin wieder aufbrausen wollte. Um indes alle weiteren Erörterungen zu vermeiden, zog der Fremde sich rasch zurück.
Richwin blickte dem Davoneilenden noch lange nach und umschritt als dieser seinen Augen entschwunden die Umwallung. Er meinte bald daraus Ortwins hohe Gestalt zwischen den Bäumen des dem Burgberg gegenüberliegenden Hügels schleichen zu sehen, den Blick immer auf eine bestimmte Stelle der Außenbefestigung gerichtet, gleichsam um dasjenige, was er innerhalb ermittelt, mit seinen jetzigen Wahrnehmungen zu vergleichen.
Mittlerweile hatte sich zwischen Marcellus und dem letzten Ankömmling folgendes zugetragen. Ganz allein nahte dieser, ein kaum dem Knabenalter entwachsener Jüngling von schlanker Gestalt und edlem Wesen, dem die hellblonden Locken tief über die braunen Augen herein hingen, diese und die merkwürdigen dunklen Brauen beschattend. Dieser Gegensatz zu dem lichten Haar, verlieh den sehr regelmäßigen Zügen einen eigentümlichen, anziehenden Ausdruck. Des Jünglings zierliches Körbchen enthielt feines Obst, große, schwarze Herzkirschen, Pflaumen, Sommerbirnen, ja sogar einige Frühtrauben.
„Die Trauben sind aber sicherlich nicht auf eigenen Grund und Boden gewachsen,“ scherzte Marcellus.
“Freilich nicht auf dem eigenen, aber ich sollte denken, dass die Gabe Dir trotzdem willkommen sei, stammt sie doch von deutschem Boden und vor allein aus redlichem Herzen,” lautete aus gut alemannisch die Antwort. ,,Oder willst Du dem Genusse von Weintrauben, vielleicht auch gar von Wein solange entsagen, bis die Ruten, die Du da am Wartturm gepflanzt hast, Früchte tragen?”
Verblüfft schaute der Centurio den schelmisch blickenden Sprecher an, den er seines Wissens noch niemals gesehen, der aber gleichwohl aus eine Begebenheit anspielte die sich doch nur in engsten Kreise zugetragen hatte. Noch verblüffter erschien er indes, als der Alemannenjüngling ihm laut ins Gesicht lachte, vor Freude die Hände zusammen schlug und in reinstem Latein ausrief
“Willst Du mich denn gar nicht eiskennen?”
“Du bist’s, die sich unter diesem blonden Haargewirr verbirgt,” riefen Marcellus und der herangetretene Richwin beinah gleichzeitig, in Lavinas Heiterkeit einstimmend, als sie diese in der Verkleidung erkannt hatten.
“Das war der Sommerstaat, den mir Severus besorgte,” antwortete sie, “und ich sehe, dass ich im Notfall einen ganz guten Alemannen abgeben kann”
,,Unbedingt, im Äußeren sowohl als in der Sprache, und zwar einen, vor dem man sich hüten muß,” scherzte der Gatte. “Was hast Du für Auseinandersetzungen mit dem Alten gehabt?“ wandte er sich ernster werdend an Richwin.
“Er äußerte gar zu lebhaften Wissensdrang betreffs unserer Befestigungen, als dass ich ihn für einen gewöhnlichen Bauern hätte halten sollen; ich meine auch, ihm schon irgendwo in gebietender Stellung begegnet zu sein,” erwiderte Richwin sehr ernst. “Ich muß deshalb suchen, der Sache auf den Grund zu kommen, jedenfalls war es gut, dass ich ihn verhinderte, sich noch länger hier herum zu treiben.”
Zuweilen bei den Menschen, häufig bei den Gebirgen bezeichnet Kahlheit der Kuppe hervorragende Bedeutung, gegenüber den ganz alltäglich mit Baumwuchs überzogenen geringeren Höhen. Aber oft ist die Entstehung solcher Blößen nicht auf das Wirken von Naturkräften allein zurückzuführen, nein, gar manchmal hat Menschenhand nachgeholfen. Auf luftiger Höhe, unter ganz freiem Himmel vollzog sich die Gottesverehrung unsrer die Gebirge bewohnenden Vorfahren. In weitem Kreise umstanden sie die den Gipfel krönenden gewaltigen Opfersteine, deren Rinnen häufig genug nicht nur von Tier- sondern auch von Menschenblut dampften. Da durften denn keine Bäume sich zwischen Opferhandlung und Zuschauer schieben. In Zeiten der Kriegsgefahr flüchtete man mit Hab und Gut hier herauf, um sich hinter Wagenburgen oder steinernen Ringwällen in Sicherheit zu bringen. An gewissen Tagen des Jahres pflegte man regelmäßig im Gefolge der Blutopfer Feste zu feiern, Schmausereien, wobei man die Opfertiere an riesigen Feuern briet; leider lassen neuere Forschungen die Annahme zu, dass es in den ältesten Zeiten nicht immer beim Verspeisen der Tiere blieb. Auch in den Nächten der Sonnenwende - die christlichen Priester verstanden es geschickt, diese wichtigen Zeitpunkte ihren Zwecken dienstbar zu machen durch Umwandlung in Gedächtnistage der Geburt Christi und Johannes des Täufers - vollzogen sich solche Feiern. Großmächtige Feuer wurden unter allerhand seltsamen Zeremonien im Ringelreigen umtanzt, wobei die Tänzer sich mit Kuhhäuten zu umhüllen pflegten, die Hörner auf dem Kopfe befestigt, den Schweif frei hängend. Wenn man die dunklen Gestalten in ihrem fantastischen Aufzuge sich so gegen den lodernden Lichtschein herum springend denkt, kann man sich erklären, woher die Heidenapostle die Beschreibung ihrer menschenbratenden Teufel entlehnten und warum sie deren Hauptquartier im Harze auf den Blocksberg legten.
Die diesmalige Feier erweckte den Eindruck einer außergewöhnlich großartigen Veranstaltung. Überall rundum, auf dem Feldberg, dem Schauinsland, Kybfelsen, Thurner, Kandel und vor allem auf dem den Pferdeopfern seinen Namen verdankenden Roßkopf, wie auf vielen anderen Gipfeln erstrahlten hell lodernde Feuer, umtanzt von den schwarzen Teufeln. Aber auch drüben auf dem Kaiserstuhl und dem sich dahinter herziehenden Wasgenwald flammte Feuerschein auf. Lavinia, die dieses Schauspiel zum ersten Mal erlebte, äußerte Richwin gegenüber ihre lebhafte Freude an der prachtvollen Erscheinung. Der aber war sehr einsilbig geworden, und aus ihr befremdetes Befragen hin entgegnete er
“Mir erregen diese Feuer, so sehr ich auch an und für sich die alte Sitte liebe, keine Freude, sondern tiefe Sorgen. In solcher Menge und Ausdehnung wie heute sah ich die Flammenzeichen noch nie. Um solch mächtige Feuer zu richten und zu schüren, auf so zahlreichen Höhepunkten, bedarf es einer gewaltigen Anzahl Leute, jedenfalls weit mehr als in unsrer eher etwas dünn bevölkerten Gegend hausen. Du darfst nicht vergessen, dass zu diesen Festen die Hörigen nicht zugelassen sind, sondern nach alemannischem Brauch nur solche, die sich zu unserem Stamme zählen.”
“Wie erklärst Du Dir dann den Zusammenhang der Sache“ warf Marcellus ein.
“Nur eine Erklärung finde ich, dass auswärtige Stammesgenossen in mächtiger Anzahl hier zusammen geströmt sind, unbemerkt von unsern Spähern. Dass sie aber nicht gekommen sind, nur um, wie es heißt, die heuer stattfindende hundertjährige Begehung des Festes in den jetzigen Sitzen unsres Volksstammes zu feiern, sondern dass sie andere Absichten damit verbinden, und dass die Zeichen “allseitige Bereitschaft“ bedeuten, das will mir nur zu wahrscheinlich dünken, zumal wenn ich mir die verdächtige Erscheinung Ortwins - wie er zu heißen vorgab - damit zusammen reime. Seien wir also auf unserer Hut und Warnen wir auch die Besatzung von Tarodunum.”
So geschah es. Während der nächsten Woche verdoppelte man die Wachsamkeit, die Truppen mußten sich stündlich ablösen, vor allem aber nachts sorgfältigen Auslug halten. Doch nichts Verdächtiges ereignete sich. Auch von den Spähern, die man nach allen Richtringen aussandte, um zu erkunden, ob alemannische Volksmassen in der Nachbarschaft oder jenseits der Grenze weilten, oder ob sonst bedrohliche Anzeichen vorlägen, kehrten alle bis auf einen unverrichteter Dinge zurück; jener eine aber mochte ein Opfer seines gefahrvollen Berufs geworden sein, denn er blieb gänzlich aus. Eine Tatsache jedoch hatte Richwin ermittelt, dass nämlich jener angebliche Ortwin aus dem Hofe Ludegars weder gewesen, noch diesem oder seinen damaligen Begleitern überhaupt bekannt war. Das allein genügte freilich nicht als Grund, um die Truppen dauernd in übermäßiger Weise anzustrengen, und man wollte schon beginnen, die anscheinend übertriebene Wachsamkeit wieder einzuschränken, als sich etwas ereignete, was die Richtigkeit von Richwins Argwohn nur zu sehr bestätigte.
Wie immer seither pflegte er in den Wäldern umher zu streifen, in erster Reihe zur Kundschaft, nebenbei aber auch zur Erbeutung von Wildpret oder allerhand Getier, welches man zur Ergötzlichkeit lebend in einem für solche Zwecke angelegten Zwinger hielt. Heute endlich war es Richwin geglückt das schon lange gesuchte Nest einer höchst seltenen schneeweißen Weihe hoch im Wipfel einer riesigen Tanne zu entdecken. Behende erklomm er diese und schickte sich gerade an, eines der nahezu flüggen Jungen zu erhaschen, als er tief unter sich das Knacken von Zweigen hörte. Gewohnt, sein Augenmerk jederzeit auch auf das im geringsten Auffällige in Walde zu lenken, blickte er hinab und gewahrte zwei fremde Alemannen herannahen und bei einer kleinen Lichtung Halt machen. In einem derselben erkannte er Ortwin. Nun galt Richwins Aufmerksamkeit nicht mehr den jungen Weihen da oben, wohl aber dem gefährlichen Adler dort unten. Dass es sich um einen solchen handelte, und zwar um einen, der im Begriffe stand, auf seine Beute herab zu stoßen, das erfasste Richwin im gleichen Augenblick, als er jenen durch seinen Begleiter mit “Gundomar” anreden hörte. Wie ein Blitz schoß ihm dieser Name durch den Kopf, zugleich mit der daran haftenden Erinnerung.
Herzog Gundomar galt als einer der unruhigsten, rauflustigsten und unternehmendsten Alemannenführer in dem noch nicht unterjochten Teile Germaniens. Jedwede sich bietende Gelegenheit erfaßte er, um die verhaßten Römer anzugreifen, und manche ihrer Siedelungen wußte davon zu erzählen, wie sein Schwert und Feuer in ihr gehaust. Aus Gundomars Sippe stammte Richwins Mutter und gelegentlich eines “Geschlechtertages” war dieser mit anderen Knaben dem Stolze der Sippe, dem Herzoge, vorgestellt worden. Unauslöschlich hatte sich das Bild von dessen ausdrucksvollem Kopfe bei Richwin eingeprägt, so flüchtig auch die Begegnung gewesen war. Allein Gundomars Verkleidung im Verein mit den Veränderungen, wie sie ein Jahrzehnt mit sich bringt, hatten bei ihrem neulichen Zusammentreffen ein Wiedererkennen verhindert.
Lautlos glitt Richwin an dem glatten Stamme hinab, bis zu einem der untersten Äste, dessen dichte Zweige ihn genügend verbargen, ohne ihm jedoch die Möglichkeit der Belauschung des Gesprächs der beiden Alemannen zu entziehen. Von ihrem Standorte aus genoß man eine vollkommene Übersicht über das Kastell, wenn auch bei der Entfernung manche Einzelheiten sich dem Beschauer entzogen. Gleichwohl wußte Gundomar seinem Begleiter den schwachen Punkt der Befestigung - den sein Scharfblick von allem Anfang an wahrgenommen - zu bezeichnen. Aus dem Gespräche ergab sich, dass es sich um nichts Geringeres handelte, als um einen in den allernächsten Tagen vorzunehmenden Überfall des Kastells, ja, wenn Richwin recht verstand, sogar auch der Stadt Tarodunum. Wo in aller Welt mochte Gundomar aber für ein solches Unternehmen die nötigen Mannschaften bereit halten? Dass freilich ein so erfahrener Heerführer wie Gundomar sich genügend würde vorgesehen haben, davon fühlte sich Richwin überzeugt.
Als Gundomar und sein Genosse sich wieder ausser Seh- und Hörweite befanden, sprang Richwin aus seinem Versteck herunter, und eilte so rasch als ihn die Füße trugen zum Kastell zurück, um seinen beunruhigenden Bericht zu erstatten und dessen sofortige Meldung auch nach der Stadt zu betreiben. Auf seine Veranlassung hin wurde dann der von Gundomar ausgefundene schwache Punkt in der Befestigung so gut es eben anging verstärkt, wenn damit auch die von der Natur geschaffene Unvollkommenheit nicht beseitigt wurde. Jene Schwäche beruhte in der Gestaltung des Bodens. Während der das Kastell tragende Hügel ringsum frei stand, war von dem östlich aufsteigenden Berge an einer schmalen Stelle eine Felsklippe so weit vorgeschoben, dass deren Abstand von der Jenseite nur etwa sechs bis sieben Klafter betrug. Trotz der beträchtlichem Tiefe der Schlucht mußte man mit der Möglichkeit einer hier vorzunehmenden Ausfüllung und Überbrückung rechnen. An Material zur Ausführung derartiger Absichten gebrach es ja in dem holzreichen Walde nicht, wenngleich die Herbeischaffung viele Arbeitskräfte und Zeit erforderte. Mit dieser Erschwerung hatte man bei Anlage der Befestigungen wohl gerechnet, ohne es indes an Versuchen fehlen zu lassen, die Kluft hier zu erweitern. Die Härte des Gesteins setzte jedoch den Sprengarbeiten solchen Widerstand entgegen, dass man vorzog, sie bis zur Herbeischaffung geeigneterer Brechwerkzeuge zu verschieben.
Dass Richwin nur zu richtig verstanden, zeigte sich schon am nächsten Tag, an welchem man zahlreiche Alemannenscharen vom Gebirge herunter kommen und Bienen gleich, die ihrem Stocke zuschwirren in die Nähe des Kastells ziehen sah. Nun fand sich auch eine Erklärung, warum man ihre Annäherung seither nicht bemerkt hatte. Sie pflegten zu größeren Beutezügen stets mit Mann und Maus, mit Weib und Kind, mit einer großen Anzahl Wagen und Troß auszurücken, kamen naturgemäß sehr langsam voran und konnten ihren Marsch nicht verbergen. Diesmal schienen sie jedoch alles zurückgelassen und es auf einen Handstreich gegen das Kastell abgesehen zu haben. Nachdem aber diese Absicht Dank der Wachsamkeit der Besatzung vereitelt worden, änderten die Alemannen ihren Plan. Sie beschlossen den Troß heran zu ziehen, weitere Aufgebote ergehen zu lassen und die Belagerung auch auf Tarodunum auszudehnen. Dies stimmte auch mit der von dieser Festung kommenden Mitteilung: die Alemannen stünden im Begriffe die Stadt vollständig zu umzingeln, man sei daher außerstande, dem Kastell die erbetene Verstärkung abzugeben. So mußte man sich denn hier vollständig auf die eigene Stärke verlassen, und Marcellus bedauerte nur, dass er nicht, einer ersten Eingebung folgend, Lavinia zuvor nach Tarodunum oder noch besser nach dem, wenn auch etwas entfernten, so doch vollkommen sicheren Brisaccum gebracht hatte.
Die Alemannen begannen nun eine regelrechte Belagerung und es wollte zuerst scheinen, als ob ihnen der Gedanke einer Überbrückung der “schwachen Stelle” fern läge oder als ob sie vielleicht vor der immerhin großen Schwierigkeit und Gefahr dieser Unternehmung zurückschreckten. An dem steilen Abhang empor klimmend, versuchten sie es, die unterste Palissadenreihe so gut es eben anging zu durchbrechen; allein weder Axthiebe noch Anlegen von Feuer erzielten Ergebnisse von Belang.
Nun wandte sich auf einmal die Taktik. Richwin brachte diesen Umschwung in Verbindung mit dem jetzt erfolgenden Auftauchen Gundomars, den er seither vergebens unter den Heerführern gesucht hatte. Der Herzog verbarg sich halb hinter einem Baume, trat aber hervor, als er Richwin erkannte, und rief ihm über den Graben zu:
“Der Fuchs wird jetzt im eignen Bau gefangen. Der Jäger sind zu viele, als dass er uns entschlüpfe. Wollt Ihr Euch gutwillig ergeben, so sollen Euch gute Abzugsbedingungen bewilligt werden, eingedenk unserer beider Gesippung. Merkst Du nun, was es heißt, gegen Deine eignen Volksgenossen gemeinsame Sache mit den Welschen zu machen, auch dass die von ihnen erlernten Künste Dich vor dem drohenden Untergange nicht zu bewahren vermögen!“
Die Alemannen kannten den Gebrauch des Bogens nicht oder verschmähten doch seine Anwendung. Sie bedienten sich in Fällen, wo sich der Gegner mit Streitaxt und Speer nicht erreichen ließ, kurzer Wurfspieße. Das Hauptgewicht legten sie aber auf das Handgemenge, wobei die Wucht des Angriffs und ihre gewaltige Körperstärke den Ausschlag gaben. Richwin hatte jedoch die Gelegenheit wahrgenommen sich in Führung des Bogens auszubilden, galt sogar als vorzüglicher Schütze und man hatte ihm deshalb die der Besatzung beigegebenen iberischen Bogenschützen unterstellt. Er trug seinen Bogen bei sich. Rasch erfasste er einen Pfeil, ließ die Bogensehne schwirren, und ehe Gundomar es sich versah, stak das Geschoß tief in dem sein Haupt bedeckenden gewaltigen Eberkopfe.
“Hier eine Probe meiner in Welschland erlernten Kunst. Es lag in meiner Macht, Dich auch um eine Spanne tiefer zu treffen, doch wollte ich Dich nur warnen, eingedenk unserer Gesippung. Eine Schar geübter Bogenschützen folgt meiner Führung; ihre Geschicklichkeit, der Mut der übrigen Besatzung und die Stärke unserer Befestigungen enthebt uns jeder Sorge um unsere Sicherheit. Aber folge Du meinem Rate: Ziehe Dich mit den Deinen zurück, dann sollst Du vor einem Rachezuge der Römer verschont bleiben, dem Du sonst nicht entgehen wirst.”
Aus der Entfernung, wohin Gundomar es für geraten gefunden hatte sich zurückzuziehen ertönte als Antwort ein schallendes Hohngelächter.
Bereits am folgenden Morgen erklangen aus dem Walde die Schläge vieler Äxte. Bald rollten und schleppten die Alemannen mächtige Stämme herbei und stürzten sie an der “schwachen Stelle” kunterbunt in die Schlucht, welche dadurch nach und nach sich aufzufüllen begann. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass die Belagerten diese Arbeiten nicht ruhig geschehen ließen, sondern von ihren Schußwaffen ausgiebigen Gelbrauch machten und manchen Krieger niederstreckten. Aber abgesehen davon, dass diese zahlreich wie die Ameisen immer wieder aus dem Boden empor zu wachsen schienen, wussten sie auch die Wirkung der Pfeile dadurch wesentlich abzuschwächen, dass sie hauptsächlich nachts arbeiteten und bei Tage sich gegenseitig durch Schilde schützten.
Die gefürchtete Überbrückung konnte sich also schon in den nächsten Tagen vollziehen. Wie sollte man dann noch verhindern, dass die Stürmenden in das Kastell eindrängen? Dazu hätte es vor allem einer weitaus größeren Truppenzahl bedurft als sie Marcellus zu Gebote stand. Wenn er auch sein Hauptaugenmerk auf die der Überbrückungsgefahr ausgesetzte Stelle richten mußte, so durfte er doch auch die übrige Umfriedigung nicht unverteidigt lassen, so wenig zugänglich sie auch erscheinen mochte. Einer solchen Übermacht von Feinden konnte eben manches gelingen, dessen sich eine geringere Anzahl niemals unterfangen durfte. Marcellus mußte also den Befestigungsgürtel in seiner ganzen Ausdehnung bewacht halten, und diese Zersplitterung seiner Streitkräfte barg die größte Gefahr. Verschiedene Versuche, die Bemühungen der Belagerer durch Inbrandsetzung der in der Schlucht angehäuften Stämme zu hintertreiben, misslang; ebenso wenig Erfolg brachten zahlreiche, bei Tage und bei Nacht ausgeführte Ausfälle. Die Wachsamkeit und Schlagfertigkeit der Alemannen vereitelten diese Wirkung, der Besatzung dagegen bereiteten sie manchen Verlust durch Tod und Gefangennahme. Bei dem letzten Ausfalle den Richwin mit seinen Iberern unternahm, wurden diese fast sämtlich gefangen, während er demselben Lose nur mit knapper Not entging.
Marcellus hielt mit Richwin Kriegsrat. Sie gewannen dabei die Überzeugung, dass sie in anbetracht der arg zusammengeschmolzenen Besatzung und bei der Unmöglichkeit eines Entsatzes von seiten Tarodunums, nicht imstande sein würden, das Kastell länger als höchstens noch einige Tage zu halten. Von Übergabe konnte keine Rede sein. Es blieb also nur ein letzter Ausweg, das heimliche Entweichen nach Tarodunum. Um diesen Fluchtversuch zu decken, sollten die Truppen in der Stadt zu einem gleichzeitigen Ausfalle veranlaßt werden. Als verhältnismäßig günstig erwies sich der Umstand, dass gerade an der Seite des Notausgangs die Bewachung durch die Alemannen schwach erschien, sodass man hoffen durfte, hier ohne erheblichen Widerstand ins Freie zu gelangen. Man beschloss keine Zeit zu verlieren, sondern gleich in der folgenden Nacht den Plan auszuführen. Richwin sollte mit einigen auserwählten Kriegern vorausziehen, die Gelegenheit erspähen, die allenfalls vorhandenen Wachen überrumpeln und niedermachen, sobald dies geschehen, sollte der Rest der Besatzung in ihrer Mitte auch Lavinia, nachrücken. Als Mitternacht vorüber, als die Lagerfeuer da außen teils dunkler brannten, teils ganz erloschen, schlich Richwin mit seinen Genossen durch den Notausgang hinab in den Graben und jenseits hinauf zu den feindlichen Reihen. Aber mit Schrecken gewahrte er den Irrtum über die vermeintlich schwache Bewachung, denn ein ununterbrochener Gürtel zog sich um die ganze Umwallung.
War Verrat geübt worden? Hatte Gundomar die mit Tarodunum gewechselten Signale erkannt, oder sonstwie die Absicht der Besatzung erraten? Hatte er vielleicht mit Vorbedacht den Anschein nachlassender Wachsamkeit erweckt, um die Eingeschlossenen heraus zu locken? Man durfte ihm solche Kriegslist schon zutrauen. Jedenfalls erschien es als reine Tollkühnheit heute auf Ausführung des Fluchtplanes zu beharren, da zweifellos das ganze Lager alsbald alarmiert werden und eine übermächtige Meute sich auf die kleine Schar der Abziehenden stürzen würde. Schweren Herzens musste man sich also entschließen, günstigere Gelegenheit abzuwarten und die Verteidigung des Kastells bis dahin fortzusetzen.
Mittlerweile beschleunigten die Alemannen ihre Überbrückungsarbeiten, ohne vorerst an weitere Angriffe zu denken. Jedenfalls beabsichtigten sie, sobald der Übergang geschaffen, gleichzeitig hier wie an anderen Stellen zu stürmen, auf diese Weise die kleine Besatzung nötigend, ihre Kräfte zu teilen. In dieser Voraussicht traf Marcellus seine Vorkehrungen. Nur scheinbar ließ er die äußere Verschanzung besetzt, in Wirklichkeit aber beabsichtigte er, sich vollständig auf die Verteidigung der inneren Linie zu beschränken, diese jedoch mit aller Hartnäckigkeit zu betreiben. Er rechnete darauf, dass die Angreifer ihre ganze Macht zum Sturme aufbieten, eine Bewachung der unteren Außenwerke aber außer acht lassen und der Besatzung damit die Flucht durch die Höhle ermöglichen würden.
Niemand war erstaunter als Gundomar als der Angriff, den er tatsächlich auf verschiedenen Seiten zugleich beginnen liess, solch geringen Widerstand fand, denn überall zogen sich die Verteidiger in die obere Umwallung zurück, nachdem nur wenige Pfeilschüsse und Speerwürfe gewechselt worden waren. Da freilich gestaltete sich der Kampf zu einem äußerst erbitterten, allein das bekannte Sprichwort “Viele Hunde sind des Hasen Tod” sollte sich auch hier bewahrheiten. Während den Angreifern immer neue Streitkräfte zur Verfügung standen, ermatteten allmählich die Belagerten, denen fast zu keiner Stunde des Tages wie der Nacht Ruhe gegönnt werden konnte, und deren sich völlige Mutlosigkeit bemächtigte, als es den Alemannen gelang, im Rücken der Verteidiger deren Häuser sowohl als die Obergeschosse des Wartturmes in Brand zu schießen.
Wie hatten sie dies ermöglicht trotz ihrer Unkenntnis des Bogens? sann Richwin als er fortstürzte, um für schleunige Löschung der Brände zu sorgen.
Da erscholl Gundomars Stimme, den Kampflärm übertönend: “Bin ich auch zu alt zur Erlernung der welschen Sprache, mache ich mir doch welsche Künste zu nutze durch diejenigen, so sie ausüben”.
Er hatte den gefangenen Jberern Schonung des Lebens zugesichert, wenn sie sich ihrer Bogen bedienten, um die Holzteile der Gebäude in Brand zu schießen; andernfalls sei ihnen sofortiger Tod gewiß. Einer fiel der Weigerung, seine früheren Genossen in solcher Weise zu bekämpfen, zum Opfer: ein Axthieb streckte ihn nieder. Die Überzeugungskraft dieses Verfahrens zerstreute die letzten Zweifel der übrigen; nicht länger verschlossen sie sich der Richtigkeit von Gundomars Darlegungen, dass doch auch sie unterjocht und nur widerwillig in dieses rauhe Klima getrieben worden seien, dass im Grunde die Römer ihre Feinde sowohl als diejenigen der Alemannen blieben.
Die von Richwin angeordneten Löschversuche erwiesen sich als nicht nachhaltig. Die Häuser mußte man völlig Preisgeben; auch aus dem Dache des Turmes schlugen die Flammen immer aufs neue und drohten, sich nach unten zu verbreiten. Richwin befahl darum einigen Söldnern zur Bewältigung des Feuers die brennenden Balken ganz zu entfernen, ja im Notfalle das Dach zu Opfern; dann eilte er wieder in die Reihen der Kämpfenden.
Aber was half es, dass er, dass Marcellus Wunder der Tapferkeit verrichteten, dass jeder Einzelne der Besatzung wie ein Löwe kämpfte, gegenüber solcher Übermacht! Allerwärts durchbrachen die Alemannen die Umzäunung, fluteten in den Hof und nötigten die Führer mit dem kleinen Häuflein Überlebender letzte Zuflucht im Innern des Turmes zu suchen. Dessen feste Türe vermochte zwar dem Anpralle der Feinde tüchtigen Widerstand zu leisten; allein, würde derselbe wohl bis zum Einbruche der Dunkelheit aufrecht zu erhalten sein, in deren Schleier man die Flucht zu ergreifen gedachte? Nach dem arg gefährdeten Tarodunum durfte man sich nicht wenden; ebensowenig nach Norden und Osten, wo die aufrührerischen Eingeborenen hausten. Es blieb also nur die Wahl, eine südöstliche Richtung einzuschlagen, um als nächste römische Ansiedelung Civitas villaruni (das heutige Badenweiler) zu gewinnen. Freilich stellten sich der Ausführung dieses Planes schier unüberwindliche Hindernisse entgegen. Galt es doch, sich durch eine rauhe, pfadlose Urwaldwildnis durchzuschlagen, tagelang über steile Hänge und Felsen zu klettern, tosende Wildbäche zu überschreiten, am schlüpfrigen Rande graußer Abgründe entlang zu wandern, beständig vom Tode in den manigfaltigsten Gestalten umlauert, sei es durch Erschöpfung, sei es durch Nahrungsmangel oder durch Angriffe der zahlreich umherstreifenden reißenden Tiere.
Erschien dieser Fluchtweg schon für die in Kampf und Mühseligkeiten erprobten Männer als kaum durchführbar, wie sollte Lavinia sich der Aufgabe gewachsen zeigen? Wenn auch beiden Kampfgenossen diese Frage auf den Lippen schwebte, so hüteten sie sich doch, sie auszusprechen. Blieb ihnen denn eine andere Wahl als jener Schritt der Verzweiflung? Mußten sie ihn nicht, trotz seiner Schrecknisse und Gefahren, dem Schicksale, in die Hände der erbitterten Feinde zu fallen, vorziehen?
Lavinia hatte, um auf alle Fälle gerüstet zu sein, ihren Knabenanzug angelegt und beim beginnenden Brande der Gebäude sich in der Höhle geborgen, wo sie in ängstlicher Spannung der Entwicklung der Dinge harrte.
Den wüsten Kriegslärm rund um und über sich toben zu hören, das Ächzen und Stöhnen der Verwundeten zu vernehmen, durch Spalten in der Decke Feuerschein und Qualm zu gewahren und dennoch keine genaue Kunde der Vorgänge zu besitzen, das brachte sie der Verzweiflung nahe. So trübselig daher die Berichte lauteten, welche ihr Gatte, eine Pause im Gefecht benützend, ihr brachte, so erschienen sie ihr doch wie Erlösung gegenüber der Pein der Ungewißheit. Sie schwankte keinen Augenblick im Entschlusse zwischen Flucht und Übergabe, selbst für den allerdings wenig aussichtsvollen Fall der Erlangung gewisser Zugeständnisse seitens der Eroberer.
Doch sollte es zu dergleichen Erwägungen nicht kommen. Ein ohrenbetäubendes Freudengeschrei und ein selbst in die dunkelsten Winkel der Höhle dringender grellroter Feuerschein belehrte die Gatten, dass Tarodunum in die Hände der Barbaren gefallen und in Brand gesetzt sei. Damit schwand auch der letzte Funke der Möglichkeit eines Entsatzes, während der erzielte Erfolg den Eifer der Belagerer des Turmes neu entfachte. Da der angewandte Sturmbock den Widerstand der festgefügten, durch Verstrebungen verstärkten Türe nicht rasch genug brechen wollte, so nahmen sie ihre Zuflucht zum Feuer. Nur zu rasch erreichten sie hiermit ihre Absicht, denn bald leckte eine helle Flamme an der Türe hinauf, die dem erneuten Anpralle des Sturmbocks nicht länger zu widerstehen vermochte und krachend zusammen brach. Zugleich strömte unter lautem Freudengeheul eine Schar Alemannen herein, wuchtige Streiche austeilend und empfangend, sodass bald eine Haufe Leichen den Eingang neuerdings versperrte. Einzig Marcellus und Richwin waren von den Belagerten am Leben geblieben, beide verwundet, ersterer schwer. Seinen Zustand erkennend und nur noch auf Lavinias Rettung bedacht, rief er dem Genossen zu:
“Entfliehe, Freund, eh’ es zu spät, und rette Lavinia! Meine Uhr läuft ab. Ich vermag nicht, Euch zu folgen. Laß mich die letzte Kraft nützen, den Rückzug Euch zu decken. Schon naht der Wölfe Schar aufs neue . . . Grüß’ mein teures Weib; ich weiß ihr Los in guten Händen. Leb wohl! . . ·”
Er winkte Richwin schmerzlich lächelnd zu, stützte seine wankende Gestalt mit der Linken gegen die Wand und hob die Rechte zum Streiche gegen den ersten, der versuchen würde, nach Entfernung der den Zugang hemmenden Toten, einzudringen. Richwin wollte ihn gewaltsam wegziehen, doch wehrte der Römer sanft, aber entschieden ab, auf sein in Strömen aus - einer Brustwunde fließendes Blut deutend.
“Dann sterbe ich mit Dir” rief Richwin.
“Und läßt Lavinia in solcher Feinde Hände fallen? Geht” scholl es gebieterisch zurück.
Durch die von Leichen befreite Öffnung stürzten jetzt gleichzeitig zwei riesige Krieger herein. Der eine durchbohrte den schildlosen Marcellus mit seinem Spieße, fiel jedoch von dessen Schwert getroffen; den zweiten schlug Richwin nieder, ehe er zum Streiche ausholen konnte. Durch den eindringenden Luftstrom zu neuer Glut entfacht, loderte der brennende Dachstuhl zu heller Flamme auf. Mit Windeseile ergriff sie nun Treppe und untere Zwischenböden. Erstickender Qualm drang nach unten, alles verdunkelnd. Richwin fühlte instinktiv, dass es sich nur um Augenblicke handele, wollte er nicht elend zugrunde gehn, ohne Lavinias Rettung zu versuchen und damit Marcellus letzten Befehl zu erfüllen. Ein Blick auf den Centurio belehrte ihn, dass dieser ausgelitten habe. Im Schutze der herrschenden Dämmerung schwang Richwin sich unbemerkt auf den Treppenabsatz, öffnete und verschloß die Geheimtüre und verschwand. Im gleichen Augenblicke stürzte unter entsetzlichem Gepolter und Geprassel das Turmdach ein, schlug Böden und Treppen durch und begrub, ein gewaltiger Scheiterhaufen, alle die da unten als Freund und Feind gekämpft. Von der sich entwickelnden Glut barsten die Mauern. Sie stürzten nach innen und außen zusammen, bis nur noch etwa ein Stockwerk stehn blieb, Quaderblöcke von solcher Mächtigkeit, dass ihnen das Feuer nichts anhaben konnte.
Und so stand das rauchgeschwärzte finstere Gemäuer durch die Jahrhunderte hindurch als Zeichen des Bruches der Römerherrschaft, welche sich in diesem Gebiete nie mehr dauernd festzusetzen vermochte . . .
Selbst die rauhen Alemannenkrieger standen erstarrt als sie die Wirkung des Feuers gewahrten, als der riesige Grabkegel sich über den letzten Insassen des Turmes wölbte. Dass ein geheimer Ausgang bestand, dass zwei Überlebende sich im Schoße der Höhle bargen, war und blieb ihnen fremd. So konnte es diesen denn glücken, bei eingebrochener Dunkelheit die Flucht anzutreten Und sie unter unsäglichen Anstrengungen und Gefahren zu vollenden.
Römische Schriftsteller berichten von einem in hohen Ansehen gestandenen Riquinus, der als Befehlshaber der Festung Moguntia gestorben und ein Germane gewesen sei. Sie erzählen auch von seiner Gattin, einer Römerin aus edlem Geschlechte, noch in vorgerücktem Alter sich auszeichnend durch Schönheit von Antlitz wie Gestalt. 





Im Mittelalter.
Nahezu ein Jahrtausend hatten die Trümmer von Castrum vicinum unbeachtet gelegen. Dichtes Moos und Epheu überwucherte das Gestein; Sträuche und Bäume waren auf ihm gewachsen und hoch oben über allen Wipfeln schwankten im Winde zahlreiche Rebentriebe, einem Stocke entstammend, der selbst in schier Baumesdicke sich an dem Turme emporrankte und von da zur nächststehenden Fichte hinübergeklettert war. Wo unten im Tale der forellenreiche See geglitzert hatte, da weidete jetzt ein Schäfer seine Herde auf grünem Rasenteppich.
Den Herren von Falkenstein kam eines Tages der Gedanke, den günstig gelegenen Punkt für ihre eigenartigen Kulturzwecke auszunutzen. Die Falkensteiner saßen hoch oben am Hirschsprung auf ihrem Felsennest, das den Saumpfad durch das Höllental beherrschte. Diese Lage sich zunutze machend, betrieben sie mit recht günstigem Erfolge das Raubrittertum. Man fürchtete sie ob ihrer rücksichtslosen Gewalttätigkeit und mied, wenn es irgend anging, die Straße oder trachtete, sie nur unter ansehnlicher Bedeckung zu beschreiten, sonst hieß es eben: zahlen oder bluten.
Die Falkensteiner erwiesen sich als weitblickende Leute. Sie eilten ihrem finsteren Jahrhundert voraus, indem sie beschlossen, ihr edles Handwerk auf den Großbetrieb einzurichten. Was half es ihnen, ab und zu ein armselig Bäuerlein zu rupfen, einen Handwerksgesellen oder einen umherziehenden Hausierer? Sie wollten in die Lage kommen, größere, wertvollere Fische in ihrem Netze zu fangen. Sie wollten es vermeiden, sich um ihre gute Laune gebracht zu sehen, wenn sie wegen jedes lumpigen Einzelnen, der es garnicht lohnte, den immerhin weiten Weg von ihrer Burg herab unternnehmen oder gar gewahren mußten, daß die vorüberziehende Karawane unter so starker Bedeckung reiste, dass es wohl blutige Köpfe, aber kein Gold zu erlangen gab. Zur Vermeidung solch unliebsamer Enttäuschungen und zur zweckmässigen Ausnutzung ihrer bevorzugten Lage wurde nun der uns bekannte Hügel, dessen Name sich in Wiesneck verwandelt hatte, herangezogen.
Durch Wiederaufbau der Überreste des alten Römerturmes bis zu einer entsprechenden Höhe stellten sie eine Warte her, geeignet eine kleine Besatzung aufzunehmen, mit dem Zwecke, die von Freiburg heraufziehende Straße zu beobachten und durch verabredete Zeichen nach Falkenstein zu melden, wenn ein aussichtsreicher Fang sich herannahte. Sobald zurückgemeldet wurde, daß der Weg ordnungsgemäß verlegt und die Karawane genügend weit ins Höllental eingezogen sei, fiel der kleinen Besatzung die dankbare Aufgabe zu, den Reisenden in den Rücken zu fallen und so die Flucht zu vereiteln. Sage und Chronik strotzen von Berichten über die Erpressungen, ja Grausamkeiten, deren sich die Falkensteiner im Laufe der Zeit schuldig machten. Jedoch „der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht“; dies Sprichwort sollte sich auch an jenem trotzigen Geschlecht bewahrheiten.
Die Falkensteiner, obgleich vor keinem Totschlag in größerer oder geringerer Menge zurückschreckend, hatten es für ihren Großbetrieb ersprießlicher gefunden, ihre „Kunden“, wie sie die in ihre Gewalt Fallenden grausam-scherzhaft nannten, zu Gefangenen zu machen. Man schleppte dieselben hoch hinauf in die nur an einer schmalen Stelle mittels einer Zugbrücke zugängliche Burg Falkenstein. Einzig an dieser, der Bergseite, hatte man es für nötig erachtet, eine kleine Außenmauer aufzuführen; nach allen anderen Seiten fiel der freistehende Fels mehrere hundert Fuß senkrecht ab, jedem Angriff von dort aus spottend. Zunächst pflegte man den Gefangenen an eine bestimmte Stelle zu führen, von wo sich der Blick schwindelnd in der Tiefe verlor. Hier machte man ihm begreiflich, dass er die Freiheit durch Zahlung eines gewissen Lösegeldes erkaufen könne, dessen Höhe man je nach Ansehen der Persönlichkeit schätzte. Einen Knecht zur Bestellung der Botschaft an seine Angehörigen stelle man ihm gern und kostenfrei zur Verfügung. Kehre der Bote nach einer bestimmten Anzahl Tage überhaupt nicht oder doch unverrichteter Dinge zurück, oder verweigere der Gefangene die Zahlung eines Lösegeldes, so werde ihm, der ja selbst einsehen müsse, dass hier oben zur längeren Beherbergung von Gästen weder Raum noch Gelegenheit geboten, freilich nichts anderes übrig bleiben, als sich durch einen kleinen Sprung da hinab freiwillig zu entfernen. So fügte man zur schnöden Gewalttat noch Spott und Hohn. Gar mancher mußte den „freiwilligen“ Sprung in die Tiefe unternehmen, davon zeugten die da unten bleichenden Gebeine.
Zwei Hagestolze, wüste, rohe Gesellen hausten jetzt in dem Raubneste; ihrem erfinderischen Sinne entsprang jene fluchwürdige Gepflogenheit. Ihre einzige Schwester war fern von ihnen ausgewachsen, in ihren Kinderjahren zuerst im Kloster der Karmeliterinnen zu Freiburg, dann bei einer alten Muhme ebenda. Wie ein verwahrloster Rosenstrauch von Wildschossen überwuchert, nur kärgliche Blüten treibt, dann aber zu männiglich Verwunderung und Entzücken an einem Edelreislein eine Blume von unübertrefflicher Pracht hervorbringt, so auch hier. Adelgunde von Falkenstein war erblüht zu einem Jungfräulein, gar lieblich anzuschauen, reich an allen Ehren und Tugenden, in allem das Gegenteil der Brüder. Kein Wunder, dass jeder den reichen Freiburger Hausherrn Konrad von Bürklin beneidete, der sie als Gattin heimführen durfte.
Zu dem Hochzeitsfeste, das bei der Muhme ausgerüstet worden, waren auch die wilden Brüder erschienen; sie wußten ihre Rohheit unter glattem Wesen zu verbergen, und es schien, als seien sie dem neuen Schwager gar wohl gewogen. Dass ein weiterer Verkehr zwischen den Geschwistern gleichwohl unterblieb, dafür bestanden gute Gründe. Einmal herrschte auf Falkenstein meist Schmalhans als Küchenmeister (denn was der Raub eingebracht, das ging meist binnen kurzer Zeit in Saus und Braus darauf); dann aber durften die Falkensteiner sich auch nicht nach Freiburg getrauen, weil ihr Kerbholz, durch schlimme Taten gegen dasige Bürger, zu viele Schnitte aufwies. Zum Hochzeitsfeste hatte Bürklin ihnen freies Geleite erwirkt gehabt.
Nun traf es sich eines Tages, dass dieser eine Reise nach Neustadt zu unternehmen hatte. Er zögerte nicht, seinen Weg durchs Höllental zu lenken, glaubte er doch sicher, dass die Bande des Blutes ihn vor Gewalttat seitens der Falkensteiner schützen müßten. So ritt er denn ohne Bedeckung munter drauf los, ins Höllental hinein, fühlte sich aber doch unangenehm überrascht, als die Schwäger im Stahlharnisch ihm mit einem Trupp Reisiger just innerhalb der gefürchteten Burg den Weg verlegten.
„Hei,“ riefen sie ihm zu, "kommt der Herr Schwager endlich einmal uns heimzusuchen? Nur flugs mit hinauf in unser Nest, haben wir doch kürzlich einige Ohm guten Kaiserstühler erbeutet, der dem Herrn Schwager sicher munden wird.“
Widerwillig, aber der nicht eben allzu sanft angewendeten Gewalt gehorchend, ließ Bürklin sich mitziehen. Oben bewirteten ihn die Schwäger wirklich aufs beste. Der Kaiserstühler floß in Strömen und man befand sich bald in bester Stimmung. Als das Mahl geendet, äußerten die Falkensteiner, nun wollten sie dem Herrn Schwager auch einmal ihre schöne Aussicht zeigen. Damit führten sie ihn zu der vorerwähnten Felsplatte. Schwindelnd und mit Grauen einen Blick auf die unten zerschellten Schädel und Knochen werfend, wollte er rasch zurücktreten. Die Brüder nötigten ihn aber wieder nach vorn und der ältere rief:
„Scheint dem Herrn Konrad nicht zu gefallen, wird darum kein solcher Narr sein, die Reise hier hinunter fortsetzen zu wollen, wie so viele vor ihm, die freiwillig den Sprung getan, weil sie sich vom Gelde nicht trennen wollten, das wir so viel nötiger brauchten als jene. Auch heute ist unser Säckel leer und dem Herrn Schwager kommts gewiß nicht auf hundert Goldgülden als Zehrkosten an.“
Bürklin, wähnend, das aus jenen nur der Wein spreche, rief zurück:
,,Laßt’s gut sein mit Euren Späßen, die einem das Blut können gerinnen machen, die aber einen schlechten Nachtisch bilden zu der fröhlichen Mahlzeit. Dafür habt besten Dank, doch nun laßt mich meines Weges ziehn, damit ich mein Ziel noch vor der Dunkelheit erreichen kann.“
Doch bitterer Ernst scholl ihm aus der zweistimmigen Antwort entgegen:
„Kennt Ihr denn unser Sprüchlein nicht? So höret:
Sich beugen unserm Wegerecht
Muß jeder, sei es Herr, sei´s Knecht.
Da schützt nicht Alter noch Geschlecht;
Wer sich nicht löst, dem geht es schlecht,
Und hab`er auch mit uns gezecht!
Eine Nacht wollen wir Euch beherbergen, doch wenn bis zum zweiten Sonnenuntergang die hundert Goldgülden nicht in unseren Besitz gelangt sind, so werdet Ihr versuchen müssen, ob Ihr fliegen könnt.“
So belehrt, entschloß sich Bürklin gute Miene zum bösen Spiele machend, einen Zettel an seine Gattin zu schreiben, worin er sie beschwor, unverweilt ihm das Geld zu senden, da sie ja die Gewalttätigkeit ihrer Brüder zur Genüge kenne. Damit gaben sich die Falkensteiner zufrieden, entsandten den Boten und behandelten den Schwager auf ihre Art freundlich. Nun sollte aber besagtem Boten ein böses Mißgeschick widerfahren. Als er so auf der Straße dahin trabte, begegnete er einem Haufen Bauern, unter ihnen auch der Älteste von Kirchzarten. Der rief auf einmal:
„Seh’ ich recht, ist das nicht einer von den Schnapphähnen die mich vor einigen Wochen vollständig ausplünderten? Laßt uns ihn fassen und in sicheren Gewahrsam bringen!“
Da verfingen keine Ausflüchte und Beteuerungen seiner Unschuld, denn zu genau hatte der Älteste den rohen Kumpan erkannt, der auch nicht leugnen konnte, ein Falkensteiner Dienstmann zu sein. Das allein genügte schon, und so schleppte man ihn denn ins Gemeideverließ von Kirchzarten. Was half es ihm, seinen Zettel vorzuzeigen, beteuernd, er enthalte eine wichtige Botschaft und er müsse diese noch heute nach Freiburg in die Stadt bringen? Keiner von den Bauern konnte ja, ebensowenig wie der Knecht lesen! Als aber am nächsten Tage der Knecht immer wieder anhub, seine Botschaft betreffe wichtige Dinge, wobei es einem Menschen an Hals und Kragen gehe, da entschlossen sich die Bauern, einen der Ihrigen mit dem Zettel zu Bürklins Gattin zu senden.
Welches Entsetzen ergriff die arme Frau, als sie den zerknitterten Zettel entzifferte! War doch die Mittagsstunde längst vorüber, und wenn auch jemand in schärfster Gangart ritt, so konnte er doch kaum vor Einbrechen der Dunkelheit Falkenstein erreichen; Adelgunde kannte aber die Sinnesart ihrer Brüder nur zu genau, um nicht zu befürchten, dass sie die ausgestoßenen Drohungen ausführen würden, ohne Rücksichtnahme auf die Verwandtschaft mit Bürklin. So entschloß sie sich denn kurz, den schweren Gang selbst zu unternehmen, ließ flugs ihren Zelter satteln, nahm die geforderte Summe zu sich und hieß einen reisigen Knecht ihr folgen. Als sie trotz schärfsten Zureitens erst bei voller Dunkelheit die Burg erreichte und beim trüben Scheine einer Fackel über die Zugbrücke gesprengt war, frug sie den einen der herantretenden Brüder angsterfüllt nach dem Verbleib ihres Mannes. Hohnlächelnd lautete die Antwort:
„Hei, der konnte die Ankunft seiner Frau Liebsten nicht abwarten, er sprang ihr da vom Fels aus entgegen. Kannst ihn Dir ja da unten auflesen und mitnehmen; damit aber Dein Roß nicht zu schwer zu tragen habe, wollen wirs um die hundert Goldgülden erleichtern.“
Damit riß der Raubgeselle ihr den Beutel aus der Hand.
Die Ärmste stand sprachlos, regungslos, tränenlos. Ihr sonst so liebliches Antlitz verzerrte sich zur Unkenntlichkeit, und selbst jene hartgesottenen Sünder erbebten als ein wilder Aufschrei ihrem Munde entfuhr und als sie dann, die Schwurhand gen Himmel streckend, rief:
„Ihr blutdurstigen Wüteriche, Ihr Frevler an allem, was dem Menschen heilig, achtet Ihr sogar die Bande des Blutes nicht, denen selbst das Tier der Wildnis gehorcht? Wohlan auch ich zerreiße, was uns noch lose zusammenfesselte, was ich als schwere Schickung der Vorsehung empfand. Fremd stehe ich Euch gegenüber als Rächerin meines ruchlos gemordeten Gatten. Wehe! rufe ich über Euch; nicht werde ich rasten noch ruhen bis Ihr sein Schicksal geteilt!“ Gemeinsam mit dem treuen Knechte suchte und fand Adelgunde den zerschmetterten Leichnam ihres Gatten. Sie hoben ihn auf des Dieners Roß und zogen noch in der gleichen Nacht zurück gen Freiburg. Da legte Adelgunde die zerfetzte Gestalt auf dem Marktplatz nieder und verharrte dabei im Gebete. Als der Tag kaum graute, rief sie die ganze Bürgerschaft zusammen. Sie beschwor die Bürger und flehte sie an, solch himmelschreienden Frevel, wie er eben wieder einem ihrer Genossen angetan, nicht länger ungerochen zu lassen, sondern die Burg zu brechen, die Sünder zu bestrafen. Gar beweglich wußte sie zu bitten, gar überzeugend zu reden, und gerade dass sie gegen die eignen Brüder zeugte, das verfehlte nicht seinen Eindruck auf die Bürger und den Rat.
An gutem Willen fehlte es diesem nicht, wohl aber an Söldnern und an Geld solche zu werben. Doch als Adelgunde sich erbot, der Züchtigung der Missetäter ihr ganzes Vermögen zu Opfern, wenn man ihr nur deren Bestrafung überlassen wollte, da stimmte der Rat zu.
Für jedermann galt es als ausgemacht, daß man der Burg auf sonst übliche Weise nicht beikommen, sie wegen ihrer Unzugänglichkeit weder beschießen noch weniger berennen könne. Allein Adelgunde wußte Rat. Was einerseits die Stärke, das erwies sich anderseits als die Schwäche der Veste; der einzige schmale Zugang bildete zugleich auch den einzigen Weg zur Flucht wie zur Beschaffung von Nahrungsmitteln. Nur diese Stelle brauchte man tüchtig zu besetzen und unausgesetzt scharf zu bewachen. Darin tat Adelgunde sich allen zuvor, nicht tags nicht nachts wich sie von den hier ausgeworfenen Bollwerken und jeden Morgen, jeden Abend rief sie hinüber:
„Wollt Ihr Euch ergeben auf Gnad oder Ungnad?“
Und allemal scholls "Nein!“ zurück, doch täglich schwächer.
Längst war die letzte Brotrinde verzehrt, der letzte Becher Wein geleert. Endlich am 23. Tage klang ein mattes „Ja!“ herüber und die Zugbrücke rasselte nieder. Adelgunde rannte als erste in den Burghof.
Was da noch herumschlich, was nicht dem nagenden Hungertode einen Sprung vom Felsen vorgezogen hatte, das glich mehr Gespenstern als Menschen. „Hier seht Ihr mich wieder. Ihr Mörder!“ herrschte Adelgunde ihre vor Todesangst schlotternden Brüder an. „Ich habe Wort gehalten. Das Maß Eurer Sünden ist längst übervoll, das Leben habt Ihr zehnfach verwirkt. Wie Ihr andern getan, so geschehe jetzt auch Euch!“
Damit zerrte sie die beiden, keines Widerstandes Fähigen, an den Rand des Felsens. Zum ersten Mal mit Schaudern blickten die Frevler in die gähnende Tiefe; am eigenen Leibe erfuhren sie nun die Qualen, welche sie so vielen hier bereitet, die sie noch mit Spott und Hohn bedeckt hatten.
„Laß uns doch wenigstens ein Stoßgebet zum Himmel senden,“ jammerten sie.
„Nein, unbußfertig, wie Ihr allezeit gelebet, sollt Ihr zur Hölle fahren. Das Geschlecht der Falkensteiner verdient von der Erdoberfläche vertilgt zu werden,“ lautete Adelgundes Antwort.
Damit stieß sie erst den einen, dann den andern von der Felsplatte hinunter. Ein schriller Aufschrei, gleich darauf ein zweiter zerschnitt die Luft, gefolgt von zehnfachem Widerhall an den Wänden der Schlucht und dem schweren Aufschlagen der Körper unten im Grunde. Adelgunde murmelte ein kurzes Gebet, schlug das Kreuz und mit den Worten: „So fahre denn auch die letzte Falkensteinerin hin, Gott sei meiner armen Seele gnädig!“ stürzte auch sie sich in die Tiefe.
Die Burg wurde von Grund aus zerstört, und nur wenige Steine reden heute davon, daß sie einst bestanden. Achtlos wandern und fahren die Fremden auf der breiten Straße dahin, welche man im vorigen Jahrhundert unten in der Schlucht dicht an der mit einem zerfallenen Steinkreuze bezeichneten Blutstätte vorbeigeführt hat. Allein der Einheimische meidet die Stelle zur Nachtzeit. Treibt ihn aber die Notwendigkeit dennoch vorbei, so beschleunigt er seine Schritte und drängt sich an den äußeren Rand der Straße. Es soll da nicht geheuer sein . . . . .
Auch die Besatzung des alten Wartturms zu Wizinek, welche bei den Überfällen stets eine so wichtige Rolle gespielt hatte, entging ihrem Schicksale nicht. Zur Sühne ihrer Untaten wurde sie an den benachbarten Riesentannen aufgehängt, den Raubvögeln zum Fraße. Am Turme beschränkte man sich auf Zerstörung von Dach und Treppe; im übrigen überließ man der Zeit das Werk der Vernichtung.



Im Bauernkrieg.
So waren wieder Jahrhunderte ins Land gegangen während welcher die Reste des Wartturms nur ab und zu lichtscheuem Gesindel der Tier- wie Menschenwelt zum Unterschlupf dienten. Wieder war dichtes Buschwerk, hoher Baumwuchs da entstanden, wieder deckten Schlingpflanzen und Moos das Gestein. Hoch über alles hinaus schlangen sich an den bröckelnden Steinen zahlreiche Ranken der Reben, welche stets aufs neue wurzelten und trieben. Kaum, daß noch eine der erhaltenen Zinnen zwischen den Baumwipfeln hervorlugte, kaum, daß man vom Bestehen der Trümmer noch Kenntnis besaß .... , rnan mied das öde Gemäuer.
Die Freiherren von Thurner hatten ihren Landbesitz im oberen Ende des Dreisamtales allmählich bedeutend erweitert und es fügte sich, dass man für einen der jüngeren Sprossen eines Herrensitzes bedurfte, tunlichst inmitten der weiten neueren Ländereien liegend. Solcher Herrensitz mußte, weil das dem Namen nach wohl aufgehobene Faustrecht in Wirklichkeit noch fortbestand, gesichert gegen Zugriffe von Fehdelustigen stehen. Man hielt Umschau nach einem für dergleichen Zwecke geeigneten Punkte. Wenn auch etwas abseits gelegen, so schien doch keiner dafür besser geschaffen, als unser viel besprochener Hügel. Zu seinen Gunsten sprach auch das Vorhandensein der Reste des Wartturmes, die sich leicht zu einem geeigneten Belfried ausbauen ließen. Nachdem man zunächst zur Gewinnung eines klaren Überblicks die Bäume gefällt hatte, begaben sich die Herren Udo und Kuno von Thurner, Vater und Sohn, in Gesellschaft des Burgpfaffen, des Benediktinermönchs Kilian an Ort und Stelle, um die Gelegenheiten zu erkunden.
Während nun die Herren den ganzen Berg in weitem Umkreis umschritten, stieg Kilian hinauf zur Spitze des Hügels. Er hatte sich in seinen jungen Jahren genugsame Zeit in Welschland herumgetrieben, und es war ihm dabei gar manches über die bedeutende Vergangenheit und über das Kulturleben der alten Römer in grossen wie in kleinen Dingen offenbar geworden. So hatte er auch Kenntnis erlangt von deren Zügen nach Germanien und von ihren zahlreichen Ansiedelungen daselbst, u. a. im Breisgau. Gestützt auf Überlieferung und Sage forschte er ihren Spuren im Thurnerischen Gebiete mit Eifer nach, nicht ohne dabei dem Spotte Ritter Udos anheimzufallen. Diesem zum Trotze hatte Kilian das Gemäuer von Wiesneck längst als Reste eines römischen Wartturmes erklärt, allein der urwaldartige Zustand des Hügels hatte alle eingehenderen Forschungen vereitelt. Die nun vorgenommenen Lichtungen eröffneten aber Aussicht auf die ersehnten Aufschlüsse. Mit Kennerblick hatte denn Kilian alsbald in der regelmäßigen Abplattung des Bodens, trotz dessen Überwucherung mit Pflanzenwuchs, eine ehemalige Gartenanlage entdeckt. Eifrig suchte er weiter. Plötzlich stieß er einen hellen Freudenschrei aus und winkte die beiden Herren herbei.
„Nun was soll’s denn“ frug Udo etwas ungehalten, indem er auf den zu seinen Füßen kauernden Kilian blickte, der strahlenden Auges den Strunk einer armdicken Pflanze in Händen hielt.
„Es verlohnt sich schon, daß Ihr Euch hierher bemüht,“ erwiderte dieser, „schaut nur, was ich hier halte“.
Verächtlich die Achseln zuckend, erwiderte der Alte: „Nichts als einen dürren Ast.“
„Weit gefehlt,“ scholl es zurück, „nicht dürr ist er, noch welk, denn hier neben sprossen frische Augen heraus. Das ist nicht mehr und nicht weniger als eine edle Rebe, eine von dreien, die ich hier fand, fest im Boden gewurzelt und wohl schon manch Jahrhundert alt. Nur geringer Pflege und Nachhilfe wird’s bedürfen, und wir ziehen uns hier, wie die alten Römer, unseren eignen Wein.“
„Bleibt mir mit Euren alten Römern und ihren Reben vom Halse; ich habe nichts übrig für diese Weichlinge. Gingen sie doch, wie Kunos Magister im Kolleg erzählte, bei Gelagen in langen Schleppgewändern einher, Rosenkränze in’s Haar geschlungen, wie die Weiber, und tranken ihren Wein immer nur mit Wasser gemischt. Das ziemt sich keines Mannes.“
„Und doch verkennt Ihr die alten Römer, wie in mancher anderen, so auch in dieser Beziehung. Ohne ihr Zutun wäret Ihr überhaupt darauf angewiesen, gleich Euren Vorvorderen, Euch nur an Meth oder Bier zu erlaben. Die Freude eines guten Trunkes Wein aber müßtet Ihr missen. Die Römer haben uns den Weinbau hierher gebracht, und welch guter Tropfen dort unten am Schloßberg bei Freiburg und in den Rebengeländen des Kaiserstuhls wächst, das weiss niemand besser als Ihr, Herr Ritter. Und dann die Straße, auf der man von Freiburg herauf wandert, sie ruht auf römischer Unterlage, das wird Euch Junker Kuno bestätigen.“
Dieser nickte zustimmend.
„Aber ein Beispiel für der Römer Tüchtigkeit· steht ja noch weit näher, dicht neben Euch.“
Der Ritter schaute betroffen um sich.
„Hier der Turm, der Euch als Belfried dienen soll, verdankt seine Entstehung niemand anderem als den Römern.“
Der Ritter wollte ungläubig den Kopf schütteln, doch Kilian fuhr fort:
„Überzeugt Euch nur selbst; kennt Ihr eine Burg im ganzen Breisgau die solche Bauart zeigt? Wo findet Ihr Quader von solcher Mächtigkeit, wo einen Mörtel von solcher Festigkeit wie dieser hier? Könnt mir’s getrost glauben, ich kenne die Dinge, hab’ in meinen jungen Tagen genug dergleichen Bauwerk aus alter Zeit dort unten in Welschland gesehen.“
Udo wußte keinen triftigen Einwand und gab sich knurrend zufrieden.
Man entwarf nun den Plan zum Bau des neuen Herrensitzes und schritt alsbald zu dessen Verwirklichung. Wenn auch der alte Römerturm eine Hauptrolle darin spielte, so wurde doch die ganze Anlage in jeder Hinsicht verschieden von jener ersten entworfen. Von hölzernen Schutzwehren wollte die Kriegskunst schon längst nichts mehr wissen, namentlich seitdem Berthold Schwarz in der unfernen Karthause die mörderische Erfindung des Schießpulvers machte. Alle Umwallungen mit vielen Türmchen, mit Zinnen und bedeckten Gängen versehen, wurden in Stein ausgeführt, an dem ja kein Mangel herrschte. Zur Erhöhung des Hauptturmes selbst bediente man sich derjenigen Steine, die man im ehemaligen Hofraume zerstreut, sowie angehäuft im Innern des Turmes fand. Doch nur soweit, wie vordem die Falkensteiner, nämlich bis zum ehemaligen ersten Treppenabsatze hob man sie heraus, wie jene ohne Ahnung, daß die eigentliche Eingangstüre sich beträchtlich tiefer angebracht befand.
Zur Zeit, als die Falkensteiner ihr Augenmerk auf den Wartturm lenkten, war er durch niedergestützte Steine und Schutt innerlich bis zum ehemaligen ersten Stockwerke aufgefüllt gewesen; auch äußerlich reichte die auf solche Weise entstandene, zu einer festen Masse verwachsene Schicht bis nahe an ein daselbst angebrachtes Fenster. Die Falkensteiner hatten dieses ursprünglich für die Türe gehalten und auch als solche benutzt. Für den Thurnerschen Plan eignete sich aber die Anbringung des Eingangs besser auf der gegenüber liegenden Seite. Bei Gelegenheit des dafür erforderlichen Mauerdurchbruchs entdeckte man ganz zufällig die in der Wand befindliche Treppe zu der Höhle und hier den ins Freie führenden Notausgang. Der paßte nun freilich trefflich in den Rahmen der damaligen Befestigungskunst, ohne solch einen heimlichen Ausgang war kaum eine Burg zu denken, denn nur zu häufig hatte man, der Notwendigkeit gehorchend, Gebrauch davon machen müssen. Die schon von Marcellus wohl geplante, aber nicht zur Ausführung gelangte widerstandsfähige innere Türe wurde alsbald angebracht; den äußeren Verschluß bewirkte man in ähnlicher Weise wie früher.
Bezüglich des eigentlichen Zugangs zur Burg trat so recht der Unterschied zwischen der älteren und neueren Befestigungskunst zutage. Was sich ehemals als Schwäche der Festung erwiesen, das sollte nun ihre Stärke werden, denn man legte ihren einzigen Eingang gerade an die Stelle, wo von der Jenseite der Fels weit vorsprang, ja man verlängerte diesen Vorsprung noch künstlich durch Mauerwerk, um einer gewaltigen Zugbrücke geeignetes Widerlager zu bieten. Diese Zugbrücke und dahinter ein mächtiges Gatter dienten als Verschluss der Toröffnung, welche zwischen zwei festen Türmen hervorlugte, deren wohlgerichtete Feldschlangen jeden Herannahenden abschrecken mußten.
Solcher Gestalt erweckte Wiesneck nun den Eindruck einer dem Auge wohlgefälligen und dabei sicheren Burg; ja als es gelungen war, einen in der Nähe strömenden Bach in den Burggraben zu leiten, konnte man sie für damalige Begriffe als beinahe uneinnehmbar bezeichnen, trotzdem der dem Eingang gegenüber liegende schroff· aufragende Berghang gewissermaßen die Burg beherrschte. Allein da er vollkommen kahl, dabei von äußerst steiler, felsiger Beschaffenheit war, da er allerwärts völlig deckungslos dem Bestreichen mit den Schießwaffen, der Burg ausgesetzt lag, so schloß dies die Möglichkeit des Hinaufschaffens oder wirksamer Aufstellung von Belagerungsgeschützen völlig aus. Man darf außerdem die geringe Tragweite der Geschütze des 16. Jahrhunderts nicht außer acht lassen, sowie die Umständlichkeit und Schwierigkeit der Bedienung, welche nur an besonders dazu geeigneten Orten als ausführbar galt. Zu gesteigerter Sicherheit legte man, dem schroffen Bergeskamme folgend, eine kräftige Pallisadenwand mit festem Tore an.
Als der Burgbau seinem Ende zuschritt, durfte auch Junker Kuno seine Studien als vollendet betrachten, wenn man es so bezeichnen will, dass er auf verschiedenen Universitäten eine Reihe Kollegien gehört hat. Mit regem Sinn für die Ergebnisse neuerer Forschungen auf allen Gebieten begabt, hatte er auch nicht versäumt zu Füßen des Dr. Martinus in Wittenberg der Auslegung von dessen Lehre zu lauschen. Dann hatte er eine Menge kleiner Höfe und Burgen besucht, mit deren Inhaber die weitverzweigte Thurnersche Familie in verwandtschaftlichen Beziehungen stand. Sein als Witwer lebender Vater hegte den lebhaften Wunsch, den Lieblingssohn seinen Einzug in Wiesneck in Begleitung einer Gattin halten zu sehen, zumal dessen älterer Bruder Heinrich als abgesagter Weiberfeind galt. Dies war auch der eigentliche Grund, weshalb er ihn in der ganzen engeren und weiteren Familie umhersandte, hoffend, dass er irgendwo in zarte Bande geschlagen würde. Aber, wie so oft, dachte auch in diesem Falle der Sohn anders als der Vater. Die braunen Augen des Fräuleins Anna von Schnewlin trugen die Schuld an diesem Zwiespalt. Kuno lernte Anna bei einer Gasterei kennen, welche die Stadt Freiburg den Besuchern der Hochschule gab, wozu auch die Bewohner der nächstgelegenen Burgen geladen waren. Da durften diejenigen von der Schnewburg, welch letztere dort von den niederen Abhängen des Schönbergs herübergrüßte, nicht fehlen. Noch mehrmals hatte Kuno Gelegenheit gefunden, mit Anna zusammen zu treffen, seinem Vater diese Begegnungen und was ihn dazu getrieben, aber verschwiegen.
Nicht als ob Ritter Udo an dem holdseligen und tugendsamen Fräulein etwas würde auszusetzen gefunden haben, vermied doch der Sohn, seine Gedanken zu verraten, vermeinend, das ein zwischen den beiden Vätern herrschender alter Hader einer Verbindung der Kinder im Wege stehen könnte.
Inzwischen war Annas Vater seinen zahlreichen Ahnen in ein besseres Jenseits gefolgt, und Kuno durfte wohl hoffen, dass sein edeldenkender Vater den Groll nicht über das Grab des Feindes hinaus festhalten würde. Zweifelhafter allerdings erschien es ihm, ob Anna seine Neigung überhaupt erwidere, und er beschloß daher, sich hierüber Gewissheit zu verschaffen, ehe er den Vater in sein Geheimnis einweihte.
Große Freude herrschte im Thurnerschen Stammschlosse, als der jüngere Sohn aus der Fremde heimkehrte, und stolz blickte Udo auf den seiner schönen Mutter wie aus dem Gesicht geschnittenen Sohn, dessen adeliges, liebenswürdiges Wesen jedermann bezauberte. In feierlichem Aufzuge wurde er nach kurzem Aufenthalte von allen Burginsassen zu seinem neuen Wohnsitze geleitet. Dort an der Zugbrücke empfing ihn Bruder Kilian, der es sich ausbedungen hatte, seinem ehemaligen Schüler hierhin zu folgen, sich vorbehaltend, seine seelsorgerischen Pflichten gewissenhaft zwischen beiden Herrenburgen zu teilen, deren räumliche Entfernung von einander dies ja zuließ.
„Ich denke, mein Aufenthalt in Wiesneck wird Euch nicht zuwider sein, Junker,“ rief er diesem zu, „oder sollte etwa das ketzerische Gift, so Ihr in Wittenberg eingesogen, Euch der alten Lehre abhold gemacht haben?”
„Kannst vorläufig noch ruhig darüber schlafen,“ neckte Kuno, “aber wer weiß wie lange ich dabei verweile; in unserem Jahrhundert begeben sich gar wundersame Dinge, und was der Wittenberger lehrt, verdient wohl Beachtung.”
“Das gebe ich gern zu,” nahm der erstere wieder das Wort, “habe Bruder Martinus selbst kennen gelernt, als wir beide in Rom weilten, und kann mir wohl denken, dass ein so ernst und streng gearteter Mann, wie er, Greuel fand an dem heidenartigen Treiben der Priesterschaft da unten. Gleichwohl darf man nicht zu scharf mit ihnen ins Gericht gehen, denkt und fühlt doch der Welsche ganz anders als wir kalten Nordländer, wallt doch das südländische Blut heißer und rascher durch die Adern. Dass Martinus ein ehelich Weib genommen, das verdenke ich ihm weiter nicht, denn es war vormals uns Priestern allen gestattet, bis Papst Gregor VII. den Bann darauf legte. Dass aber Luthers Erkorene just eine sein mußte, die die Gelübde abgelegt und den Schleier genommen hatte, das kann ich ihm nicht verzeihen“
Unter solchen und anderen Gesprächen war man ins Innere der Burg getreten, wo Bruder Kilian, der sich ganz zu Hause fühlte, den Führer machte. Auch liess er es sich nicht nehmen, dein neuen Burgherrn sein Steckenpferd vorzureiten, den Garten; dass er dabei nicht vergaß, auf den wirklich gut gediehenen Weinstock aufmerksam zu machen bedarf kaum der Erwähnung. Kuno zeigte sich mit allem Gesehenen höchlich zufrieden, und da zur Führung der Haushaltung eine gute, ältere Base eingesetzt worden, die ihres Amtes mit voller Umsicht waltete, so erwies sich auch diese wichtige Frage befriedigend gelöst.
Kund fühlte sich recht behaglich in seiner neuen Tätigkeit. Täglich ritt er herum auf die verschiedenen zu dem Herrensitz gehörigen Meierhöfe, in die Dörfer, die dem Herrn von Thurner zehntpflichtig waren, auch wohl dahin, wo die leibeigenen Knechte ihre Arbeit unter der Aufsicht von ebensolchen Oberknechten verrichteten. Die leutselige Art, womit er sich mit den Leuten zu unterhalten wußte, sich nach ihren Familienverhältnissen und sonstigen Dingen erkundend, kurzum der rein menschliche Zug, der sein ganzes Wesen durchdrang, gewann ihm im Sturm alle Herzen. Man war es nicht gewohnt, daß ein so Hochstehender der jederzeit über Leben und Tod der Untergebenen gebieten durfte, statt wie Andere solcher Stellung durch hochfahrendes Wesen Ausdruck zu geben, sich in so freundlicher Weise zu jenen herabließ. Diese Auffassung seines Berufes dankte Kuno in erster Reihe den Keimen die der wohlwollende, unterrichtete, aufgeklärte Kilian in seine junge Seele gelegt, dann aber auch der Ausbildung, die sein Geist auf den verschiedenen Hochschulen genossen, wo ein neuzeitlicher, freierer Lebensodem wehte.
Aber nicht allein hier, oder nur bei solchen, welchen die Schätze des Wissens zu Gebote standen, regte sich dieser freiere Geist; nein, auch bei den Unterdrückten, den Rechtlosen rührte es sich. Hier machte sich der aufklärende Einfluß geltend, welchen Gutenbergs Erfindung auf die Massen ausübte Stand man auch dem Zeitpunkte noch sehr, sehr fern, da Lesen nicht mehr als eine nur wenigen Auserwählten vertraute Kunst betrachtet ward, so wurden doch in Mengen Flugschriften gedruckt. Sie behandelten allerhand Dinge in einem den gemeinen Mann ansprechenden Tone. Spielleute und anderes fahrendes Volk griffen sie mit Begier auf und lasen sie den geringen Leuten in Stadt und Land vor, so lange bis diese den Inhalt auswendig wußten. Dieser Same fiel auf fruchtbaren Boden, immer neue Druckschriften wurden begehrt, und um ihnen guten Absatz zu sichern,
wäehlt man als Inhalt, zuerst nur andeutungsweise, nach und nach aber immer deutlicher die Geißelung der bestehenden Verhältnisse, ja man forderte die Geknechteten geradezu auf, sich ihr Recht zu verschaffen, gehe es nicht in Sitte, dann mit Gewalt. Das zündete. Von allen Ecken und Enden verlautete es von Unruhen und Aufständen, von Forderungen, welche die Bauern an ihre Gebieter stellten. Und merkwürdig, diese Auflehnung gegen die althergebrachte Ordnung erfuhr keineswegs in allen Fällen schroffe Zurückweisung oder gar Züchtigung, vielmehr wurden manche Forderungen, wenn auch widerwillig genug, zugestanden, worauf denn scheinbare Ruhe eintrat. Man schien sich auf Seite der Gebieter eben bewußt zu werden, dass die nach und nach angemaßten Rechte doch weit, weit über das erlaubte Maß hinausgingen. Man suchte deshalb durch kleine Mittel, durch geringfügige Zugeständnisse größerem Unheil vorzubeugen. Allein diese kleinen Mittel konnten auf die Dauer den an schweren Übeln krankenden Körper des öffentlichen Lebens nicht retten. Die schmalen Stege, welche solch’ mühsam errungene Zugeständnisse über den weit klaffenden Abgrund der Mißstände spannten, vermochten dem Andrange nicht zu genügen. Einmal in Besitz gewisser dürftiger Freiheiten gelangt, gewahrte das Volk erst recht den noch immer verbleibenden Abstand, dessen Ausdehnung zu ermessen es sich völlig entwöhnt gehabt hatte.
So gährte es denn weiter in den Köpfen der unzufriedenen Bauern, und gerade der Breisgau bildet ja den Schauplatz der ersten gewaltsamen Erhebungen. Jäckle Rohrbach wars, der mit seinen Genossen dem eine Stunde westlich von Freiburg gelegenen Dorfe Lehen den sogenannten ,,Bundschuh“ (Die Bauern trugen über die Knöchel reichende, da selbst mit einem Bunde versehene Schuhe und wählten diese Form der Fußbekleidung als ihr Abzeichen) erhob und sich und ihm rasch Anhänger erwarb. In aller Stille und Heimlichkeit, meist zur Nachtzeit, hielten die Bauern ihre Versammlungen und Beratungen ab und bestimmten ihre Sendlinge zur Aufstachelung der benachbarten, wie der weiter weg gelegenen Gemeinden. Allerhand Unzufriedene, entlassene Kriegsleute, verunglückte Studenten und dergleichen, wie auch wirkliches Gesindel, welches eine willkommene Gelegenheit zu ungestraftem Rauben und plündern erspähten, gesellte sich zu ihnen, und diese, wenn auch anfangs nicht gewollte, so doch kaum vermeidbare Beimischung verlieh der Bewegung bald seinen ganz anderen Anstrich. In dem Dorfe Uffhausen, gerade unterhalb der Schnewburg gelegen, sollten die Flammen des Aufruhrs zuerst hell auflodern, vorzeitig freilich, weil noch nicht alles genügend vorbereitet war, doch aber durch besondere Umstände hervorgerufen, auf die wir uns vorbehalten später zurückzukommen.
Kunos Erwartung, seinen Vater zur Einwilligung in eine Verbindung mit Anna von Schnewlin zu bestimmen, sollte ihn nicht getäuscht haben. Udo bot dem Sohne freudig die Hand zu einer Gelegenheit, sich über die Gesinnung seiner Erkorenen zu unterrichten. Der Freiherr entschloß sich, für einige Zeit zu Kuno hinunter nach Wiesneck zu ziehen und das Stammschloß Thurneck in der Obhut des Vogtes zu lassen, da Junker Heinrich zurzeit am herzoglichen Hofe zu München weilte. Udo forderte zugleich Frau von Schnewlin nebst Tochter zu einem Besuche hier oben auf, gleichsam um damit zu bekunden, dass er den alten Span als endgütig begraben betrachte.
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Die Edeldame ging auch gern auf den Plan ein, denn mit mütterlichem Scharfblicke hatte sie der Dinge erraten. Da sie selbst große Vorliebe für den jungen Mann empfand, so fasste sie die Einladung Udos im richtigen Sinne auf, nämlich das Zustandekommen der beiderseits gewünschten Verbindung nach Kräften zu erleichtern. Die Zimmer für die Damen wurden also eiligst hergerichtet. Base Bertha bot ihr Bestes auf, Küche und Keller in schönsten Stand zu setzen, und man harrte freudigen Herzens der Ankömmlinge.
Heitere, gesellige Tage brachen an, als die Gäste erschienen. Anna verhehlte keineswegs, wie wohl ihr Wiesneck und dessen Herr, sowie der Gedanke ständigen Verweilens gefiel, sodaß Kuno letzte Zweifel an die Erwiderung seiner Neigung alsbald verschwanden. Wenn er gleichwohl den wichtigen Schritt seiner offenen Erklärung verschob, so geschah dies, weil Umstände eintraten, welche alle Gedanken an eine frohe Zukunft vorerst verscheuchten.
Die Erzählungen, welche auf der Burg vorsprechende Leute über die Bauernunruhen machten, lauteten immer beängstigender. Trotzdem Kunos Sinn jetzt auf ganz andere Dinge gerichtet war, fiel es ihm doch auf, daß sich im Wesen auch der Thurnerschen Bauernschaft Umwandlungen vollzogen. Trat er unverhofft in einen Bauernhaus, so fand er da mitten in der Arbeitszeit eine Anzahl Leute versammelt  die lebhafte Verhandlungen pflegen, bei seinem Erscheinen jedoch sofort verstummten. Auch die Hofmeier berichteten, dass sich eine gewisse Störrischkeit unter den Hörigen und Leibeigenen zeige, dass auch diese sich nach Feierabend zusammen zu rotten liebten, anstatt sich wie sonst auf die faule Haut zu legen. Dass der Geist des Aufruhrs der das ganze deutsche Volk beherrschte, auch in diesen Köpfen spukte, schien nur zu klar. Wenn es bisher noch zu keinem eigentlichen Ausbruch gekommen war, so durfte man dies im wesentlichen der großen Beliebtheit Kunos bei seinen Untergebenen zuschreiben, dem Umstande ferner, dass er ihr Los freiwillig schon bedeutend besser gestaltet hatte, als das der benachbarten Bauern. Ja, diese Beliebtheit Kunos hatte ihre Wirkung sogar auf die Untertanen seines als strenge gefürchteten Vaters erstreckt, der das Nachgeben in solchen Dingen als Zeichen der Schwäche betrachtete.
Alls aber nun vertraute Boten Mitteilungen brachten von Ueberrumpelung und Zerstörung von Burgen und Klöstern durch die Aufständischen und als man die auffällige Wahrnehmung machte, dass solche ganz geheim gehaltenen Nachrichten wie ein Lauffeuer unter der Bauernschaft herum gelangten, nahm man doch Veranlassung, den Verteidigungsszustand von Wiesneck und Thurneck einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Kuno war es nicht entgangen, dass einige Teile der Befestigungsswerke seiner Burg nicht so vollkommen den neuesten Anforderungen entsprachen, wie er sie auf seinen Reisen bei anderen Herrensitzen gewahrt hatte, wenn sie auch unter gewöhnlichen Verhältnissen kaum zu besonderer Besorgnis Anlass geboten hätten. Wie die Dinge sich indessen jetzt gestalteten, hätte Kuno gewünscht, die nötig erachteten Verbesserungen ungesäumt auszuführen, wenn er sich nicht gescheut hätte, durch Herbeischaffung der erforderlichen Steine die Aufmerksamkeit der umwohnenden Bauern in unliebsamer Weise zu erregen. Doch hier wußte Kilian Rat.
,,Wo könnt Ihr schöneres Baumaterial finden als unten im Innern des Turmes,” bemerkte er, und als man ihn staunend ansah, fuhr er fort: “ist doch der ganze untere Halbstock desselben mit Steinen angefüllt, die von der Zerstörung, des Turmes herrühren; das habe ich neulich zufällig bemerkt. Ihr entsinnt Euch doch ganz wohl, dass wir die Eingangstüre an der Ostseite anbrachten, weil die vorhandene westlich gelegene weniger Sicherheit zu bieten schien, außerdem auch zu kleine Verhältnisse aufwies. Glaubt Ihr denn nun, die Römer, oder wen wir als Erbauer betrachten müssen, hätten es sich so unbequem gemacht, stets nur in gebückter Haltung hindurch zu schreiten? Gewiß nicht, und darum vermute ich den eigentlichen Eingang wesentlich tiefer liegend, bis zu ihm hinab aber alles, innen wie außen, mit Schutt und Steinen angefüllt. Laßt uns wenigstens den Versuch unternehmen, alle Arbeiten jedoch durch das Burgvolk ausführen, dann dringt keine Kunde davon aus den Mauern hinaus.”
Kilians Behauptung bewahrheitete sich vollkommen. Besseres Baumaterial in der Gesteinsart sowohl als in der schon zugerichteten Form konnte man sich nicht wünschen und die Verstärkungsarbeiten rückten munter voran. Da, an einem der nächsten Tage wurde Kilian eiligst zu den Herren nach dem Turme gerufen, um einen soeben gemachten merkwürdigen Fund zu besichtigen Unter Steinen und mächtigen halbverkohlten, vermoderten Balkentrümmern hatte man ein fast ganz zermalmtes menschliches Gerippe gefunden, bedeckt mit Resten eines stark vom Rost zerfressenen Schuppenpanzers sowie mit einem arg zerquetschten und zerbeulten Helm von ungewohnter Form, aus versilbertem Erz.
“Das ist nichts anderes denn ein altrömisch Panzerkleid,” rief Kilian eifrig; “auch der Helm stammt aus jener Zeit, solche Waffenstücke habe ich zu Dutzenden in den päpstlichen Sammlungen bewundert. Sie umschlossen zweifellos die Hülle eines bei Zerstörung der Burg gefallenen römischen Kriegers, vermutlich des Befehlshabers. Möge uns dieser Fund keine schlimme Vorbedeutung sein!” setzte er leise und sich bekreuzigend hinzu.
Zu rechter Zeit erreichten die Verbesserungen der Befestigung ihre Vollendung, denn immer näher heran rückte die jetzt in vollen Aufruhr ausgeartete Bewegung. Ihren Weg kennzeichneten himmelanschlagende Feuersäulen aus zerstörten Burgen und Klöstern. Jetzt stiegen aus der Karthause bei Freiburg Flammen und Rauch auf, dann ein gleiches aus dem Schloß der Freiherren von Gleichenstein in Lützelweiler, der Geiling zu Ebnet und kurz darauf aus der Burg Kageneck in Eschbach. Nun mußte man stündlich den Einbruch der wilden Scharen in das Thurnersche Gebiet gewärtigen. Kilian hatte die Besatzung von Wiesneck auf den größtmöglichen Stand gebracht und hielt scharfe Wache. Da, an einem schönen Morgen gewahrten die Burgbewohner beträchtliche ungeordnete Haufen in zerlumpter Kleidung und mangelhafter Bewaffnung unterhalb der Burg sich ansammeln jedoch in solcher Entfernung, daß man die Geschütze nicht auf sie spielen lassen konnte. Nachmittags sandten sie einen Herold, wenn man die verwahrloste Gestalt so bezeichnen will, die sich mit einer weißen Fahne in der Hand der Zugbrücke gegenüber aufstellte. Der Abgesandte verkündete, er sei im Auftrag der Heerführer der Bauern gekommen, um die Herren von Thurner zunächst zu einer Verhandlung einzuladen. Er bezeichnete einen Platz, außerhalb des Burgfriedens gelegen, gleichwohl so nahe, daß er von den Mauern aus mit den Feuerrohren bestrichen werden konnte. Dahin, so schlug er vor, sollten die Herren sich verfügen, um mit den Führern des Bauernheeres Verhandlungen zu pflegen; letzteres würde in angemessener Entfernung verharren, um jeden Gedanken an verräterische Absichten zu verscheuchen.
Der Herold mußte geraume Zeit auf einen Bescheid warten. Während sich Kuno nicht abgeneigt zeigte, die Vorschläge anzuhören, was ja noch zu nichts verpflichtete, wütete sein Vater dagegen als ein hierin liegendes, an die verdammten Bauern gemachtes Zugeständnis. Er vertrat eben vollständig die starre Züchtung, welche den Bauern, den Hörigen und Teileigenen, jegliches Recht absprach, ihnen dagegen nur Pflichten und Lasten auflud. So entsprach es der von seinen Vorfahren überkommenen Überlieferung und er verschmähte es, sich in eine andere Anschauung hinein zu versetzen. Wie konnte man einer Bande, deren Zuge Brand, Raub und Mord auf dem Fuße folgten, anders begegnen als durch Gewalt? Und durfte man sich denn überhaupt auf das Wort solcher Menschen verlassen? War nicht der Rittersmann allein fähig, Bedeutung und Tragweite des Manneswortes zu ermessen? Dem Zureden Kunos und Kilians gelang es endlich doch, den Freiherrn zum Nachgeben zu bewegen, und die Zusammenkunft wurde auf den nächsten Abend festgesetzt. Auf diesen Bescheid hin überreichte der Herold zur Kenntnisnahme eine Rolle, welche in sauberen Schriftzügen die Punkte enthielt, über die man in Verhandlungen zu treten beabsichtigte, die sogenannten “Zwölf Artikel”.
Trotzdem sich die Heerhaufen der Bauern durch beständigen lebhaften Zuzug ganz erheblich verstärkt hatten, war von einer eigentlichen Einschließung der Burg keine Rede. Fast schien es, als ob die Absicht dabei mitspiele, die Schlossbewohner am allenfalls beabsichtigten Entkommen nicht zu verhindern. Warum auch nicht? Entfloh die Herrschaft, dann durften die Bauern darauf rechnen, in Bälde ohne Schwertstreich die Burg einzunehmen, denn mit den zurückgelassenen Knechten gedachten sie rasch einig zu werden. Entstammten doch diese gleich ihnen den unteren Schichten des Volkes und viele davon demselben Verwandten- und Bekanntenkreise. Hätte man sich aber erst einmal in der Burg festgesetzt und kehrte dann die Herrschaft zu gelegenerer Zeit wieder, so besäße man als beati possidentes leichtes Spiel mit ihr; kehrte sie überhaupt nicht wieder, dann um so besser. Jedenfalls war eine solche Aussicht einem Kampfe weitaus vorzuziehen, der doch manches Opfer fordern mußte.
Man wirft vielleicht die Frage auf - da man bei Beurteilung, des Bauernkriegs häufig von der Anschauung ausgeht, es sei den Aufrührern mehr um Rache, um Mord und um Plünderung zu tun gewesen - wollten denn die Bauern überhaupt ernstlich in Unterhandlungen eintreten? Diese Frage fordert ein unbedingtes “Ja” heraus, namentlich so lange es sich um die Anfänge der grossen Bewegung handelt. Was dieselbe hervorgerufen, das beruhte ja auf dem geradezu unerträglichen rechtslosen Zustande der Untergebenen gegenüber ihren Unterdrückern, denn anders konnte man die Herrschaften, seien es weltliche, seien es geistliche, nicht bezeichnen. Wenn auch einige Hitzköpfe es in erster Reihe nur auf Rache abgesehen hatten, sie mochten dafür persönliche triftige Gründe besitzen oder nicht, so herrschte doch bei den Führern des Aufstandes eine andere Auffassung vor, als diejenige, nur bei Mißlingen von Güteversuchen im Wege der Gewalt eine Verbesserung ihres Loses herbeizuführen. Was sie anstrebten, das besagten die von ihnen nach reiflicher Beratung zusammengestellten sogenannten “Zwölf Artikel”, als deren wesentlichste wir nachstehende Punkte hervorheben wollen:
Aufhebung der Leibeigenschaft und Frohnden; Ermäßigung der Zehnten; eigener Gerichtsstand, wobei, wie in alter Zeit, die Bauern unter der Dorflinde zu Gericht sitzen sollten; Vertretung im Reiche; Predigt und Verlesen des Evangeliums in deutscher Zunge durch selbstgewählte Pfarrer; freier Wald und freie Gewässer für Jedermann, also Holz; Streu- und Weidenutzung, Jagd. Und Fischrecht.
Ganz besondere Bedeutung wurde letzterem Artikel beigemessen. Durch Freigabe der Jagd und damit verbundenen Selbstschutz durfte der Bauer doch hoffen, den in erschreckendem Maße überhand nehmenden Wildstand und damit die alle saure Arbeit zuschanden machenden Flurschäden zu vermindern.
Mit verschiedenen Edelleuten und geistlichen Herrschern hatten die Bauern sich, unter Zugrundelegung jener zwölf Artikel geeinigt, welche unter geeigneten Umständen auch Abänderungen erfahren konnten, und man lebte ganz verträglich und erträglich zusammen. Auch größere wie kleinere Städte hatten auf der gleichen Grundlage Vereinbarungen mit den Bauern getroffen, denn das freie Bürgertum vor allem sympathisierte mit denjenigen, welche seither im Joche ihrer gemeinsamen Widersacher seufzten, und deren freiheitliche Bestrebungen geeignet schienen einen, auch ihnen günstigen Umschwung herbeizuführen. So waren unter anderem seitens der Stadt Freiburg dem Bauernheere freiwillig die Tore geöffnet worden.
Zwischen den Vorposten der Bauern und denjenigen der belagerten Burg hatte sich wie dies in ähnlichen Fällen fast immer zu geschehen pflegt, in gewissem Sinne ein kameradschaftlicher Verkehr angebahnt. Unter mancherlei harmlosen Nachrichten gelangte auf diese Weise auch eine Kunde in das Schloß, welche lebhafteste Bestürzung hervorrief und welche man sich ängstlich bestrebte den zunächst Betroffenen vorderhand zu verheimlichen. Es handelte sich um nichts geringeres als das Gerücht von der vor wenigen Tagen stattgefundenen Zerstörung der Schnewburg, als erstem der Herrensitze, deren Brand man von Wiesneck aus beobachtet hatte. Der Hergang wurde folgender Maßen geschildert:
Diethelm, Anna von Schnewlins gewalttätiger Bruder, als roher Wüstling verrufen, war, von einem Gelage heimkehrend bei Anbruch der Dämmerung an einer Wiese vorbeigekommen, auf welcher die schöne Veronika, Tochter eines freien Bauern von Uffhausen, mit Heumachen beschäftigt war. Längst schon hatte Diethelm dem Mädchen nachgestellt und ergriff nun in seiner Trunkenheit die Gelegenheit, ihr Gewalt anzutun. Den auf Veronikas Hülfeschrei herbeieilenden Bräutigam derselben stach er nieder, schwang sich auf’s Roß und sprengte heim auf seine Burg. Das Mädchen aber, von Scham und Schmerz zerrissen, stürzte sich in den nahegelegenen Weiher.
Diese Schandtat Diethelms, der manche Gewalthandlung, manches Bubenstück vorausgegangen war, wirkte wie glimmender Zunder in ein Pulverfaß geschleudert. Der angesammelte Groll gegen die Gewalttätigkeiten und den Übermut der Herrschaften im allgemeinen, des Schnewburgers aber im besonderen, brachte hier die unter dem Zeichen des Bundschuhs vorbereitete Empörung zum Ausbruch. Jedermann im ganzen Dorfe fühlte sich zum Rächer der unschuldig in den Tod Getriebenen berufen und verpflichtet. In aller Eile verständigte man die Genossen vom Bundschuh in den nächstliegenden Ortschaften und umstellte die Burg, deren Bewohner keine Ahnung von dem drohenden Verderben beschlich. Ein Bauernknecht von Uffhausen, Mitglied des Bundes, unterhielt ein Verhältnis mit einer der Mägde im Schloße. Auf verabredete Zeichen hin hatte sie sich schon manchmal zu nächtlichen Stelldichein mit ihm eingefunden. Diese Zeichen gab er auch heute bei angebrochener Nacht und alsbald trat die Dirne aus einer verborgenen Pforte zu ihm hinaus in den Wald. Diese Gelegenheit wahrnehmend, drangen die Verschwörer in den Burghof ein. Sie überrumpelten die Besatzung, plünderten die Veste und steckten sie in Brand.
Die Durchforschung aller Räume nach den Damen, welche sie zurückgekehrt wähnten, erwies sich als vergeblich; ebenso aber war ihnen auch der Missetäter Diethelm entkommen. Durch die drohende Gefahr rasch ernüchtert, hatte er sich auf ein Pferd geworfen, jagte mitten durch den Schwarm der Eindringlinge und suchte sein Heil in der Flucht. Fast wäre sie ihm auch geglückt, wenn nicht ein verspäteter Nachzügler ihm am Ausgang des Waldes begegnet wäre. Dieser, der rote Kaspar genannt, ein ehemaliger Landsknecht von herkulischem Körperbau, erkannte nicht sobald im schwachen Mondlicht den Junker, als er auch seine Partisane schwang und ihn vom Roß herabstieß, nicht ohne jedoch seinerseits eine derbe Kopfwunde davon zu tragen.
Sollte dieser Bericht, wie man freilich kaum bezweifeln durfte, sich bewahrheiten, so mußte seine Kenntnis eine geradezu niederschmetternde Wirkung auf die Damen ausüben. Wenn Frau von Schnewlin auch keine Ahnung von dem Unheil besass, das sie betroffen, so konnte sie doch angesichts der Erfahrungen der letzten Tage ihre Besorgnisse über das Schicksal ihrer Burg nicht verhehlen. Und doch war sie anderseits blind genug, den nur mühsam verhaltenen Groll ihrer Untergebenen über Diethelms Freveltaten zu übersehn, ja sich sogar in dem Gedanken zu wiegen, die oft bewiesene Anhänglichkeit der Schnewliner Bauern an sie, die jederzeit milde und hilfsbereite Herrin, und an ihre allgemein beliebte Tochter, werde sich neuerdings bewähren und ihr eine Ausnahmestellung sichern. In diesem Widerstreite der Gefühle empfand sie es doppelt dankbar, als Kuno sich zur Entsendung eines Boten erbot, der auf weiten Umwegen nach der Schnewburg gelangen und Kunde von da zurückbringen sollte. Dass indessen von einer Rückkehr der Herrschaft dahin nicht die Rede sein könnte, solange man von Thurnerscher Seite zu keiner Verständigung mit dem Bauernheere gelangt wäre, mußte einleuchten.
Anna lebte zu sehr in der Zukunft, als dass sie sich durch die Bedrängnisse der Gegenwart merklich hätte beeinflussen lassen. Wenn ihr auch der sorgenvolle Ausdruck in Kunos Mienen nicht entging, wenn sie es auch peinlich empfand, nicht wie anfangs mit dem Junker durch die ausgedehnten Wälder und Felder reiten zu können, so erblickte sie doch in den zerlumpten Haufen, die da in weitem Umkreise lagerten, nicht sowohl schlimme Feinde als vielmehr mit ihrer Lebenslage unzufriedene Leute, welche Gelegenheit nahmen, deren Besserung anzustreben, Gewalt jedoch nur anwenden würden, wenn man ihnen in keiner Weise willfahren wollte. Dahin würde es aber sicherlich nicht kommen, erstens galt doch Kuno als erklärter Liebling der ganzen Anwohner und dann war er auch viel zu einsichtig, als dass er nicht wie in früheren Fällen den Wünschen seiner Untertanen entgegenkommen würde. Wer konnte überhaupt diesem Kuno, ihrem Kuno böse sein, wer vermochte seinem freundlichen Wesen, seinem sonnigen Lächeln zu widerstehn? Mochten auch viele seiner Standesgenossen durch ihr hoffärtiges, gewalttätiges Benehmen den Zorn der Untertanen herausgefordert und dessen Ausbruch nun zu fürchten haben - Kuno brauchte nichts derartiges zu scheuen, so wenig, fast noch weniger, als ihre Mutter. Liebe macht ja blind, beurteilt den Gegenstand ihrer Leidenschaft nur nach den eigenen Gefühlen, vermeinend, sein Zauber müsse Jedermann gleichmäßig gefangen nehmen!
Anna, die den Vater früh verloren, war in ihrer Kindheit etwas schwächlich und dabei mancherlei Kinderkrankheiten ausgesetzt gewesen. Ängstlich hatte darum die liebevolle Mutter des zarten Pflänzleins körperliche Gesundheit gehütet und gleiche Fürsorge auch dessen geistiger Seite gemidmet. Jeden rauhen Luftzug, jegliche Ungebühr wußte die Mutter von ihr fern zu halten, und selbst der wüste Diethelm bemeisterte sich in Gegenwart des abgöttisch geliebten, nachgeborenen Schwesterleins in einem Maße, dass dieses nur ungläubig den lieblichen, braunen Lockenkopf schüttelte, wenn zuweilen Tadel über des Bruders unbändiges Wesen laut wurde. Dass man das Gesinde anhielt, dem von Seiten der Herrschaft gegebenen Beispiele zu folgen, darf nicht wunder nehmen; in den Ortschaften der Umgebung wurde Anna wie eine holde, mildtätige Fee angesehen, wenn sie kam, die mancherlei Werke der Barmherzigkeit auszuüben. Die jungen Burschen betrachteten das holdselige Burgfräulein, das so ganz anders geartet war wie ihre Schätze, tatsächlich wie ein höheres Wesen, und oftmals wurde ihr berichtet, der und jener habe sich verschworen, für sie durch’s höllische Feuer zu gehen.
Man darf deshalb nicht erstaunen, bei ihr, die so von allen Seiten geliebkost, verwöhnt und in bester Absicht über die rauhe Seite des Lebens hinweggetäuscht wurde, einer solch´überidealen Auffassung der gegenwärtigen Tage zu begegnen. Wie würde sie aus allen Himmeln gefallen sein, hätte sie jetzt einen Blick auf den rauchenden Trümmerhaufen werfen können, in welchen die Anführer ihre geliebte Heimstätte verwandelt hatten! Zu der bloßen Erwähnung der Möglichkeit eines solch’ unerhörten Vorgangs würde sie auch nur ungläubig und unwillig das Köpfchen geschüttelt haben.
Zur festgesetzten Abendstunde verfügten sich Udo und Kuno von Thurner in Begleitung Bruder Kilians an den Ort der Zusammenkunft, wo sie die Bauernführer Jost Fritz, Jäckle Rohrbach, Hans Bulgenbach bereits vorfanden; zu ihnen hatte sich der Jägerbauer gesellt, der auf seinem Freihof im Ibenthal saß und dessen allgemeines Ansehen die Thurnerschen Bauern bestimmte, ihn zu ihrem Wortführer zu ernennen. Er war den Herren, deren erstaunt auf sich gerichtete Blicke er wohl bemerkte, einige Schritte entgegen gegangen und antwortete auf die vorwurfsvolle Frage Kunos, was denn ihn dazu triebe, gemeinsame Sache mit dem wilden Haufen zu machen, da doch er wahrlich keine Ursache habe, über die Herrschaft zu klagen:
“Wohl wahr, Herr, aber was wollt Ihr, mit den Wölfen muß man heulen. Zudem dachte ich, es möchte für Euch besser sein, wenn ich der Beratung beiwohnte.”
Die Bauernführer erweckten in Kleidung und Aussehen einen nur um geringes günstigeren Eindruck als die Mehrzahl ihres Heeres. Während Hans Bulgenbachs Äußeres einen etwas schwärmerisch veranlagten Mann verriet, zeugten Jäckle Rohrbachs Züge von List und Verschlagenheit, Jost Fritz blickte finster und herrisch.
In merkwürdigem Gegensatz zu diesen Dreien stand das biedere Gesicht und Wesen des Jägerbauers. Von den Vieren erfreute er allein sich des freien eignen Besitzes. Nur er zog den Hut, als die Herren herantraten, keiner der Anderen griff nur danach, ein Umstand, der besonders Udo aufs peinlichste berührte, ihn, der es gewohnt war, die Bauern in Unterwürfigkeit vor sich ersterben zu sehen.
Jost Fritz, die eigentliche Seele der ganzen Bewegung im Breisgau und als Wortführer anerkannt, begann die Verhandlung wie folgt: “Habt Ihr Euch die zwölf Artikel genau angesehen und seid Ihr gewillt, darauf einzugehen?“
Udo entgegnete: “Was soll’s mit den zwölf Artikeln? Ihr könnt doch nicht meinen, dass man gewillt sei, auf solche willkürliche Forderungen einzugehn. Wo blieben da die uns von Gott und durch die Überlieferung verliehenen Vorrechte?“
,,Mit den Vorrechten ist’s vorbei, Ritter Udo,” nahm jener kühl wieder auf; “Ihr müßt Euch bequemen einzusehen, dass der Bauer auch ein Mensch ist und als solcher gleiche Rechte mit Euch beansprucht. Wir verlangen durchaus nicht mehr als den Zustand, wie er unter unseren Altvoderen bestand und wie er nur durch Anwendung mißbräuchlicher Gewalt mit der Zeit verändert worden.”
„Aber auf solche Forderungen kann ja doch niemand eingehen, hieße dies doch die Welt auf den Kopf stellen! Zu allen Zeiten hat’s Herren gegeben und Knechte; nur einer kann befehlen, die andern müssen gehorchen; und wenn es Euch selbst gelingen sollte, heute eine Anzahl Ritter oder Geistliche zur Aufgabe ihrer Herrschaftsrechte zu zwingen, gar bald wird sich das Blatt drehen und neue Herrscher werden entstehen. Was nützt Euch auch die Erfüllung all der Forderungen, die Ihr stellt? Wüßte doch die Mehrzahl unter Euch keinen geeigneten Gebrauch davon zu machen, ja, Unfriede und Unzufriedenheit würden nur die Folge sein, wenn Ihr Rechte ausüben solltet, deren Tragweite zu ermessen Ihr nicht vermögt. Was hat Euch denn auch gefehlt? Haben die Freien unter Euch doch jederzeit ihr gutes Auskommen, die Unfreien und Hörigen ihre gesicherte Unterkunft gehabt, und haben wir Euch und Euer Eigentum doch jederzeit mit Gut und Blut gegen feindliche Angriffe zu schützen gewusst.”
“Das ist´s ja eben, was uns nicht genügt,” erwiderte Jost Fritz, “daß wir nur ein karges Auskommen genießen, sonst aber in keiner Weise mit über unser eigenes Schicksal beschließen, noch sonstwie mitraten und taten sollen. Was unterscheidet uns denn jetzt vom lieben Vieh, dem man auch für schwere Arbeit sein auskömmliches Futter reicht und nur, wenn man es mästen will, einen Teil darüber hinaus? Ihr sagt, Ihr habt uns gegen feindliche Einfälle geschützt? Wer sagt Euch denn, dass wir solchen Schutz erheischten? Konnte es uns nicht gleichgültig sein, wer von Euch uns bedrückte, denn darauf kam es doch schließlich immer heraus? Was schor es uns, wenn Ihr Ritter, irgendwelche Gelegenheit vom Zaune brechend, einander mit Fehde überzoget? Hüben und drüben Bauern, Hörige, Unfreie, die einander für Eure Raufhändel die Köpfe blutig schlagen mußten und zum Entgelt ihre Häuser und Höfe ausgeraubt und in Flammen aufgehen, ihre Weiber geschändet, ihre Kinder erschlagen sehen mußten? Ihr freilich gewannet dabei eine oder die andere Ortschaft oder sonstige Gebietserweiterungen und Vorteile.”
Udo wußte keine Antwort, denn dass er hier und jetzt auf seine Herrenrechte nicht pochen dürfe, die ihm nach seiner Meinung gestatteten Streit zu führen wann, wie, wo und mit wem es ihm beliebe, das sah auch er wohl ein. Kuno blickte ernst, denn seine geläuterte Auffassungsart vermochte sich der allgemeinen Richtigkeit des Geäußerten nicht zu verschließen. Kilian flüsterte ihm zu: “So Unrecht hat der Mann nicht.”
So ergab jeder der zwölf Artikel eine beiderseitige lange Erörterung, die zu keinem rechten Ende führen wollte. Ganz besonders schmerzten Udo die vermeintlichen Eingriffe in alle den Wald betreffenden Gerechtsame. Das war doch sonnenklar, dass die Jagd und alles was damit zusammenhing, ausschließlich durch Ritterbürtige und ihnen Gleichgestellte auszuüben sei. Da sprach doch nicht nur die Geschicklichkeit mit, das Wild zu erlegen, sondern die Art und Weise wie dies ausgeführt wurde. Gab es doch ein ganzes Heer streng zu befolgender Jagdregeln mit eigner Ausdrucksweise, die zu erlernen und gebührend anzuwenden kaum ein ganzes Menschenleben ausreichen wollte und die zu verstehen es ritterlicher Sinn erforderte. Wie sollte es niedergeborenen Menschen gelingen, dergleichen sozusagen ohne Entweihung nachzuahmen? Mußte dadurch nicht das ganze edle Waidwerk als in den Kot gezogen gelten, mußten nicht gar bald alle jagdbaren Tiere ausgerottet sein? Hatte doch schon die von Kuno seinen Bauern eingeräumte Befugnis, das ihre Fluren schädigende Wild zu verscheuchen und im Notfall zu töten, den Wildstand schwer beeinträchtigt.
So und in ähnlichem Sinne polterte Udo; doch auch hierbei wußte Jost Fritz den Freiherrn durch treffende Einwürfe zu verblüffen, welche ihre Wirkung auf die Dauer nicht verfehlten, wenn Udo es auch nicht zugeben mochte. Wohin war es gekommen, dass man sich getrauen durfte ihm dergleichen ungestraft zu sagen! Schließlich verständigte man sich dahin, dass die Burgherren die Dinge nochmals in reifliche Erwägung ziehen und am folgenden Morgen mit allenfallsigen Gegenvorschlägen am gleichen Ort erscheinen wollten.
Nun galt es lange Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn, wobei meist Kilians ruhiges Urteil entscheiden mußte. Soviel war sicher, daß man kämpfen oder Zugeständnisse und zwar keine zu geringe, machen müsse, wollte man erreichen, statt von Haus und Hof vertrieben zu werden, daselbst in immer noch befehlender Stellung, wenn auch unter Aufgabe ansehnlicher Vorrechte, verbleiben zu können. Auch Udos Widerstand ward endlich gebrochen, weil immer neu eingehende Schauerberichte sich in Schilderung der Untaten der Aufrührer überboten und weil das immer noch im Wachsen begriffene Belagerungsheer doch allmählig beachtenswertere Gegner aufwies. So hatte man unter den letzten Ankömmlingen eine größere Anzahl gut ausgerüsteter, verhältnismäßig stattlich aussehender Leute bemerkt, offenbar entlassene Kriegsknecht, die ihre Kraft und Erfahrung nun zur Abwechslung einmal in den Dienst der Bauern stellen wollten, bei dem, wenn auch kein Handgeld, keine Löhnung, doch manch gutes Beutestück in Aussicht stand.
Durch Kilian waren die Vorschläge, die man den Bauernführern zu unterbreiten gedachte, niedergeschrieben worden, und mit ihnen begab man sich am nächsten Morgen an den Zusammenkunftsort. Rascher als erwartet und nach jedesmal nur kurzer Beratung gingen die Bauernführer auf die Vorschläge der Herren ein, dagegen rückten sie nun mit einer neuen Forderung heraus.
Woran es ihren ungeordneten Haufen - abgesehen von oben erwähnten Ausnahmen - gebrach, das war ja eben die Ausrüstung, nicht allein an Kleidung und Schuhwerk für die Mannschaften, sondern namentlich an Waffen sowie an entsprechender Ausbildung in deren Handhabung und schließlich an eigentlicher, regelrechter Kriegführung. Diese Erfordernisse zu erlangen, dazu bedurfte es nun vor allen Dingen einer sachkundigen, tatkräftigen Oberleitung, eines tüchtigen Feldhauptmanns. Hierzu hatte man Junker Kuno ausersehen und verlangte seine alsbaldige Einwilligung. Seinen Einwendungen, noch ehe sie ausgesprochen, wußte Jost Fritz damit zu begegnen, dass er ihm das Beispiel des Edelmanns Florian Geier anführte, der in gleicher Eigenschaft die Haufen des Odenwälder Bauernheeres leitete, und der mit seiner “schwarzen Schar” sich die Achtung selbst der Gegner zu erwerben gewußt habe.
Kuno betonte zunächst, dass die Forderung als ganz neu die vorige Übereinkunft vollständig über den Haufen werfe, dass er aber auch die an ihn gestellte Zumutung entschieden zurückweise, weil sie alles Maß übersteige, indem sie ihn zwingen würde, ohne alle Ursache gegen Standesgenossen zu Felde zu ziehen, mit denen er in Frieden und Eintracht lebe. Des Geiersbergers Beweggründe für sein unritterliches Gebahren träfen für ihn nicht zu.
Jost Fritz fand alsbald die Erwiderung, dass es für Kuno im Grunde doch gleichgütig sei, ob er aus eigenem Antrieb oder durch die Not dazu gezwungen jenen den Fehdehandschuh hinwerfe. Im übrigen erschien es doch gar nicht ausgeschlossen, dass man sich mit den Herrschaften in Güte einige, wie man dies auch bei den Herren von Thurner erhoffe. Auch für derartige Güteversuche biete deshalb Kunos Beteiligung an der Bauernsache eine Gewähr. Sie könnten also von ihrem Verlangen nicht abgehen.
Dass Udo die bloße Möglichkeit der Erwägung eines Schrittes barsch zurückwies, geeignet dem Namen Thurner einen niemals mehr auszutilgenden Schimpf anzuhaften, wird niemand verwundern. Während man nun noch hin und her stritt, die Köpfe sich erhitzten und die Wahrscheinlichkeit einer Verständigung immer weiter entschwand, trat ein Zwischenfall ein, welcher eine solche endgültig ausschloß.
Langsamen Schrittes und auf einen Stock gestützt, war aus den Reihen der Bauern ein Mann von riesiger Gestalt mit struppig-rotem Haar und Barte, den Kopf mit einer Binde umwickelt, herangenaht - der rote Kaspar. Ohne auf die Frage, wieso er sich herausnehme, gegen die Verabredung sich zu den Verhandlungen der Führer  heranzudränge, zu antworten, rief er: “Zu den Bedingungen, die Ihr da ausgemacht, hätte ich noch eine hinzuzusetzen. Unser Uffhäuser Haufe ist just erst angelangt, der Marsch war weit. Mich selbst zwang die Kopfwunde die Junker Diethelm mir beibrachte, als ich ihn vom Pferde stieß, einen Tag zu rasten und zum Nachkommen mich eines Wägeleins zu bedienen. Wir konnten nicht früher ausrücken, weil wir erst gründliche Aufräumungsarbeiten auf der Schnewburg zu verrichten hatten,” setzte er mit rohem Lachen hinzu. “Nun haben sie mich an die Stelle des dabei von einem fallenden Steine erschlagenen seitherigen Anführers und Sprechers hierzu erwählt. Sämtliche bei dem Sturme beteiligte Uffhäuser Burschen haben aber auf Anstiften des Bruders der geschändeten Veronika einen schweren Eid geleistet, nicht eher zu ruhen, bis dieser Genugtuung geschehen, bis an dem Burgfräulein dieselbe Gewalt verübt worden, wie sie der Bauerndirne widerfahren. In der Burg war das Fräulein nirgends zu finden, weil sie sich hierher zu Euch begeben. Gebt sie uns, ihren getreuen Uffhäusern, in Güte heraus, damit ihr geschehe, was wir gelobt - sonst holen wir sie mit Gewalt!”
Alle starrten den Sprecher an, der solch’ frevelhafte Forderung wagte. Kuno riß das Schwert heraus, um den Frechen niederzuschlagen und wurde nur mit Mühe durch Kilian und den Jägerbauern daran verhindert.
,,Wie kannst Du Schandbube Dich erdreisten, solch haarsträubendes Verlangen zu stellen?” fuhr er heraus. “Das bloße Aussprechen solch’ unerhörten sündhaften Ansinnens verdient schon den Galgen, wie viel mehr das Verlangen an sich! Meine gute Klinge müßte durch Dein Blut besudelt werden! Scher´ Dich hinweg! Mit Dir haben wir nichts zu schaffen und mit Deinen Genossen hier ebensowenig, wenn sie mit Dir gemeinsame Sache machen.”
Udo tobte in heftigsten Worten über die Niedertracht der sich äußernden Gesinnung und wandte sich zum Gehen, Kuno mit sich fortziehend.
Die Bauernführer standen unschlüssig; durften sie es doch mit keinem der Ihren verderben, und die Uffhäuser hatten durch ihre rasche Tat gezeigt, dass sie wohl zu beachtende Hilfskräfte bedeuteten. Der alte Jägerbauer aber wandte sich zornig zu Kaspar: “Wenn’s so steht, dann tun wir Thurnerschen nicht mit; für die Leute aus dem Ibental stehe ich unbedingt ein, wir führen keinen Krieg gegen Weibsleute. Was hilft’s auch der Verstorbenen, wenn Ihr eine andere entehrt, und was kann überhaupt das unschuldige Mägdlein dafür, dass sie einen solch’ wüsten Bruder hatte?”
“Unser Herr Jesus war auch unschuldig wie ein Lamm und ist doch für die Sünden der Menschheit geopfert worden,” erwiderte Kaspar mit scheinheiligem Gesichtsausdruck.
“Laß Du unsern Herrn und Heiland aus dem Spiel; dergleichen ziemt sich nicht für Dein ungewaschenes Maul!“ herrschte ihn der fromme Hans Bulgenbach an.
Doch Kaspar ließ sich nicht aus der Fassung bringen, sondern bemerkte kalt: “Hie Uffhausen, hie Thurner! Willfahrt Ihr nicht unserm eidlichen Gelöbnis, so ziehen die Uffhäuser wieder heim!”
Damit wandte er sich zurück. Die Herren schritten, ohne sich nochmals umzukehren, der Burg zu, damit ausdrückend, daß sie die Verhandlungen als gescheitert betrachteten.
Die Bauernführer beratschlagten darüber, wie sie sich den beiden Streitpunkten gegenüber zu verhalten hätten. Dass sie Kuno nicht zum Feldhauptmann gewinnen könnten, wenn sie der Uffhäuser schnödem Verlangen willfahrten, das lag auf der Hand. Ebenso wollte es nach den Äußerungen des hochangesehenen Jägerbauers scheinen, als würden die Thurnerschen der Mehrzahl nach sich zurückziehen wenn solche Ausschreitungen stattfanden. Vielleicht ergriffen sie solchen Anlaß sogar als willkommenen Vorwand dazu, denn sie erweckten im allgemeinen den Eindruck, als hingen sie der ganzen Bewegung nur recht lau an, ja es frug sich, ob man nicht überhaupt Gefahr Iaufe, bei irgend einer sich darbietenden Gelegenheit von ihnen ganz im Stiche gelassen zu werden. Gleichwohl mußte man den üblen Eindruck vermeiden, den der Wiederabfall einer größeren Schar von der Bauernsache verursachen würde. Anderseits durfte man nicht verkennen, dass die Uffhäuser ganz hervorragend wünschenswerte Hilfskräfte bildeten. Sie waren nicht nur kräftige, wohlgenährte Leute, sondern die meisten von ihnen hatten sich bis in die letzte Zeit als Landsknechte herumgeschlagen, hatten dadurch schätzbare Erfahrungen in Führung der Waffen, namentlich der wichtigen Feuerwaffen, erworben, und sie besassen deren auch als Eigentum. So, Vorzüge und Nachteile gegeneinander genau abwägend, gelangte man endlich doch zu dem Beschlusse, die letzten äußersten Forderungen aufrecht zu erhalten, wonach Kuno sich als Feldhauptmann der Bauern zu stellen und außerdem das Fräulein auszuliefern habe.
Diese offiziellen Bedingungen überbrachte an Stelle des Herolds der Jägerbauer den Belagerten. Er fügte jedoch die geheime Auslegung bei, daß es den Bauernführern nur erwünscht käme, wenn ihnen die Möglichkeit zur Erfüllung des Ansinnens der Uffhäuser dadurch benommen würde, dass das Fräulein heimlich aus der Burg entwiche. Dass die Damen in diesem Falle auf seinem Freihofe vorläufige, gute Unterkunft finden und gegen männiglich Angrifse geschützt sein sollten, gab der biedere Jägerbauer zugleich deutlich zu verstehen. Eine alsbaldige Entscheidung seitens der Wiesnecker begehrte man nicht, sondern gönnte ihnen Zeit zur Überlegung, von dem Gedanken ausgehend, diesmal planmäßiger vorzugehen, als bei den seitherigen vereinzelten, flackerfeuerartigen Aufständen, die ohne eigentlich nachhaltigen Einfluß geblieben waren. Die Bauern warteten deshalb auf weiteren Zuzug aus näherer und weiterer Umgebung und befaßten sich in der Zwischenzeit mit Aufwerfen von Verschanzungen auf der West- und Südseite, zunächst zur eigenen Sicherheit und in einer Entfernung, die sie außerhalb der Tragweite der Geschütze brachte.
Auf der Gegenseite war man inzwischen auch nicht müßig geblieben, hatte Sendboten zu allen Anhängern der Familie Thurner geschickt, auch zu sonstigen weltlichen wie geistlichen Herren, von denen man sich Hilfe versprach. In gar beweglichen Worten hatte man ihnen die gefährdete Lage von Wiesneck geschildert und die Schlussfolgerung daran geknüpft, dass mit jedem neuen, der Rittersache erwachsenden Verlust die Bewegung der Aufständischen in ungleichem Maße gewinnen müsse. Doch einer der Boten nach dem andern kehrte zurück mit mündlichem oder schriftlichem Bescheid, stets dem lebhaften Bedauern mit dem Schicksal der Belagerten, zugleich aber dem noch größeren Leidwesen Ausdruck verleihend, dass man sich außer Stande fühle, gewünschten Entsatz zu entsenden, weil man dringend genötigt sei, auf die eigne bedrohte Sicherheit Bedacht zu nehmen.
Die Herren von Thurner sahen sich also auf sich selbst, auf die Festigkeit ihrer Mauern und auf die Ausdauer der Besatzung angewiesen. Allein so reichhaltig auch die aufgespeicherten Vorräte bemessen waren, so mußten sie in absehbarer Zeit zu Ende gehen - und was dann? Kuno allein hätte sich wohl durchschleichen und durchschlagen können; aber was sollte aus den Damen, was aus seinem Vater werden, der infolge der erlebten Aufregungen an einem hitzigen Fieber schwer krank darniederlag? Diese Erwägungen drängten Kuno, dem Winke des Jägerbauern zu folgen und vor allem, solange sich noch solche Aussicht bot, Frau von Schnewlin nebst Tochter auf den Freihof in Sicherheit zu bringen. Er entsandte daher durch den Notausgang einen vertrauten Boten an den Jägerbauern mit den nötigen Weisungen und der Bitte um kurze Benachrichtigung sobald alles für unauffälligen Empfang der Flüchtlinge bereit sein würde.
Wuchtig wie die Sorgen um die Zukunft auf ihm lasteten, betrachtete Kuno doch als seine schwerste Pflicht, den Damen die Schreckenskunde vom Untergange der Schnewburg mitzuteilen. So schwach er dabei auch die Farben auftrug, so überwältigend gestaltete sich doch die Wirkung der Nachricht, bedeutete sie doch nicht weniger als Vernichtung aller Erinnerungen an die Vergangenheit, trostlose Ausblicke in die Zukunft, Auslöschen des Namens! Anna selbst, aus allen Himmeln gestürzt, suchte lange vergeblich die fassungslose Mutter zu trösten; erst am folgenden Tage gelang es ihrem und Bruder Kilians warmen Zuspruchs deren Ruhe wieder einigermaßen herzustellen. Jetzt nahte auch Kuno und bat die gebeugte Frau, an Stelle des Verlorenen ihn als Sohn anzunehmen, ihn mit Annas Hand zu beglücken. Um den Bund zu besiegeln und, im Stillen hoffend, den Schwur der Uffhäuser Burschen gegenstandslos zu machen (der sich doch nur auf das Fräulein Anna bezog und manchem inzwischen leid geworden war, beschwor er sie, ohne Brautstand und ohne Hochzeitsfeier die Trauung durch Kilian alsbald vollziehen zu lassen. Die Mutter willfahrte der Bitte, und Kilian segnete den Bund ein. Mit Absicht verbreitete man im Bauernlager die Nachricht von der vollzogenen Vermählung, doch verstand es Kaspar seinen Spießgesellen die Kunde als eitle Erfindung hinzustellen, ersonnen, um sie in ihrem Entschluß wankend zu machen.
Wie die Dinge lagen, konnten sich die Thurnerschen Bauern, der Drohung des Jägerbauern entsprechend, vorläufig einer tätigen Beteiligung an der Belagerung enthalten; wie ihre Neutralität sich indessen im Ernstfalle gestalten würde, das ließ sich mit Bestimmtheit nicht voraussagen, namentlich soweit es die jüngeren Burschen betraf. Die Ibentäler dagegen hatten bestimmt erklärt, unter keinen Umständen mitzumachen, wenn man die Bedingung einer Gewalttat gegen das Fräulein aufrecht erhielte.
Die Führer des Bauernheeres hatten sich über letzteren Punkt weiter nicht geäußert, denkend, kommt Zeit, kommt Rat. Der argwöhnische Kaspar jedoch glaubte den Grund ihres Schweigens zu durchschauen. Dem Jägerbauern mißtraute er völlig, er argwöhnte, dass dieser etwas der Bauernsache Ungünstiges im Schilde führe. Er ließ das Tun und Treiben auf dem Hofe unbemerkt beobachten, verschmähte es auch durchaus nicht, solche Spähdienste, namentlich bei Dunkelheit, selbst vorzunehmen. So umschlich er gerade wieder einmal nachts den rings um den Bauernhof ziehenden tiefen Wassergraben, ganz wie der Fuchs ein Gehöft umschleicht, um eine Spalte zu finden, durch die er in den Hühnerstall eindringen kann. Da gewahrte er, wie ein Knecht durch das Tor schlüpfte und eiligen Schrittes den Weg herunterkam.
“Nun, was soll´s, Jörg, noch so spät am Abend? Willst wohl zu Deiner Liebsten im nächsten Ort?” redete er den ihm bekannten Knecht an.
Dieser, durch die Anrede außer Fassung gebracht, hielt es am besten, auf die Sache einzugehen; er gab eine derartige Absicht zu, bat aber, ihn nicht zu verraten. Kaspar schritt neben ihm her, über gleichgiltige Dinge redend. Als Jörg indes da, wo der nach Eschbach führende Weg rechts abbog, die Richtung nach links einschlug, klopfte der Schurke ihm auf die Schulter und rief: “Aber Jörg, Dein Schatz wohnt doch in Eschbach und Du gehst Wiesneck zu, wie hängt das zusammen, bist ihm doch nicht untreu geworden?”
Die Verwirrung des Knechts bestärkte den schlauen Kaspar in seiner Annahme, jenen auf einer Unwahrheit ertappt zu haben. “Jörg” nahm er wieder auf, “ich glaube, Du willst mich narren, ich weiß aber besser Bescheid, und Du darfst mir ruhig vertrauen. Du hast eine Botschaft an den Wiesnecker?“
Aus Jörgs Erschrecken auf die Richtigkeit seiner Vermutung schließend, fuhr Kaspar fort: “Das trifft sich gut, denn mir ist die ganze Sache bekannt und als ein guter Kerl der ich bin, kann ich Dir vielleicht den weiten Weg in der stockfinsteren Nacht ersparen, ohne dass Du um Deinen Botenlohn kommst. Hatte ich doch eine Anfrage vom Junker an Deinen Bauern und wollte just zu ihm, also sag’ mir getrost Deinen Auftrag und leg’ Dich ruhig auf’s Ohr; alles soll bestens besorgt werden.”
Durch das zuversichtliche Wesen Kaspars zutraulich gemacht, rückte der einfältige Knecht heraus: “Du hast´s freilich erraten. Hier ist ein Zettel, den ich Junker Kuno überbringen soll und den ich Dir schon anvertrauen möchte, wenn ich sicher wüßte, dass der Jägerbauer nichts davon erführe, sonst ginge es mir schlecht. Gern würde ich mich allerdings noch ein paar Stunden hinlegen, denn schon um ein Uhr nach Mitternacht beginnt meine Wache.“
Kaspar gab die bündigsten Versicherungen und erhielt daraufhin den Zettel ausgehändigt, während Jörg sich langsam entfernte. Kaspar jedoch eilte spornstreichs ins Lager hin zu dem verlaufenen Magister Longins, der die Schriftsachen der Bauern besorgte. Ihn befrug er, ohne ihm den Ursprung des Zettels zu verraten, über die Deutung der wenigen daraufstehenden Worte: Paratum est (Alles bereit). So kurz der Inhalt, so bedeutungsvoll erschien er Kaspar doch, denn er meinte den Sinn jener Bereitschaft dahin zu verstehen, dass es sich um Entweichung der Schnewburger Damen handle und zwar zunächst auf den Jägerhof. Der Bösewicht ging mit sich zu Rate, was zu tun sei. Sollte er den Jägerhof noch schärfer beobachten lassen und, falls die Ankunft der Flüchtlinge sich bestätigte, sie daselbst überfallen und der Wut der Uffhäuser preisgeben? Das schien ihm nicht geraten, denn er verhehlte sich nicht, daß die Hofgenossen sich sehr entschieden zur Wehre setzen und ihr hochgehaltenes Schirmrecht verteidigen würden, sowie dass dessen Verletzung die Thurnerschen Bauern unfehlbar völlig abtrünnig machen müsse.
Was bewies ihm denn die Richtigkeit der Mutmaßung, dass es sich um die Flucht der
Schnewburgerinnen handle, und wenn auch, daß sie ihren Weg über den Jägerhof nehmen sollten? Der Zettel, ohne Auf- und Unterschrift, trug lediglich die zwei lateinischen Worte, die im Grunde ebensogut nichtssagend als bedeutsam ausgelegt werden konnten. Welchen Anhalt boten sie für die Annahme eines Einverständnisses des Jägerbauers mit dem Junker? Das Zeugnis des halbsimplen Jörg erschien doch zu wertlos, als daß Kaspar einen Fall von Wichtigkeit daraus hätte schmieden und ihn der Entscheidung der anderen Bauernführers vorlegen mögen, zumal er diesen in Sachen der Damen misstraute. Er beschloß also die Sachlage mit List auszuforschen, um, wenn er den geringsten Anhalt über das Zutreffen seiner Auffassung gewänne, die Flucht zu verhindern und gleichzeitig dem achselträgerischen Jägerbauern einen gebührenden Denkzettel zu versetzen.
Kaspar wußte, dass der fromme Hans Bulgenbach sich noch spät abends im Lager umher zu treiben Pflege, um Bekehrungsversuche zu untenehmen. Darauf gründete er seinen Plan und richtig lief ihm denn auch Hans in die Hände, wie immer seine Bibel unterm Arm.
“Nun, noch so spät auf, Hans?” rief er ihm zu. ,
“Ei gewiß” lautete die Antwort, “habe noch versucht ein paar räudige Schafe zu bekehren, bin mit meinem Erfolg zufrieden und kann mich beruhigt auf die Streu strecken. So versteckt wie Du waren jene Sünder freilich nicht, denn bei Dir ist doch Hopfen und Malz verloren.”
“Das mein ich noch lange nicht, habe mir vielerlei Dinge anders überlegt. So denke ich jetzt auch anders über die Behandlung, die man der Schnewburgerin soll angedeihen lassen. Wie die anderen Führer, so glaube auch ich, es könnte der guten Sache nur nützen, wenn man der Jungfer zum Entkommen behilflich wäre.”
Der Gesichtsausdruck Hansens, den weniger seine Klugheit, als seine wirkliche Frömmigkeit und Ergebenheit an die Bauernsache zum Führer gemacht hatte, verriet Kaspar, auch ohne dass jener ein Wort erwiderte, daß er sich auf richtiger Fährte befinde. Er fuhr daher fort: “Ich habe mir ausgedacht, wie man die Sache ausführen könnte, und da der Jägerbauer doch einmal drum weiß,“ - er blickte Hans scharf dabei an, der unwillkürlich zustimmend nickte - “so habe ich mit ihm das Nötige verabredet. Schau, hier trage ich einen Zettel von ihm, den sein Sohn, der ja Gottesgelahrtheit studiert, geschrieben und den ich Junker Kuno ausliefern soll. Loginus hat mir den Inhalt gedeutet: Alles bereit”
“Gott Lob!” konnte sich Hans nicht enthalten auszurufen ,,nun aber eile, damit nichts versäumt werde.”
Wohl eilte Kaspar, nicht aber zur Burg, sondern zu seinen Uffhäuser Genossen und zog bald darauf mit einer Schar Auserwählter in aller Stille zum Jägerhof. Dort wußte er den Vertrauensseligen Jörg herauszulocken, indem er ihm zurief, der Auftrag sei bestens besorgt, er bringe ihm hier den Botenlohn. Kaum war Jörg jedoch vor die Türe getreten, als ihn auch schon ein Dutzend grober Fäuste erfaßte und niederschlug, ehe er einen Laut auszustoßen vermochte. So gelang es den Verschworenen leicht in den seines Wächters beraubten Hof einzudringen, ihn gleichzeitig an vielen Enden in Brand zu setzen und spurlos wieder zu verschwinden. Erst durch den hellen Schein und das Knistern der Flammen geweckt, blieb den Hausbewohnern knapp noch Zeit, das nackte Leben zu retten. Als die Morgensonne über den Berg emporstieg, beschien sie an Stelle des stattlichen Anwesens einen rauchenden Trümmerhaufen. Die Entstehungsursache des Brandes ließ sich nicht feststellen, weil der Wächter, der allein Aufschluss hätte geben können, halb verkohlt unter den Trümern gefunden wurde. Die Kunde des Brandes jedoch verbreitete sich mit Windeseile und gelangte auch nach Wiesneck; sie bewirkte natürlich das vorläufige Aufgeben des Fluchtplans.
Ritter Udo sollte nicht mehr vom Krankenlager auferstehen. Wie bei anderen gleichartigen Kraftnaturen, denen eigentliche Krankheit bis dahin fern geblieben, wirkte die andauernde Bettlägrigkeit erschlaffend, auf den Körperzustand und der Geist verlor die Spannkraft, jene Schwäche niederzukämpfen. So siechte er dahin, seiner Auflösung augenscheinlich entgegengehend. Die Damen suchten ihm seine Leidenszeit tunlichst zu erleichtern, ihn über die Ungewissheit von ihrer aller Schicksal wegzutäuschen und ihm alle unerfreulichen Dinge fernzuhalten. So hatte man ihm u. a. vorenthalten, dass auch Thurneck von den Aufständischen enge eingeschlossen sei, und dass man seit vielen Tagen sich ohne alle Nachricht von dort befinde.
Diese Ungewißheit sollte allerdings in höchst betrübender Weise beseitigt werden. Eines Morgens traf nämlich ganz unerwartet der Burgvogt von Thurneck ein. Staunte man schon, dass er ungehindert durch den Belagerungsring gelangen konnte, so noch weit mehr über die Kunde, welche er Kuno brachte. Vor wenigen Tagen hatte ein Herold der Bauern ein Schreiben des Freiherrn Udo an den Burgvogt übergeben. Klang auch dessen Inhalt außerordentlich befremdlich und widersprach er in jeder Hinsicht der ihm jetzt offenbar gewordenen Wirklichkeit, so durfte der Vogt doch die Echtheit nicht bezweifeln, denn das Schriftstück trug nicht nur das Handzeichen (drei Kreuze) sondern auch das Insiegel des alten Freiherrn. Kuno, der beide prüfte, musste die Richtigkeit der Behauptung des Vogtes zugeben. Auf welche Weise es gelungen war, die beabsichtigte Täuschung zu bewerkstelligen, darüber konnte man nur Vermutungen hegen.
Das Schreiben lautete: “Kund und zu wissen, dass es denen Bauern geltungen, mich in ihre Gewalt zu schlagen, in unziemlicher Haft zu halten mir ständig mit schimpflichem Tode dräuend, dafern ich mich weigere, ihren Forderungen zu willfahren. Junker Kuno liegt schwer wund darnieder und kann mich nicht befreien. So habe ich wohl oder übel die zwölf Artikel annehmen und zum Zeichen meiner aufrichtigen Gesinnung zugestehen müssen, daß vor meiner Rückkehr einem Fähnlein Bauern Einlaß in meine gute Burg Thurneck gewähret werde. Denselben ist gute Unterkunft und Verpflegung zu geben. Dagegen haben sie sich fein ehrbarlich zu verhalten und in allen Dingen dem Befehl des Burgvogts zu gehorchen. Mauern und Türme sollen die Bauern gemeinsam mit meinen Söldnern besehen, doch so, dass alleweile auf zwei Söldner ein Bauer komme. Also will und befehle ich es. Zu Urkunde dessen habe ich hierunter mein Handzeichen und Insiegel angebracht. Gegeben im Lager der Bauern vor Wiesneck am 12. Julius im Jahre des Heils 1525.”
Der Burgvogt hatte sich in einer höchst mißlichen Lage befunden. Die Burg dem Feind öffnen, hieß das nicht, trotz aller Vorsichsmaßregeln sie demselben preisgeben? Andererseits lag aber doch des Freiherrn ausdrücklicher Befehl vor. Durfte der Vogt da säumen zu gehorchen, wo es galt, seinen teuren Herrn unwürdiger Gefangenschaft oder gar dem drohenden Tode zu entreißen? Er hatte sich Bedenkzeit ausbedungen sowie um die Erlaubnis gebeten, einen Boten gen Wiesneck zu entsenden, um von Kuno Verhaltungsvorschriften einzuholen.
Darauf ging man jedoch nicht ein, sondern gestattete nur Bedenkzeit bis zum nächsten Morgen. Zwei vertraute Leute, die der Vogt gleichwohl heimlich aussandte, konnten ihren Auftrag nicht ausrichten, denn als der Vogt nach einer schlaflosen Nacht zum Fenster hinausblickte, sah er die beiden dem Eingange gegenüber an einer hohen Tanne baumeln. Da entfiel ihm der Mut, denn er musste sich sagen, dass eine Horde roher Gesellen, die so wenig Umstände mit Menschenleben machte, auch seinen geliebten Herrn kaum schonen möchten, wenn man ihren Forderungen nicht Genüge leiste. Wieder und wieder durchlas er den Brief. Dieser ließ keine andere Deutung zwischen den Zeilen erblicken, klar und bündig lautete der Befehl. Da entschloß er sich endlich schweren Herzens Udos Weisung nachzukommen, und dem Schock Bauern, an ihrer Spitze Jost Fritz, Einlass in die Burg zu gewähren, nachdem er den eigenen Truppen wiederholt größte Wachsamkeit ihnen gegenüber eingeschärft hatte. Männiglich erstaunte über die gute Manneszucht der Bauern und ihre Unterordnung unter seine Befehle, ganz entgegen den seitherigen Schilderungen. Wer hätte geahnt, dass dies auf eitel Trug und List beruhe, um die Burginsassen in Sicherheit zu wiegen und über der Bauern wahre Absichten zu täuschen. Diese verstanden es, einen Teil der jüngeren Mannschaft zu beschwatzen ihrer Sache beizutreten, dann die Torwachen zu überwältigen, die Zugbrücke herab und einige weitere Fähnlein der Ihren in die Burg hereinzulassen, deren Überzahl gegenüber die Besatzung sich genötigt sah, nach kurzem Kampf die Waffen zu strecken. Auf das Verhalten des Vogtes, dass man wider all’ Treu und Glauben gehandelt, bemerkte Jost Fritz höhnisch, die Besatzung gehorche ja dem Befehl des Vogts, denn er habe nun dessen Stellung übernommen, das entspreche ganz Ritter Udos Weisung. Man mute dem seitherigen Vertreter garnicht zu, zu verweilen, um die veränderten Dinge mit anzusehen, im Gegenteil, man wünsche sogar, dass er gen Wiesneck eile, um zu berichten, dass Thurmeck in Händen der Bauern sei. Man denke, daraufhin werde Junker Kuno die Haltlosigkeit seiner Lage einsehen lernen und auf die Vorschläge der Bauernführer eingehen.
Dieses unliebsamen Auftrages entledigte der Vogt sich jetzt; er unterwarf sich willig jeder Strafe, die ihm der Junker seiner törichten Leichtgläubigkeit halber auferlegen würde.
Kuno, von dieser Schreckensbotschaft ganz niedergeschmettert, verharrte einige Minuten in dumpfem Schweigen; dann sich ermannend, stieß er heraus: “Das war der schwerste Schlag, der uns treffen konnte; nun gebe ich unsere Sache völlig verloren. Doch bleibt uns keine andere Wahl, als zu kämpfen und kämpfend zu fallen. Weit besser ein rühmliches Ende, als gemeinsame Sache mit dergleichen Schandbuben zu machen; meine einzige schwere Sorge bleibt das Los meines Vaters und der Damen. Was dich betrifft,” so wendete er sich an den Vogt, “so hast du unklug gehandelt, doch verkenne ich nicht deine Zwangslage, eine Strafe erlasse ich dir.”
Dass Kuno richtig vermutete, wenn er das Schicksal der Belagerten als besiegelt betrachtete, bestätigte sich nur zu bald. In der gleichen Nacht hörte man ein merkwürdiges Hacken, Schürfen, Klopfen und Schlagen an dem der Zugbrücke gegenüberliegenden, durch die Pallisadenwand gedeckten, aber wegen Mangels an Leuten unbesetzten Bergeshange. Wiederholte Ausfälle, welche die Besatzung unternahm, um der Sache auf die Spur zu kommen und allenfallsige Nachteile zu verhindern, wurden durch die große Überzahl der Bauern mit bedeutenden Verlusten zurückgeschlagen. In größter Spannung sah man der Entwicklung der Dinge bei Tageslicht entgegen, und welch traurige Überraschung mußte man da erleben! Die Bauern hatten die Pallisaden niedergerissen, einen rauhen Weg an der Berglehne hergestellt und gerade der Zugbrücke gegenüber, hoch oben regelrechte Schanzkörbe aufgepflanzt, zwischen denen vier Geschütze hervorblickten. Diese, von Sachkundigen bedient, begannen alsbald ihr Feuer gegen die Burg spielen zu lassen. Was man für unmöglich gehalten, das war der gewaltigen Menge der Gegner, ihrer Ausdauer und Übung in Erdarbeiten gelungen, nicht nur die Herstellung jenes Wegs war vollbracht, sondern auch die beschwerliche Herbeschaffung der Geschütze, keiner anderen als derjenigen, welche seither zu Thurnecks Verteidigung dienten.
Diese Wahrnehmung konnte nicht ermangeln, die größte Bestürzung unter der Besatzung hervorzurufen, ja, manche Stimmen wurden laut, die von Übergabe redeten, zumal als ein Herold Kuno nochmals aufforderte, sich in Güte zu ergeben, und gleichzeitig denjenigen Söldnern, welche schon jetzt freiwillig die Burg verlassen wollten, ungehinderten Abzug zusagte. Da man jedoch irgendwelche Zusicherungen betreffs des Schicksals der Damen verweigerte, so lehnte Kuno jede weitere Verhandlung kurz ab, stellte es indes seiner Mannschaft frei, von dem angebotenen Freipaß Gebrauch zu machen. Nur einige wenige jüngere Knechte benützten diese Gelegenheit zu entkommen, die übrigen versprachen auszuharren.
Eine ungeahnte Wirkung hatte das Feuern aus den Thurnecker Kanonen auf Ritter Udo ausgeübt. Als die ersten Schüsse erschollen, fuhr er aus seinem Halbschlafe empor, richtete sich im Bette auf, und während die bleichen Wangen fieberhaft erglühten, brach er in die Worte aus: “Hussa! ich erkenne den Klang meiner Thurnecker Feldschlangen; bald werden diese die Feinde verscheuchen und seien’s ihrer noch so viele. Hie gut Thurneck allweg!”
Damit sank er tot auf sein Lager zurück, einen letzten freudigen Blick aus den gerade ins Zimmer tretenden Kuno werfend. Tiefbewegt kniete dieser mit Kilian und den Damen zum Gebete am Sterbelager des Vaters nieder. Dann aber sich aus seinem Kummer aufraffend, traf er die der Lage entsprechenden weiteren Maßnahmen. Vor allem gebot er, den leicht als schlimmes Anzeichen deutbaren Todesfall einstweilen gegen jedermann zu verheimlichen. Unbemerkt trugen die beiden Männer den in seinen Mantel gehüllten Leichnam hinab in die Höhle unter dem Turme; sie schaufelten in deren Sandboden ein Grab, und nachdem sie den Toten mit seinem Schwerte darein versenkt hatten, bedeckten sie es mit schweren Steinen. Kilian waltete dann seines geistlichen Amtes, während Kuno und die Damen betend und weinend die schmucklose Ruhestätte umstanden.
Es kann nicht unsere Sache sein, die Einzelheiten der noch eine Reihe von Tagen dauernden Belagerung zu schildern; wir müssen uns auf Mitteilung des Ausganges beschränken. Die Landsknechtkanoniere der Bauern hatten sich als gute Schützen bewährt; manche Bresche war in die Mauern gelegt und dadurch der Weg zur Unternehmung eines Sturmes vorbereitet worden; mancher in den Gebäuden ausbrechende Brand konnte nur mit Mühe gelöscht werden. Auch der Turm hatte erheblich gelitten; ihn zu erhalten, machten die Belagerten verzweifelte Anstrengungen, barg er doch außer dem Notausgange auch das Hauptpulvermagazin. Letzterer Umstand sollte sich als verhängnisvoll erweisen, denn eines Tages schlug eine Brandkugel in den Turm und entzündete das Pulvermagazin. Mit ohrenbetäubendem Knalle stürzte der größte Teil der Obergeschosse zusammen, einen verderbenbringenden Steinregen ringsum ergießend, nur die Quadern des Unterstocks hielten auch diesmal stand, wenngleich sie klaffende Risse zeigten. Schreck und Verzweiflung auf Seiten der Besatzung folgten dem Ereignisse. Eine große Anzahl Leute, unter ihnen Bruder Kilian, war ihm zum Opfer gefallen. Als aber nun gar eines der Wohngebäude nach dem anderen in hellem Brande aufloderte, da vermochte Kuno den Mut seiner Mannschaft nicht länger aufrecht zu erhalten. Sie zogen eine weiße Fahne auf, warfen die Waffen weg und ließen die Zugbrücke nieder, über welche sich die Bauernscharen wie ein Strom ergossen. Allen voran in gewaltigen Sätzen, einen wuchtigen Spieß schwingend, stürzte der rote Kaspar auf das Gebäude zu, worin er die Damen vermutete. Kuno, der ihn heraneilen sah und seine Absichten erriet, stach ihn auf der Schwelle nieder; dann riß er die Damen mit sich fort, zu eiliger Flucht durch die Höhle.
Kaum vermochte man hier zu atmen. Eine schwere Stickluft, verursacht durch eingedrungenen Pulverdampf, Rauch und eigentümliche dem Boden entsteigende Dünste herrschte in dem Raume. Trotzdem gelang es Kuno, die eichene Pforte zu öffnen und die betäubt schwankenden Frauen in den engen Gang zu ziehen. Gleich darauf prasselte der stehengebliebene obere Teil des Turmes nieder, unter Schutt und Staub altes ringsum bedeckend . . . .
Von den Flüchtlingen verlautete nie mehr etwas.
 
Im 19. und 20. Jahrhundert.
Die erbitterten Bauern, besonders erbost durch das unerklärliche Entkommen der Herren von Thurner sowie der Schnewliner Damen, ließen ihre Wut an den Gebäulichkeiten aus, nachdem sie alles Niet- und Nagellose weggeschleppt hatten. Trotz eifrigster Durchstöberung sämtlicher Keller und Winkel vermochten sie keine Spur der Flüchtlinge zu entdecken. Ebenso entging ihnen das Vorhandensein der Höhle und des Notausgangs, weil beim Einstürzen des Turmes die geheime Zugangstreppe und ein großer Teil der Höhle verschüttet und vollständig unzugänglich geworden war. Auch der Spürsinn solcher, die in späteren Zeiten nach verborgenen Schätzen gruben, ward an der gewaltigen Trümmermasse zu schanden. Was von Mauerwerk der Einwirkung des Feuers widerstand, wurde seitens der Zerstörer mit Pulver gesprengt und in den Graben geschleudert. Dadurch gewann die ganze Örtlichkeit ein völlig verändertes Gepräge; nur der Stumpf des alten Römerturmes, dessen gewaltigen Quadern auch die Zerstörungskraft des Pulvers nicht hatte beikommen können, erinnerte noch einigermaßen an frühere Zeiten. Aber niemand von den kommenden Geschlechtern dachte an Wiederaufbau der Burg. Ihr Bestehen erwies sich als keine Notwendigkeit, und der Aberglaube bezeichnete die Stätte so vieler blutiger Ereignisse als eine verrufene.
Während der mancherlei Deutschland durchtobenden schweren Kämpfe der folgenden Jahrhunderte spielte Wiesneck keine Rolle, außer daß ab und zu Marodeure ihren Raub hinaufschleppten, wobei sie sich in den Trümmern des Turmes und in den zerfallenen Kellergewölben vorübergehend aufhielten. Letztmals vollzog sich dies während der napoleonischen Kriege. In der diesen folgenden Friedenszeit baute sich ein Buchenbacher Bauer seinen Hof in die Nähe der Ruine und bediente sich der herrenlos umherliegenden Steine für seine friedlichen Zwecke.
Mit der zunehmenden Sicherheit des Landes, wie sie der Gesittung des Zeitalters entsprach, entwickelte sich etwas, was frühere Zeiten nicht empfunden zu haben schienen oder dem zu willfahren die Verhältnisse nicht recht gestatteten das Verlangen, die Natur durch eigene Anschauung kennen zu lernen. Man kam zu der Überzeugung, daß es nicht nur in fernen Ländern, auf klassischem Boden landschaftliche Schönheiten gäbe, welche eines längeren oder kürzeren Besuches wert seien, sondern daß auch unsre Wälder, unsere aussichtsreichen Höhen die Anstrengungen des Marschs reichlich entgalten, dass Körper und Geist sich durch die Bewegung in freier Luft, wie durch die gewonnene Anregung erfrischt und gehoben fühlten. In schwungvollen Liedern feierten unsre Dichter die Herrlichkeiten der Schöpfung, die Wonne des Wanderns in derselben, und der stets wanderlustige Germane bedurfte nur noch dieser Aufmunterung von berufener Seite, um sich seiner angeborenen Neigung schwärmerisch hinzugeben. Es äußerte sich darin ein unbewusster Freiheitsdrang. Da draußen im Schatten uralter deutscher Eichen, da droben auf luftiger Bergeshöh fühlte man sich erhaben über die kleinlichen Einschränkungen, welche sich die persönliche Freiheit gefallen lassen musste, und in deren Eindämmung ein Machthaber den anderen zu überbieten trachtete. Das war der Dank für das Blut, welches das deutsche Volk in Strömen geopfert hatte, um die wankenden, morschen Throne auf ’s neue zu befestigen! Gern unterstützte man von seiten der Regierungen den sich äußernden ungestümen Drang, welcher zu seiner Betätigung solch’ ungefährliche Gebiete erkor. Man machte die in Betracht kommenden Landstriche leichter zugänglich - wobei ja auch das liebe fiskalische Interesse gedieh - man erlaubte den Ausflüglern sich abseits der Pfade herumzutreiben, sich mit Blumen und grünen Zweigen zu schmücken, ja man gestattete sogar das Absingen sogenannter patriotischer Lieder, welche die Taten der angestammten Herrscher in Krieg und Frieden verherrlichten.
Allein, so fein auch die Diplomaten der alten Schule alles einzufädeln glaubten, wenn sie die Bürger in Ausübung solch harmloser Tätigkeit begünstigten, so hatten sie doch nicht mit dem Geiste des Jahrhunderts gerechnet, nicht mit den Empfindungen der Volksseele, welche sich wohl zeitweise knebeln, aber dadurch nicht beseitigen läßt. Wohl kann man einen Wildbach in ein kunstgerecht vertieftes schnurgerades Bett einzwängen; gefahrlos fließt er darin zur Freude seines Schöpfers, des genialen Wasserbautechnikers, auch bei heftigen Gewitterregen, ja selbst zu Zeiten der Schneeschmelze, solange diese sich in herkömmlicher Ordnung vollzieht. Hat aber der Winter ungewohnt hohe Schneemaßen aufgehäuft und durch strenge Kälte erhalten, und braust dann im Frühlinge der Tauwind tagelang darüber hin, dann schwellen die Wasser in einem Maße und mit solcher Plötzlichkeit, dass sie auch die höchsten und festesten Dämme überfluten oder durchbrechen.
Ganz ebenso im Völkerfrühlinge: Die wahren deutschen Dichter hatten von Deutschlands großer Vergangenheit gesungen, doch beschränkten sich ihre Lobpreisungen nicht lediglich auf die Taten der Fürsten, nein, sie erinnerten auch das Volk an seine Leistungen, an seine getreulich erfüllten Pflichten und an die ihm dafür gebührenden unveräußerlichen Rechte. Mit der Erkenntnis dieser Seite ihres kraft höherer Eingebung ausgenbten Berufs war über die Sänger auch warme Begeisterung für ihn gekommen. Und wie wahrhafte Begeisterung, die Hörer mitreißend, kräftigen Widerhall erweckt, so fielen der Barden Worte befruchtend auf den schlummernden Keim im innersten Herzen des Volks. Ehe noch die verknöcherten Schergen der Gewalt hinter ihren grauen Brillen das Herannahen des Völkerfrühlings ahnten, war er schon blühend und strahlend eingezogen und hatte mit Windeseile das aus seinem Traum erwachende ganze Vaterland erhellt. Zündend wie ein elektrischer Funke flammte der Freiheitsgedanke an den Hochschulen auf. Das verpönte Schwarz-Rot-Gold der treuesten Hüter jenes Gedankens, der Burschenschafter, gelangte zu neuer einigender Bedeutung. „Gut und Blut für´s Vaterland“ lautete ihr Wahlspruch, und viele haben durch ihren Heldentod bewiesen, daß es ihnen ernst war mit dessen Erfüllung.
Das waren allerdings Kraftnaturen, deren wallende Haare und Bärte ihre Kommilitonen von heutzutage verlachen mögen. Unter diesen Haarwäldern waltete jedoch geistige Regsamkeit, Verständnis für die Erfordernisse ihrer Zeit sowie Mut und Kraft zur Erreichung der gesteckten Ziele. Diese umfassten allerdings andere Gedanken als solche, wie man das Geld des „Alten“ am schnellsten verjubelt, welcher Sekt, welche Bowlenmischung vorzuziehen, mit welcher albernen Handbewegung der mißgeformte „Stürmer“ abgenommen und aufgesetzt werden müsse; zu ihren Beratungen bedurfte es auch keines mit aller Verfeinerung eingerichteten Korpshauses und dergleichen mehr! Unter denjenigen Freiburger Studenten, welche der freiheitlichen Entwicklung des Vaterlandes mit Leib und Seele zustrebten, zeichnete sich Ottmar Lanz vor allen aus. Er stammte aus guter dortiger Familie, hatte die Abgangsprüfung des Lyceums glänzend bestanden und oblag nun dem Rechtsstudium mit regem Eifer und bestem Erfolge. Den Grundzug seines Charakters bildete eine schrankenlose Begeisterung für alles, was Deutschlands Vergangenheit und Zukunft betraf. Wie aus seiner Seele gesprochen lauteten ihm Arndt´ s Worte „Sein Vaterland muß größer sein!“ Mit allen Mitteln wollte er dessen Größe, Einheit und Freiheit erstreben und verlorne Gebiete dem Reiche wiedergewinnen, vor allem das Elsaß. Bei allen damals wie heute durch die Welt ziehenden Redensarten von Verbrüderung der freien Völker, wurmte ihn doch immer der Gedanke, daß jener urdeutsche Landstrich, der Wasgau unwiderbringlich Frankreich einverleibt bleiben sollte.
Urdeutsch, wie das fruchtbare Elsaß war, hatte es sich sein deutsches Wesen bewahrt, trotz aller „Segnungen“ der französischen Kultur. Diese Beobachtung hatte sich Ottmarn in reiferen Jahren bei verschiedenen Anlässen aufgedrängt. Einmal gelegentlich einer Wanderschaft, als die bezeichnende Antwort eines auf französisch nach dem Wege Befragten lautete: „I redd nit welsch!“ Noch deutlicher aber trat dieser Zug bei einer anderen Gelegenheit zutage, bei der Fahnenweihe der Nationalgarden des Wasgaues in Thann, als das Städtchen einschließlich seines ehrwürdigen Münsters in Blau-weiß-rot förmlich schwamm. Zur Erhöhung der nationalen Begeisterung war auf Regierungskosten Freibier gespendet worden, welchem die zu hunderten herbeigeströmten jungen Burschen, sämtlich in blauen Kitteln (offiziell Blousen benannt) und kantonweise an der verschiedenen Farbe der Kragen kenntlich, eifrig zusprachen. Jedenfalls wussten sie dem heimatlichen Getränke mehr Geschmack abzugewinnen als den französischen Reden der eigens mit den Fahnen aus Paris entsandten Offiziere. Auch bei den von diesen angestimmten patriotischen Liedern, selbst bei der Marseillaise fiel keiner ein. Als aber von Ungefähr ein frischer Münstertäler, rittlings auf hoher Faßpyramide sitzend, „Im Wald und auf der Haide“ begann, da schien von allen der Bann des Fremdländischen gewichen, und jubelnd schloß sich die ganze Volksmenge an, dass es brausend über den Festplatz scholl.
Ottmars glückliche Jugendzeit hatte sich ganz im Dreisamtale abgespielt. Alle dasselbe umkränzenden Berge hatte er häufig erstiegen, ihre Pflanzen- und Tierwelt kannte er genau. Mit besonderer Liebhaberei betrieb er dabei die Durchforschung der Trümmer zerfallener Burgen auf jenen Gipfeln. So der Kybburg, von deren schier unzugänglicher Höhe aus einst der sagenhafte Herzog Ernst von Schwaben seinem kaiserlichen Vater getrotzt hatte; der Schnewburg, mit deren Zerstörung der Bauernkrieg begonnen; des Zähringer Schlosses, wo einst die Wiege des badischen Herrscherhauses stand; vor allem aber der Burg Wiesneck. In unmittelbarer Nähe der Trümmerstätte hatte, wie eingangs dieses Abschnitts erwähnt, der „Burgbauer“ seinen geräumigen Hof erbaut, der Vater des jetzigen Inhabers. Zwischen jenem, ja sogar schon zwischen dem Großvater des Bauern und der Familie Lanz hatten stets rege Beziehungen bestanden, und mit echt bäuerlicher Zähigkeit wurde diese geheiligte Ueberlieferung festgehalten, sorgsam gepflegt und auf die beiderseitigen Nachfolger übertragen. Auch zwischen Ottmar und des Burgbauern, einige Jahre älterem Sohn Vinzenz bestand treue Freundschaft, welche sich auf dessen Seite umsomehr in unbegrenzte Hochachtung und Bewunderung wandelte, als Ottmar es verstand, der Ueberlegenheit seines Verstandes und Wissens jeden herben Beigeschmack fernzuhalten. Die Stellung der beiden zu einander entsprach ganz dem Verhältnisse wie es Vinzenzens noch lebende hochbetagte Großmutter von einem Junker v. Thurner und seinem mit ihm aufgewachsenen Leibknappen und Vertrauten erzählte, der seinem Herrn das Leben gerettet hatte, indem er die diesem geltenden Streiche mit seinem eignen Leibe auffing. Wie glänzten Vinzenzens Augen bei diesem Berichte: würde er doch in gleicher Lage dasselbe für seinen Freund tun! Fühlte er sich doch umsomehr dazu berufen, weil die Großmutter als gewandte Erzählerin jenem getreuen Knappen die etwas verwachsene Gestalt Vinzenzens anzudichten wußte.
Vinzenzens Großmutter und ihre spannend vorgetragenen eignen Erlebnisse aus den Kriegszeiten, ihre Märlein und Sagen, zumal diejenigen über Burg Wiesneck übten eine besondere Anziehungskraft auf Ottmar aus, und gerne lauschte er ihr, wenn er so manchen Sonntag oder gar einige Wochen während der Ferien auf dem gastfreien Hofe zubrachte, bei welchen Gelegenheiten er mit Lust und Geschick an den bäuerlichen Arbeiten teilnahm. Von Wiesnecks Erbauung in grauer Vorzeit wußte die Alte zu berichten; freilich hatten nach ihrer Auslegung nicht die ihr unbekannten Römer den festen Turm errichtet, sondern Satan in höchsteigener Person mit seinen höllischen Scharen. Daß dem so sei, hatte man bei den öfteren Zerstörungen der Burg erprobt: die Quadermauern des Turmsockels hatten der Gewalt des Feuers, ja des alles sonst bezwingenden Pulvers widerstanden. Auch als die Bauern die Burg erstürmten, mußte der Teufel wohl seine Hand mit im Spiel gehabt haben, denn als man die Burginsassen, die man noch eben an einem Fenster des Hauptbaues gesehen hatte, ergreifen wollte, waren sie in einer Schwefelwolke entschwunden. Den roten Kaspar aber, den riesigen Anführer der Uffhäufer, der allen voran geeilt war, um den Junker, seinen grimmig gehassten Feind, zu fassen, fand man mit grässlich entstellten Zügen, das Gesicht im Nacken, tot am Boden liegen...
Dass die durch derartige Erzählungen lebhaft erregte Phantasie der Knaben sich in entsprechenden kriegerischen Spielen äußerte, darf nicht befremden Ottmar übernahm dabei die dankbare Rolle des letzten Thurners, der, nur von seinem Leibknappen Vinzenz unterstützt, sich und die Seinen zu retten suchte und im Turminnern barg, während ein Dutzend Buchenbacher Knaben - in deren Schar der rote Kaspar natürlich nicht fehlte - seine Absicht zu vereiteln trachtete.
Jene schönen Tage waren allerdings längst dahingeschwunden. Der Ernst des Lebens, den Geboten der aufgeregten Zeit folgend, trat ungewöhnlich früh an die beiden Freunde heran, wie denn weltbewegende Ereignisse den denkenden Menschen frühzeitig reifen. Das erprobte selbst Vinzenz in seiner vergleichsweisen Abgeschiedenheit, während es bei Ottmar in der geistig regsamen Universitätsstadt, im ständigen Verkehre mit gleichgesinnten Genossen nicht wundernehmen konnte.
In allen Leibesübungen bewundert und für den Soldatenstand ganz hervorragend veranlagt, hatte er lange geschwankt, ob er nicht diesen als Beruf ergreifen sollte; allein sein Hang für Unabhängigkeit bestimmte ihn, um letztere zu bewahren, ihr jene Neigung zu Opfern. Jetzt kam ihm jene Veranlagung trefflich zu statten. Mit der mißglückten Erhebung vom Jahre 1848 war nur das Vorspiel der großen Umwälzung zu Ende gegangen, welche sich allenthaIben vorbereitete, und welcher durch zeitgemäße Zugeständnisse vorzubeugen die Regierungen sich nicht entschließen mochten, oder doch in einer Form, die sie kaum als ernstgemeint erscheinen ließ. Die herrschenden Kreise begünstigten die Ausgestaltung der altertümlichen Bürgerwehren - im Gegensatz zu den verpönten und bemißtrauten Turnern -, wähnten sie doch in ihrer Kurzsichtigkeit darin einen Schutzwall gegen die Umstürzler zu schaffen, als welche man sich nur die Hefe des Volkes vorstellen konnte. Freilich rekrutierte sich die Bürgerwehr nur aus angesessenen Leuten, welche nach Erfüllung mancherlei zopfiger Vorschriften und Zahlung eines Bürgergeldes der Aufnahme als Bürger würdig befunden worden waren. Zur Vervollständigung der Reihen hatte man in der neuesten Zeit auch Bürgersöhne aus „zuverlässig“ erachteten Familien herangezogen. Ein alter Erfahrungssatz lehrte ja, daß Leute, welche etwas zu verlieren haben, keine Umstürzler sind, weil sie eben beim Drunter- und Drübergehen selbst mit herhalten müssen. Hier erwies sich diese Wahrnehmung als trügerisch, denn der Freiheitsgedanke war in alle Bevölkerungsschichten eingedrungen, und die Bürgerwehren betrachteten es als ihre Aufgabe, nächst dem äußeren auch den inneren Feind, die Gegner der Volksrechte zu bekämpfen.
Ottmars Befähigung hatte ihm, trotz seiner Jugend, die Aufnahme und bald eine Leutnantstelle in der Bürgerwehr oder Volkswehr, wie sie jetzt hieß, gesichert, und er wußte seiner Abteilung eine ganz besonders gute Ausbildung zu geben. Die Abende wurden meist der Erörterung politischer Fragen gewidmet, wobei die „Grundrechte“ ein unerschöpfliches Thema bildeten, und wobei des jungen Leutnants scharfsinnige Auseinandersetzungen allgemeines Aufsehen erregten. Auf vielseitigen Wunsch mußte er auch Vorträge über die Zeitfragen in Vereinen der Stadt und Umgegend halten.
Er war das Urbild eines Volksredners. Seine männlich-schöne Erscheinung, das edel geschnittene Profil, die feurigen Augen, das blonde Lockenhaar, das wohlklingende Organ sicherten ihm ebenso wie die von wahrer Begeisterung getragenen Darlegungen allseitige Zuneigung, allseitige Zustimmung. Als das erste deutsche Parlament zusammentrat, regten sich viele Stimmen für seine Entsendung dahin. Allein er lehnte bescheiden ab zugunsten älterer, seiner Äußerung nach berufenerer Vertreter der Volkssache in jener Versammlung, während er es als seine Aufgabe bezeichnete, die Massen an Ort und Stelle weiter aufzuklären und auf alle Möglichkeiten vorzubereiten. Schon bei dem 1848er Aufstande hatte er sehnlichst gewünscht, sich den Heckerschen Scharen anzuschließen, um mit den Waffen in der Hand die Rechte des Volkes zu vertreten. Eine heftige Erkrankung hatte ihn verhindert teilzunehmen, aber am Tage des Gefechts bei Staufen hatte er sich mit Aufbietung aller Kräfte auf den Schloßberg geschleppt, um wenigstens zu hören, wie man kämpfte. Jetzt wollte er unter keinen Umständen mehr fehlen seine Pflicht zu erfüllen, und er ahnte bereits, dass wiederum die Waffen mitreden müßten.
Die Verhältnisse spitzten sich zu, die Gegensätze verschärften sich, das Militär meuterte. Da flohen der Großherzog und mit ihm seine Anhänger. Eine provisorische Regierung für Baden wurde eingesetzt. Die Pfalz ahmte das Beispiel des Nachbarstaates nach und es schien, als ob die Sache der Revolution triumphieren solle. Allein der Erfolg scheiterte an dem alten Uebel der Kleinstaaterei, der Zersplitterung und der Sonderwünsche, welche jedes Land für sich hegte.
Trotz der in allen Reden und Liedern gepriesenen Einheit und Einigkeit des deutschen Vaterlandes erwiesen sich doch nur wenige als wirklich gute Deutsche, bereit ihre Einzelinteressen für die Allgemeinheit preiszugeben. Nach wie vor traten Hessen, Baiern, Württemberger und wie sie alle hießen, mit ihren besonderen Forderungen hervor. Da wollte keiner seine Lieblingswünsche Opfern, wenn er auch eine gründliche Änderung der bestehenden Dinge erhoffte. Vorab ließ man die mutigen Badener die Kastanien aus dem Feuer holen, sich vorbehaltend, je nach dem Ausfall des Versuches mitzutun oder nicht. Die Bevölkerung mancher Staaten stand der Bewegung sogar geradezu feindlich gegenüber, und die Badener sahen sich deshalb auf ihre eigenen Hilfsquellen und auf Mitwirkung solch’ abenteuerlustiger Elemente angewiesen, wie sie sich namentlich in den sogenannten Legionen aus In- und Ausland breit machten. Diese Genossen, welche ihre zumteil mehr als zweifelhafte Beschaffenheit unter dem weiten Deckmantel des Begriffes „Freiheit“ zu verbergen suchten, sowie die Übertragung des Oberbefehls über das Heer an einen des Deutschen völlig unkundigen Polen Mieroslawski, trugen dazu bei, dem badischen Aufstande viele wertvolle Sympathien von vornherein zu entziehen.
Als die Nachricht vom Abfalle der Karlsruher Garnison - worunter doch die Erlesenen der Garde - nach Freiburg gelangte, gährte es bedenklich unter den daselbst liegenden Truppen, deren Verkehr mit den verschrieenen „Wehren“ schon vorher die Offiziere beängstigt hatte. Der in Freiburg kommandierende General von Gayling hoffte trotzdem seine Soldaten dem Großherzog erhalten zu können, wenn er sie nur rasch und dauernd der revolutionären Sache entzöge. Wie seinerzeit Moses die Israeliten wollte er seine ebenso disziplinlose Schar, wenn auch nicht durch´s balkenlose Rote Meer, so doch durchs Höllental in’s gelobte Land Württemberg entführen. Dort war es trotz mancherlei aufreizender Reden, trotz verschiedener Putsche doch zu keiner eigentlichen Umwälzung gekommen, wenn der König auch ein gut Teil Zugeständnisse machen mußte. Das Heer aber war ihm vollkommen treu geblieben, wie denn dem am Hergebrachten hängenden Schwaben die schwarzroten Landesfarben alles, die deutschen blitzwenig galten.
Mit diesen Mustersoldaten wollte General von Gayling seine Truppen zusammenbringen, um durch deren lobenswertes Beispiel seine schwarzen Schafe wieder in unschuldsvolle Lämmer umzuwandeln. In Ausführung dieses schönen Planes marschierte denn in der Frühe des 7. Juni die gesamte Garnison, einige tausend Mann Infanterie und Artillerie das Dreisamtal hinauf, angeblich zur Vornahme von Manövern auf der Schwarzwald-Hochebene. Die Führer der Umsturzpartei hatten aber von der eigentlichen Absicht Kenntnis erhalten und setzten darum alles zu ihrer Verhinderung in Bewegung; der Verlust einer so stattlichen Schar genbter Streiter erschien ihnen doch gar zu bedenklich für die Sache der Freiheit. Gewandte, den Truppen nachgesandte Sendboten wussten also die Nachricht zu verbreiten, man beabsichtige die Ahnungslosen im Höllental-Engpaß von vorn und im Rücken durch Württemberger, namentlich Artillerie, angreifen und niedermachen oder gefangen nehmen zu lassen.
Nach Lage der Dinge an sich, wie hauptsächlich der Örtlichkeit erschien eine solche Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Die Badener machten daher unweit der alten Römerstadt Tarodunum Halt und erklärten ihrem General, sie hätten seinen feinen Schachzug wohl durchschaut; sie wollten deshalb lieber im hübsch breiten Dreisamtale bleiben und nach Freiburg zurückkehren, es ihren Offizieren überlassend mitzuziehen oder den Württembergern zu folgen. Vergeblich erwiesen sich Gaylings und anderer Befehlshaber Bemühungen, ihnen solch’ irrige Meinung auszureden. Sie blieben fest und machten kehrt. Nur wenige, meist jüngere Offiziere, aber nahezu alle Unteroffiziere schlossen sich ihnen an, die übrigen zogen nach Württemberg.
So marschierten denn die der deutschen Reichsverfassung treuen Badener in größeren und kleineren Trupps in ihren langen, weiten, gelbgrauen Mänteln mit den gekreuzten weißen Bandelieren in strömendem Regen singend und jauchzend die Schiff- und Kartäuserstraße herunter. Überall wurden sie angehalten, nach den Vorgängen befragt, belobt und bestens bewirtet. Noch in der Nacht wählten sie ihre Führer, und mancher, der als bescheidener Subalterner schlafen ging, erwachte als Leutnant oder gar als Hauptmann, während man zu den höheren Posten vorwiegend die der Volkssache anhängenden Offiziere erkor. Da konnte man sie mit breiten schwarz-rot-goldenen Schärpen, als Abzeichen ihrer neuen Würden, über die festlich geschmückte Kaiserstraße einherstolzieren sehen. Aus allen Fenstern wehten dreifarbige Fahnen, selbst der alte Münsterturm ward von einer riesigen Fahne umflattert. Und wie prächtig nahm er sich erst am Abende aus, als er gleich wie die ganze Stadt in einem Meere von Illuminationslämpchen erstrahlte, während patriotische Lieder überall erschollen und Jubelrufe zum Himmel jauchzten, stimmungsvoll begleitet durch das Läuten aller Glocken.
Die neue Regierung berief nun alle waffenfähigen Männer vom 18. bis zum 30. Jahre zu den Fahnen, die sogenannten Freischarer. Die Stimmung unter diesen war sehr verschieden: während manche nur missmutig dem Rufe folgten, flossen andere über vor Heiterkeit, sangen und sprangen und tanzten abends beim Klange einer Ziehharmonika ausgelassen mit den Arbeiterinnen im Hofe der Fabriken, wo sie einquartiert waren. Ihre Kleidung bestand aus schwarzem breitrandigem „Heckerhute“ mit dreifarbiger Kokarde und aus blauem Kittel mit Leibgurt, die Bewaffnung bildete Flinte und Säbel, bei manchen eine aufrecht am Stiele befestigte Sense, eine den Polenkriegen entlehnte, sich aber hier wenig bewährende Waffe. Auf dem Karlsplatz zu Freiburg wurde Musterung gehalten und die taugliche Mannschaft nach Kompagnien, dann zu Bataillonen und Regimentern zusammengestellt. Aus gedienten Soldaten und Teilen der Volkswehr wurde ein als ziemlich kriegstüchtig zu betrachtendes Regiment geschaffen und zu dessen Oberst Ottmar Lanz ernannt. Schon nach wenigen Tagen rückte dieses Regiment auf Befehl des Obergenerals Sigel nach dem vermutlichen Kriegsschauplatze ab, in die Gegend von Mannheim, wo man den Einmarsch der vom vertriebenen Großherzog zu Hilfe gerufenen Preußen usw. erwartete. Diesen Bestimmungsort erreichte aber Ottmars Schar nicht, weil die oberste Heeresleitung in ihrer Unzulänglichkeit und Zerfahrenheit es nicht verstand, dem Feinde Widerstand zu leisten, sondern nach kurzen Kämpfen auf der ganzen Linie zurückwich und ihre Truppen, soweit diese, von der Erfolglosigkeit ihrer Mühe angeekelt, sich nicht verlaufen hatten, in die Festung Rastatt warf.
Der jugendliche Oberst war den sich ständig widersprechenden Befehlen folgend erst nach Heidelberg marschiert, dann nach der württembergischen Grenze ausgebogen und schließlich wieder in westlicher Richtung gerückt, ohne weder mit dem Feinde, noch mit dem eigenen Heere Fühlung zu bekommen. Der letzte Befehl wies ihn an, die Besatzung von Rastatt zu verstärken und so geriet auch er in diese für die Badener so verhängnisvolle Mausefalle. Bei einem Ausfalle wurde er verwundet und gefangen genommen. Es gelang ihm jedoch, nach seiner Wiederherstellung zu entkommen. Sich wieder in die Festung zurück zu begeben, wollte ihm jedoch nicht glücken, und um nicht abermals in die Hände der Preußen zu fallen, versuchte er es, sich nach Freiburg durchzuschleichen, welches er noch in Händen der Aufständischen wähnte.
Die Absicht, in seine Heimatstadt zu gelangen, erreichte er zwar, allein in wesentlich anderer als der gewünschten Weise, nämlich als Gefangener der Preußen, welche Freiburg erobert, das noch vorhandene Insurgentenheer geschlagen, zersprengt und, soweit nicht gefangen, samt den Mitgliedern der provisorischen Regierung über die Grenze getrieben hatten. Nach einigen Wochen strenger Haft in dem überfüllten Gefängnisse entfloh Ottmar abermals, dank seiner Bekanntschaft mit einem sich besonders bärbeißig anstellenden Wärter und dank seiner turnerischen Gelenkigkeit. Zunächst verbarg er sich in der Wohnung einer ehemaligen Lanzschen Dienstmagd, welche sich mit Vinzenz ins Einvernehmen setzte, der seiner Körperbeschaffenheit wegen nicht unter die Freischaren aufgenommen worden war und deshalb nach wie vor häufig in die Stadt kam, um unter anderem die Lanzsche Familie mit allerhand Haushaltungsbedarf zu versehen. Eines Morgens, als noch die Sterne am Himmel blinkten, lenkte ein sogenanntes Berner Wägelein in flottem Trabe von der rechts ins Höllental führenden Heerstraße links ab und hinauf zum Burgbauern. Heraus sprangen zwei junge Burschen in der damals noch allgemein getragenen schmucken Tracht der Talbauern, breitrandigem Hute, schwarzer Jacke mit Münzenknöpfen, roter Weste und Kniehosen, der verwachsene Vinzenz und sein Vetter Joseph, in Wirklichkeit Ottmar, den die Entfernung seiner Locken und seines Flaumbarts nahezu unkenntlich machte. Noch vor Sonnenaufgang siedelte unser Freund in Gesellschaft eines an ihn sehr anhänglichen wachsamen Spitzhundes in die Trümmerstätte Wiesneck über, deren einen unterirdischen Raum der treue Vinzenz so sicher und so behaglich, als es die Umstände gestatte1en, für die Aufnahme des Flüchtlinge hergerichtet hatte. Dieser wollte von seinem sicheren Schlupfwinkel aus die Weiterentwicklung der Dinge abwarten und seine Entschlüsse davon abhängig machen, d. h. je nachdem sich den Behörden stellen oder seine Flucht über die Grenze fortsetzen.
Diesen letzteren Weg schlug bei weitem die Mehrzahl derjenigen ein, welche Ursache zu haben meinte, sich dem Bereiche der die Ordnung in Baden gewaltsam Wiederherstellenden zu entziehen, deren Gerechtigkeitssinn und Milde kein guter Ruf vorausging. Für eine Flucht kamen Frankreich und die Schweiz in Betracht. In beiden Fällen erschwerte der mächtige, mit reißenden Geschwindigkeit dahinbrausende Grenzstrom das Entkommen. Dem Flüchtlinge mußte da, wenn es ihm überhaupt gelang, der Aufmerksamkeit der Wachen zu entgehen, vor allem ein Kahn zur Verfügung stehen, denn das Durchschwimmen war undenkbar, ebenso die Benützung einer der wenigen Brücken, weil niemand ohne einen genauen Ausweis oder Paß oder ausdrückliche Erlaubnis sie überschreiten durfte.
Die leichteste Gelegenheit zur Flucht boten die auf dem rechten Rheinufer liegenden Gebiete der Kantone Basel und Schaffhausen, allein man kann sich denken, mit welch’ väterlicher Fürsorge deren Grenzen bei Tag und Nacht abpatrouilliert wurden. Einige Schiffer, welche Unkenntnis des Verbots und Verlockung durch das gebotene hohe Fährgeld vorschützend, Flüchtlinge über den Rhein gesetzt hatten, wurden schwer bestraft und im Wiederholungsfalle mit standrechtlicher Behandlung bedroht. Das schien die erwartete Wirkung zu haben, denn niemand wollte mit den verrufenen Standgerichten in Berührung kommen.
Aber auch die straffste Bogensehne erschlafft mit der Zeit. Die scharfen Bewachungsvorschriften wurden nach Verlauf einiger Wochen, - als die Annahme berechtigt erschien, daß kaum noch einer der wichtigeren Aufständischen sich innerhalb Badens auf freiem Fuße befinde, oder dass einer noch jetzt Veranlassung, nähme das Weite zu suchen - zwar nicht zurückgezogen, wohl aber von den ausführenden Organen weit weniger strenge beobachtet. Im Schutze der Dunkelheit überschritt dann noch mancher die Grenzen, mochte ihn nun Besorgnis wegen seiner Teilnahme am Aufstande oder Widerwille gegen die sich breitmachende Gewaltherrschaft vertreiben.
Diesem Beispiele wollte auch der Wiesnecker Einsiedler folgen, wenn die Verhältnisse es bedingen würden, das heißt je nachdem die über seine gefangenen Genossen gefällten Urteile ausfallen und eine Beurteilung des auch seiner wartenden Schicksals ermöglichen würden. Erweise sich die Strafe als keine zu harte, namentlich als keine entehrende, so würde Ottmar vorgezogen haben sich zu stellen, anstatt in die Selbstverbannung zu wandern. Er verfolgte deshalb mit regster Aufmerksamkeit die Verhandlungen der Standgerichte in Freiburg und in Rastatt aus Berichten öffentlicher Blätter, welche Vinzenz ihm verschaffte. Immer düsterer gestaltete dieser trübselige Lesestoff unseres Helden Stimmung, denn so genau er forschte, bis jetzt war er auf keinen Freispruch gestoßen, auch bei den am geringsten Beteiligten, wohl aber auf Verurteilungen zu zehn, zwanzig und mehr Jahren Haft, und zwar im Zuchthause abzubüßen, also als Genosse gemeiner Verbrecher! Und nun gar die mit unheimlicher Schnelligkeit erfolgenden und vollzogenen Todesurteile an Dortu und Neff in Freiburg! Jetzt wußte er sich den scharfen Knall zu erklären, den er unlängst kurz nach Tagesanbruch vernommen, als starker Westwind jeden stärkeren Laut durch die Morgenstille herauftrug: Schüsse hatten dem Leben eines seiner braven Kameraden ein jähes Ende bereitet.
Die nähere Aufklärung brachte ihm am folgenden Tage Vinzenz, der es sich angelegen sein ließ, so oft als irgend möglich nach Freiburg zu wandern, um seinem Schützlinge neben Nachrichten allgemeiner Natur, namentlich solche von seinen Angehörigen zu bringen. Da man dem entflohen gewähnten Sohne nichts anhaben konnte, suchte man sich einstweilen einigermaßen an den Eltern schadlos zu halten, obwohl dieselben in keiner Weise größeren Anteil an der Revolution genommen hatten, als die übrigen, der Mehrzahl nach freidenkenden Einwohner. Man belegte sie mit einer bedeutenden Anzahl Mannschaften, sogenannter „Strafeinquartierung“. Nun traf es sich aber, daß diese nicht aus eigentlichen Altpreußen, sondern aus Wetzlarer Schützen bestand, deren Wesen sie den Süddeutschen näher brachte, die auch aus ihrer freien Richtung kein Hehl machten und sich bitter beschwerten über die Henkerrolle, die man ihnen zumutete. „Denkt Euch,“ erzählte der Wortführer, „wir mußten gestern in aller Herrgottsfrühe ausrücken, 9 Mann, l1Unteroffizier und ein 1 Leutnant. Vom Gefängnis aus begleiteten wir einen geschlossenen Wagen, worin gefesselt und bewacht der Freischarenführer Dortu saß, der so brav für seine Sache gefochten hatte und den wir nun standrechtlich erschießen sollten. Wir sind Soldaten, und in ehrlichem Kampf gehen wir drauf, wenn’s befohlen wird, wenn’s auch manchmal hart genug ankommt. Aber was geht es uns an, was der Dortu mit dem Großherzog von Baden für Streitigkeiten hatte, und weshalb sollen wir Wetzlarer die Henkersknechte für diesen spielen? Unser drei hatten sich das Versprechen gegeben, über des Verurteilten Kopf wegzuschießen, denn es widerstrebte uns, das Blut eines Wehrlosen zu vergießen. Die anderen sechs mögen ähnlich gedacht oder bei der ungewohnten Arbeit gezittert haben, denn der arme Mensch obwohl von drei bis vier Kugeln durchbohrt lebte noch, und wir hatten keine zweiten Patronen mit. Da trat auf Befehl der Unteroffizier dicht an jenen heran und gab ihm, wie einem angeschossenen Stück Wild, den Fangschuß. Den Augenblick werde ich mein Lebtag nicht vergessen!“ Nach einer kleinen Pause fuhr der Sprecher fort: „Als braver Soldat, voller Mut ist der Mann gestorben, und da sollte man doch denken, daß er sich nichts Böses bewusst war. Aufrecht stand er vor seinem offenen Grabe auf dem Friedhofe in der Wiehre da drüben, nahm die Binde von den Augen und schaute uns furchtlos an, die wir in drei Gliedern mit angelegten Büchsen nur wenige Schritte entfernt von ihm standen, d. h. das vorderste Glied kniete. Dieses sollte auf den Leib, das zweite auf die Brust und wir drei hinten auf den Kopf zielen. Als der Sergeant sein Werk vollbracht hatte, untersuchte der Arzt den Gefallenen und stellte dessen Tod fest. Darauf ward er ohne weiteres in die Grube geworfen und diese ausgefüllt, während wir abmarschierten. Der Friedhof wird Tag und Nacht streng bewacht, und dennoch verlautet, dass heute Morgen Dortus Grabhügel über und über mit frischen Blumen bedeckt gewesen sei.“
Vinzenz der gerade im Lanzschen Hause verweilte, hatte diese Erzählung, an allen Gliedern bebend, mit angehört und sie seinem Schützlinge wortgetreu wieder berichtet. Er erzählte noch eine andere Begebenheit, die er von einem Augen- und Ohrenzeugen vernommen hatte, die den Geist der „Eroberer“, denn als solche spielten sich die Preußen auf, recht anschaulich schilderte. Wie schon erwähnt, stand die Mehrzahl der Gebildeten in Baden auf dem Boden der unterdrückten Reichsverfassung. Billigten sie auch nicht alle Schritte der revolutionären Partei, so konnten sie doch nur in Durchführung jener Verfassung Aussicht auf die erstrebte freiheitliche Entwicklung erblicken. Aus dieser ihrer Anschauung machten die Mutigeren unter ihnen auch jetzt kein Hehl, da ein Mann seine Ansichten nicht wie einen Handschuh wendet. Einen als freisinnig bekannten Fabrikanten, in dessen Hause Ottmar viel zu verkehren pflegte, hatte man mit 70 Mann Strafeinquartierung belegt, diesen jedoch keinen Offizier, sondern nur Unteroffiziere und einen freiwilligen Vizefeldwebel beigegeben. Dieser, der schon die Epauletten wachsen fühlte, spielte sich als Leutnant auf und verlangte demgemäße Unterkunft und Verpflegung. Der Fabrikant wand dem Vizefeldwebel ein, dass er nicht mehr anzusprechen habe als jemand von der Mannschaft, denn es sei dem Quartiergeber schon weit über Gebühr zugemutet, fast eine ganze Kompagnie unterzubringen und zu verköstigen, wolle er nun ihn begünstigen, der doch keinen Offiziersrang bekleide, so würde dies auch die Ansprüche seiner Kameraden ins Ungemessene steigern, und dagegen rnüsse er sich verwahren. Der Vizefeldwebel ließ trotzdem mit Drängen nicht nach und um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, rief er: „Ich bin aus gutem Hause.“ woraus der Fabrikant erwiderte: „Das merkt man Ihrem Benehmen nicht an.“ Eine Entgegnung wurde abgeschnitten durch das Herankommen eines mit Besichtigung der Quartiere beauftragten Leutnants. Bei diesem beklagte sich der Fabrikant über die Ungebühr des Vizefeldwebels. Als er jedoch bei Schilderung des Hergangs seine diesem erteilte Zurechtweisung nicht verschwieg, herrschte der Offizier seinen Untergebenen an: „Hättest Sie diesen Mann doch niederjestochen!“ Begreiflicherweise übten solche Schilderungen auf den jetzigen Bewohner Wiesnecks einen sehr niederschlagenden Eindruck aus. Schlimmeres als Ottmar hatte ja auch Dortu nicht verbrochen. Ganz wie er war dieser dem Gebote der zu Recht bestehenden „Provisorischen Regierung“ und seiner eignen Überzeugung gefolgt, indem er mit den Waffen in der Hand den Feinden der bedrohten guten Sache entgegentrat. Diese Überzeugungstreue mußte Dortu mit dem Tode büßen, wobei die eingenommene führende Stellung als erschwerend galt. Milderungsgründe kannten die Standgerichte nicht. Unter solchen Umständen konnte das Ottmars harrende Los nicht zweifelhaft erscheinen. Dies bestimmte seinen Entschluß, und er lauerte auf eine unauffällige Gelegenheit zur Bewerkstelligung seiner Flucht über die schweizer Grenze.
Dem Burgbauern Mathias Gremelsbacher galt es als selbstverständliche Pflicht und keines Dankes wert, daß er und die Seinen sich dem in’s Ungemach geratenen jungen Manne in jeder Weise nützlich und hilfreich erwiesen. Ebenso erachtete der biedere Burgbauer es als ausgemachte Sache, daß er auch zur Flucht Ottmars die Hand bieten müsse. Es steckte darin noch ein gut Teil uralter alemannischer Anschauung, wonach der auf eines freien Bauern Hof Geflüchtete sozusagen als geheiligte Person galt.
Das wußte männiglich auf dem Hofe, daß es mit Vetter Josef, der wegen des Leutemangels (lagen doch an die sechstausend rüstiger Männer in den Rastatter Kasematten gefangen) während der Erntezeit „von dem Walde“ gekommen war, eine besondere Bedeutung hatte. Er verstand zwar die Arbeit ganz gut und erwies sich als fleißig, allein er fasste doch alles anders an als die Knechte, war feiner im Wesen und aß mit den Bauersleuten zusammen, anstatt unter Vorsitz des Oberknechts am Gesindetisch. Auch munkelte man, daß er nicht, wie es hieß, mit Vinzenz zusammen schlafe, und es fiel ferner auf, daß er manchmal tagelang abwesend blieb. Dies geschah namentlich, wenn das zwischen dem Burgbauern und seinem Schwager auf dem Rainhofe verabredete, nur ihnen bekannte Zeichen (ungewöhnlich stark qualmender Rauch aus dem Schornsteine) zu erhöhter Vorsicht mahnte. Allein niemand unter dem Gesinde hätte sich unterstanden den „Josef“ betreffenden Umständen nachzuforschen, noch weniger einem Fremden gegenüber das geringste davon zu erwähnen und nun gar einem in der verhassten Eroberer Auftrag kommenden Schnüffler. Die allezeit freigesinnten Talbauern fühlten sich durch die gegenwärtige Gewaltherrschaft wohl etwas eingeschüchtert, anderseits jedoch stillschweigend solidarisch gegen dieselben verbunden. Nach damaligem löblich-patriarchalischen Brauche ziemte es sich für das Gesinde nicht, über die Beweggründe ihres „Bauern“ in irgend einer Ungelegenheit zu grübeln. Sie fügten sich stillschweigend seinen stets als wohlerwogen zu betrachtenden Anordnungen, wie einem Naturgesetze, und wehe demjenigen, der gewagt hätte, sich dagegen aufzulehnen!
Inmitten der nach Süden abfallenden Kuppe des Wiesnecker Burgberges erhob sich eine riesige Edeltanne. Kaum vermochte man sich zu erklären, wie ihre mächtigen Wurzeln aus dem den Fels nur spärlich bedeckenden Boden Nahrung ziehen konnte. Einem schärferen Beobachter durfte es freilich nicht entgehen, dass der Wipfel vertrocknet war, dass auch trotz des Vorherrschens einer Fülle frischgrüner Zweige hier und da einer der mächtigen Äste zu verdorren begann - Zeichen allmählichen Absterbens. Allein wenn einer der vorlauten Söhne des Aeolus im Vorbeistreifen dem Riesen sein bevorstehendes Ende höhnisch hätte zuraunen wollen, würde dieser wohl unwirsch und trotzig sein mächtiges Haupt geschüttelt und erwidert haben: „Wohl mag dein heftiges Blasen mir manche Nadel vorzeitig entreißen, wohl fühle ich die Kraft, weiter emporzustreben, erlahmen, allein ich dehne mich weiter seitlich aus und denke noch des Burgbauern Urenkel zu beschatten, wie meine starken Äste seinen Urahnen stützten, als er hoch oben das Nest des räuberischen Habichts aushob. Ein Weiser fügt sich in die Umstände und sucht sie für sich wie für andere zu nutze zu machen.“
Da lag der mächtige Baum aber eines Morgens entwurzelt und mehrfach gebrochen lang dahingestreckt, im Falle hatte er das Pigmäenvolk jungen Anwuchses weit ringsum zerschmettert. Ein tückischer Wirbelsturm hatte seinem Dasein ein rasches Ende bereitet. Ottmar, aus seinem Schlupfwinkel tretend, betrachtete erschüttert das Opfer der ungestüm waltenden unbändigen Naturkraft. So fiel auch schon mancher Große im Menschengeschlechte, im Sturze diejenigen mitreißend und begrabend, die an die Beständigkeit seiner Macht geglaubt hatten.
Viele Klafter hoch ragten die mastbaumdicken zerrissenen Wurzeln empor, gleichsam als reckten sie ebensoviele Arme klagend gen Himmel. Dazwischen zeigten sich neben moos-und tannennadel-bedecktem Erdreich kleinere und größere Felsbrocken eingezwängt, einige von gewaltigem Umfange und Gewicht, doch nicht ausreichend, der Gewalt der Windsbraut Widerstand zu leisten. Als Ottmar in dem Wurzelwerk umherkletterte, lösten sich Erdteile und Steine und rollten in die im Boden entstandene weite Höhlung. Dies vollzog sich mit eigentümlich hohl klingendem Geräusche und jedem Aufschlagen der Steine folgte einem Echo gleich ein nochmaliger dumpfer Laut, der aus dem Berginnern zu dringen schien. War es nun Wirklichkeit oder Täuschung, daß die niederrutschenden Schuttmaßen, anstatt sich in der tiefen Mulde nach und nach anzuhäufen, darin verschwanden? Nein, diese Wahrnehmung beruhte auf keiner Täuschung. Die gewaltigen Tannenwurzeln hatten, durch Felsspalten eindringend, einen mächtigen Block umklammert und diesen beim Niederstürzen des Baumes einem riesigen Stöpsel gleich emporgehoben, und unterhalb des Lagers dieses Blocks erblickte man einen ausgedehnten Hohlraum. Nun, da Ottmars Forschungstrieb erwacht war, ließ es ihn nicht ruhen, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit Hilfe Vinzenzens schritt er an’s Werk. Dem freundlichen Leser, der unseren Schilderungen bis hierher gefolgt ist, brauchen wir keine Beschreibung der häufig erwähnten Höhle zu geben. Nur soviel sei gesagt, dass ihr Zustand im Schoße der Erde sich unverändert erhalten hatte, seitdem der Zugang vom Turme aus durch das hereinfallende Gemäuer verschüttet worden war.
Dass die von der Natur geschaffene Höhle mit den ehemaligen Befestigungen zusammengehangen haben müsse, schien Ottmar nach seinen anderwärts gemachten Erfahrungen unzweifelhaft; auf einstmalige Bewohnung deutete die rauchgeschwärzte Decke. Allein von wo aus mochte sie zugänglich gewesen sein, und wo hatte der Rauch seinen Abzug gefunden? Da das spärliche Licht der benutzten Stalllaterne zur Lösung der Fragen nicht ausreichte, so zündeten die Freunde ein kräftiges Feuer an und bemerkten durch dessen hellen Schein bald, daß die sonst überall eine kräftige Wölbung und dabei die natürliche Unebenheit des Felsens zeigende Wand in einer nischenartigen Vertiefung der Südseite vom Boden bis etwa zur Manneshöhe auffallend glatt und senkrecht aufstieg. Da hatte sicherlich menschliche Kunst das Werk der Natur zu ergänzen und in irgend einer Weise sich nutzbar zu machen gesucht. Und in der Tat, diese senkrechte Fläche erwies sich bei genauer Untersuchung als eine Holztüre, wenn auch mit einer dicken Kruste von feuchtem Moose und Sinter überzogen, die sie vom Gesteine nicht unterscheiden ließ und mit diesem auch so innig verband, daß ein Öffnen der Türe nur durch Anwendung von Axt und Brecheisen möglich wurde. Zugleich aber drang unseren Pionieren eine dichte Dunstwolke von widerlich scharfem, betäubendem Geruche entgegen, welche nur ganz allmälig den Einwirkungen des heller angefachten Feuers und der von oben eindringenden frischen Luft wich und einen Einblick in den verschlossen gewesenen Raum gestatten. Vinzenz leuchtete mit einem brennenden Spane hinein, prallte jedoch mit dem lauten Angstrufe: „Jesus Maria und Josef!“ zurück; auch der furchtlose Ottmar konnte sich nicht enthalten, einen Schritt zurückzutreten. Der sich bietende Anblick übertraf an Schaurigkeit die kühnste Phantasiegebilde. Dicht bei der Türe in aufrechter Stellung gegen die Wand gelehnt, den Kopf der niederen Decke halber vorgebeugt, ragte eine regungslose hohe dunkle Gestalt, eine andere lag ausgestreckt am Boden. Der grausige Eindruck steigerte sich noch durch die fast vollständige Erhaltung der Gesichtszüge, welche in dem flackernden Lichte den Anschein des Lebens gewannen, in argem Widerspruche zu den erloschenen Augen. Auch die Kleidung erwies sich als wohl erhalten. In der liegenden Gestalt mußte man eine junge Edeldame aus der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts vermuten, in ihrem Begleiter einen wenig älteren Ritter. Dicker Rost bedeckte dessen Helm und Brustharnisch, den langen Haudegen in der Rechten, den breiten Dolch in der Linken.
Waren diese unverwesten Leichen wirklich Zeitgenossen des Bauernkriegs? Dies unterlag wohl keinem Zweifel, denn seit ihrer damaligen Zerstörung war die Burg der Überlieferung nach in Trümmern liegen und unbewohnt geblieben. Wie aber gelangten jene Beiden in diesen unterirdischen Raum, der weder einem Verließe, noch einer Gruft glich? Wie wäre damit auch des Ritters Stellung mit gezücktem Schwerte zu erklären, wie der Umstand, daß Schloss und Riegel der schweren Türe unverschlossen waren? Sollte es sich um einen verunglückten Fluchtversuch handeln? Dann befand sich hier wohl ein ins Freie führender Ausgang. Schien es jedoch denkbar, dass man diesen im Laufe der verstrichenen drei Jahrhunderte nicht hätte auffinden können, auch wenn er noch so gut verborgen gewesen wäre? Ottmar drängte es, diese Frage wenigstens zu ergründen, wenn er auch auf Lösung der anderen Rätsel wohl verzichten musste. Mit der Laterne versehen, zwängte er sich an den Leichen vorbei, während der an allen Gliedern bebende und nur seinem Freunde zu Liebe verweilende Vinzenz mit lodernden Spähnen von der Türe aus herüberleuchtete. Die stollenartige Abzweigung der Höhle verengte und erniedrigte sich bei Ottmars Voranschreiten beständig; zuletzt behielt er kaum Platz zum Kriechen. Jetzt war das Ende erreicht und damit die Bestätigung der Vermutung, daß es sich hier um einen von der Natur gebildeten Ausgang handle, welchen die ehemaligen Inhaber der Höhle sich zu nutze gemacht hatten. Darauf deutete ein künstlicher Verschluss durch einen an verrosteten und zerborstenen Eisenbändern hängenden Steinblock von etwa einem halben Meter Durchmesser.
Trotz aller Anstrengungen vermochte Ottmar den Stein kaum merklich zu bewegen, meinte aber doch durch eine bei seinem Ringen entstandene winzige Ritze Tageslicht durchschimmern zu sehen. Um dieser Tatsache auf den Grund zu gehen, mußte Vinzenz von außen her durch Rufen und Klopfen die ungefähre Lage des Höhlenverschlusses feststellen. Allein erst vereinigten langwierigen Bemühungen gelang es, ihn unter dicht mit Dornengestrüpp bewachsenen Schutte zu entdecken, für Uneingeweihte freilich nach wie vor unauffindbar.
So überwältigend auch die heute gemachte wunderbare Entdeckung der lebendig Begrabenen war, und so sehnlich Ottmar gewünscht hätte, Licht in dieses rätselhafte Ereignis zu bringen, so strenge geboten doch die Umstände tiefste Verschwiegenheit gegen jedermann zur Vermeidung jeglichen Aufsehens, welches die Sicherheit des Flüchtlings gefährden konnte. Die Freunde, Ottmar blutenden Herzens, Vinzenz sichtlich erleichtert, mußten sich deshalb entschließen, das Ritterpaar nicht nur am Fundorte zu belassen, sondern auch die notdürftig zusammengeflickte Türe wieder fest zu schließen. Das durch die Wurzeln der umgestürzten Tanne in die Wölbung der Höhle gerissene Loch bedeckten sie einstweilen mit Fichtenreisern und Erde, sich vorbehaltend, den Verschluß in der Frühe des nächsten Morgens in einer Weise zu vervollständigen, dass niemand den wahren Sachverhalt ahnen würde.
Vinzenz behauptete immer und immer wieder, die so erstaunlich wohlerhaltenen Gestalten könnten kaum länger als einige Wochen oder allenfalls Monate da unten gewesen sein, und auf Ottmars Einwurf, dies sei doch aus allen möglichen Gründen undenkbar, antwortete er mit echter Bauernhartnäckigkeit nur kopfschüttelnd: „Es ist doch so.“ Ottmar hingegen erinnerte sich, bei einem Besuche der Gruft der Thomaskirche zu Straßburg die Leichen eines Grafen und seiner Tochter aus dem zwölften Jahrhundert gesehen zu haben, welche ohne jegliche Einbalsamierung nur durch die eigentümliche Luftbeschaffenheit vollkommen erhaltene Gesichtszüge, Haare und Kleidung bewahrt hatten. Sollten in dem Wiesnecker Höhlengange nicht ähnliche Einwirkungen stattgefunden haben, und sollten nicht etwa die bei Offnung der Türe wahrgenommenen atembeklemmenden Gase die erschöpften Flüchtlinge jählings getötet, ihre Körper aber, wie zum Hohne, erhalten haben?
Dem heftigen Wirbelsturme der verflossenen Nacht war verhältnismäßige Stille bei Tage gefolgt, wenn auch die Wolken noch immer rasch dahintrieben. Gegen Abend frischte der Wind merklich auf, gleichwohl herrschte eine unangenehme Schwüle, welche selbst bis in Ottmars sonst so kühles, wenn auch dumpfes unterirdische Schlafgemach drang. Der Einsiedler zog es deshalb vor, nicht wie sonst gegen zehn Uhr sein Schlafgemach da unten aufzusuchen, sondern im Freien zu verweilen. Er richtete sich mit Hilfe einer Decke, so gut es eben ging, in den Zweigen der gestürzten Tanne ein und gedachte baldigen Schlaf zu finden, denn die heute durchlebten Aufregungen und Anstrengungen hatten ihn geistig wie körperlich stark ermüdet. Gegen Überraschung durch unwillkommene Störenfriede, wenn sie überhaupt zu befürchten war, schützte ihn das dichte Gezweige, vor allem jedoch die bewährte Wachsamkeit des zu seinen Füßen gelagerten treuen Spitzes. Freilich fiel Ottmar die sonderbare Unruhe des Hundes auf, welcher bald mit hoch erhobenem Kopfe in die Luft hinaus schnupperte, bald in gleicher Weise den Burghügel umkreiste. Und doch mußte eigentliche Gefahr als ausgeschlossen gelten, denn deren Herannahen pflegte das kluge Tier durch knurren und unterdrücktes Bellen kundzugeben
Die Heftigkeit des Windes nahm zu. In das gewohnte Geräusch, verursacht durch sein Streichen durch das Baumwerk, seinen Anprall wider das Gemäuer, mischten sich die seltsamsten andern Laute; bald schienen sie von unten, bald aus den Lüften zu dringen. Das war ein unheimliches Rauschen und Raunen, ein Lispeln und Flüstern, ein Wispern und Pispern, dann wieder ein Winseln und Wimmern, ein Ächzen und Krächzen, ein Seufzen und Klagen, ein Stöhnen und Röcheln wie die letzten bebenden Laute Sterbender auf leichenbedecktem Schlachtfelde. Ottmar erschauerte, der Hund winselte leise.
Über den Hang und die Schlucht gelagerter Nebel wogte auf und ab, verdichtete sich bald, bald zerriss ihn der Wind und ballte ihn zusammen zu Gebilden, denen das spärlich durch die Wolken dringende Mondenlicht das Aussehen menschlicher Gestalten verlieh, welche wie im Kampfe hin- und herdrängten. Jetzt schien es, als trennten sich die Massen, die kleineren, nun wieder formlosem Gewölke gleichend, lagerten sich auf dem Burghügel, die größeren jenseits der Schlucht. Indem trug der Luftstrom leisen Glockenschall herüber: die Kirchturmuhr im Dorfe verkündete die Mitternachtsstunde. Bei einer Umschau wollte es Ottmar da scheinen, als sei der zerfallene Turm gewachsen; ja wahrlich, er erhob sich zu beträchtlicher Höhe, gekrönt mit einem spitzen Ziegeldache. Doch wie, auch da und dort, ja überall ringsum tauchten hochgieblige Häuser auf, umkränzt von zinnenbewehrten Mauern mit kleinen Türmchen und einem den Eingang beherrschenden starken Brückenturme. Dazwischen liefen Gewappnete geschäftig hin und her, in geringer Zahl, während die Anhöhen jenseits des Grabens von Angreifern wimmelten. Doch alle Bewegungen vollzogen sich mit lautloser Stille. Jetzt wurde diese indes jäh unterbrochen. In rasender Schnelligkeit überzog sich der Himmel mit schweren schwarzen Wolkenmassen, alles in tiefe Finsternis hüllend. Gleich darauf Tageshelle. Ein riesiger Blitz, nein, hunderte auf einmal, gefolgt von nicht enden wollenden, ohrenbetäubendem Donner. Da sinkt der Wartturm, dort der Brückenturm vom Strahle getroffen. Ihnen nach stürzen Häuser, Mauern berstend nieder. Hohe Staubwolken wirbeln empor. Prasselnd schlagen überall mächtige hohe Flammen heraus. Ringsum loht, glüht, qualmt es. Das Getöse einstürzenden Mauerwerks gesellt sich zum Rollen des Donners. Jetzt erfolgt ein Windstoß von einer Heftigkeit, dass der Grund erbebt . . . die Glut erlischt jählings, nur schwerer Rauch wälzt sich noch zwischen den Trümmern. Nun verzieht er sich. Der hell durch die Wolken brechende Mond bescheint ein wüstes Trümmerfeld, über welches eine kleine Schar Flüchtlinge dahineilt, um sich in die kärglichen Überreste der Gebäude zu retten. Ein zahlloser Haufen Angreifer, abenteuerliche Gestalten in flatternden Fetzen, überklettert ameisenartig Wälle und Ringmauern und verfolgt die Verschwundenen. Allen voran in wallendem roten Barte, einen wuchtigen Speer schwingend, stürmt eine lange hagere Gestalt, der rote Kaspar. Erst stürzt er auf den Wartturm zu, dann, gleichsam als wittere er den Zufluchtsort des von ihm gesuchten edlen Wildes anderwärts, wendet er sich rasch ab. In gewaltigen Sprüngen nähert er sich dem unter Reisig versteckten Höhlenzugange. Ein mächtiger Satz und er verschwindet in der Tiefe!
Ottmar hatte beim Herannahen des wüsten Gesellen seine Pistole im Anschlage gehalten. Der Spitz kroch mit eingezogenem Schweife laut heulend und hilfesuchend an seinen Herrn heran. Alles vollzog sich mit Blitzesschnelle und noch war Ottmar nicht recht zum Bewußtsein gekommen, da vernahm er deutlich unterhalb seines Lagers ein Dröhnen, welches wie Rütteln und Poltern an einer Türe klang. Ein Augenblick Stille, darauf sich nähernder wilder Kampfeslärm. Dann schwingt sich der rote Kaspar mit klaffender Kopfwunde aus der Höhle und entflieht mit Windeseile. Da krähte der Hahn auf dem benachbarten Hofe, allen Spuk verscheuchend und Ottmar erwachte im Tagesgrauen. Er gewahrte Vinzenz angstvoll suchend umherirren und rief ihn deshalb an. „Gott Lob und Dank,“ scholl es freudig zurück, „mir war schon angst und bange um Dich, weil ich Dich unten in Deiner Klause nicht fand und fürchtete, das wilde Heer, welches die ganze Nacht um Hof und Burg gesaust war, hätte Dir Schaden zugefügt.“
„Schaden habe ich gerade nicht genommen, obwohl es einmal nahe daran zu sein schien,“ gab Ottmar halb ernst, halb lachend zurück; „ich habe die ganze Zeit hier oben gesessen, weil mir’s unten zu dumpfig war. Ich muß, ohne es zu merken, eingeschlafen sein, denn ich habe das tollste Zeug zusammengeträunit, wobei die Erzählungen Deiner seligen Großmutter und das Pärlein im Grunde der Höhle eine große Rolle spielten.“
„Laß mich in Ruhe mit Deinen Träumen, Du Freigeist,“ brummte Vinzenz, “ich habe das höllische Gesindel doch mit meinen leibhaftigen Augen und Ohren gesehen und gehört. Erst beim Hahnenschrei sind sie verschwunden. Aber was schnuppert denn der Spitz da so ängstlich an dem verdeckten Höhleneingang heraus, und wie kommt das kreisrunde Schlupfloch in das Reisig mitten hinein? Bist denn Du nochmals hinuntergestiegen?“
“Das sieht allerdings seltsam aus,” erwiderte Ottmar sinnend, “als ich gestern Abend dicht an der Stelle vorbeischritt, schien alles unversehrt. Dann sah ich freilich in meinem Halbschlaf den roten Kaspar ein- und ausfahren; allein, das ist doch Unsinn.”
“Alle Heiligen zu Hilft” schrie Vinzenz, “der rote Kaspar, den hab’ ich ja auch auf seinem Spieß durch die Luft reiten gesehn.”
“Und doch handelt sich´s nur um Auswüchse unsrer durch das gestrige Erlebnis aufgeregten Phantasie. Das runde Loch ist allerdings vorhanden, indessen das allein beweist nichts. Schauen wir lieber einmal im Innern der Höhle nach, ob wir da Spuren des vermeintlich von mir angehörten Kampfes finden!”
Es bedurfte langen Zuredens, bis Ottmar seinen Genossen zur Einfahrt in die Hölle - wie dieser es bezeichnete - bewegen konnte und nicht eher, als bis er sie beide mit Weihwasser besprengt und eine geweihte Kerze in die Hand genommen hatte. Im Zustande der Höhle fand sich nichts verändert, nur ließ sich die Tatsache nicht ableugnen, daß die gestern dicht verschlossene Türe zu der Leichenkammer heute handbreit offen stand. Auch wollte Vinzenz bei dem flüchtigen Blicke, den ihm seine Angst dahinzuwerfen gestattete, bemerkt haben, daß die Eingeschlossenen ihre Lage verändert gehabt hätten, ja später behauptete er sogar, der Ritter habe ihn höhnisch angegrinst. Es gereichte ihm deshalb zu einiger Beruhigung, als sein Freund die Türe wieder fest zudrückte und für alle Fälle einen schweren Stein davorrollte, während er selbst aus sicherer Entfernung am Feuer zuschaute. Dann aber riss er Ottmar mit hinaus aus der schaurigen Örtlichkeit und ruhte nicht eher, bis deren Zugang mit Brettern, Steinen und Moos fest verschlossen, sowie mit Erde meterhoch zugefüllt und mit einem rohen Holzkreuze versehen war, um dem roten Kaspar oder seinem Gegner die Ein- oder Ausfahrt zu verleiden.
Auf dem Hofe trafen die Freunde den alten Gremelsbacher in einiger Erregung, weil ihm eine versteckte Warnung wegen Ottmars Anwesenheit zugegangen war. Man beschloß deshalb, alle seitherigen Bedenken beseitigend, dessen schon längst vorbereitete Flucht gleich in der kommenden Nacht zu bewerkstelligen. Nach Einbruch der Dämmerung fuhr Vinzenz den als Hausierer verkleideten Flüchtling bis Schluchsee, von wo dieser in der Morgenfrühe meist auf Waldpfaden bis in die Gegend von Untereggingen wanderte, daselbst tagsüber sich in einem Gehölze verbarg und in der Dunkelheit ungefährdet die nahegelegene schweizer Grenze überschritt. Nach einer Zusammenkunft mit seinen Eltern folgte er der dringenden Aufforderung verschiedener vertrauter Kampfgenossen zur gemeinsamen Auswanderung nach den Vereinigten Staaten, wo, wie man wisse, der Betätigung bürgerlicher Tugenden und jeglicher Art freiheitlicher Entwicklung keine engherzigen Schranken gesteckt wären wie in der morschen alten Welt.
Ottmars Eltern vermittelten in den ersten Jahren seiner Übersiedlung öfters Botschaften von ihm an die Bewohner des Burghofs und von diesen an ihn. So erfuhren sie, dass er sich in Chicago eine angesehene und einträgliche Stellung als Rechtsanwalt errungen habe, während ihm gemeldet wurde, dass Vinzenz in den Ehestand getreten sei. Als er dann seinem Erstgeborenen den Namen seines unvergesslichen Abgottes Ottmar beilegen wollte, übernahm dieser mit Freuden die Patenstelle. Später geriet der Verkehr ins Stocken, weil Ottmars Vater nach dem frühzeitigen Tode der Mutter in die Schweiz übersiedelte, um doch den “Verbannten” noch zeitweilig an die Brust drücken zu können; Vinzenzens und der Seinen Schreibkünste standen aber auf zu niederer Stufe, als daß eine briefliche Verbindung sich erfolgreich hätte aufrecht erhalten lassen. Doch gelangte noch die Nachricht nach Wiesneck, daß Ottmar, als die Flamme des Bürgerkrieges zwischen den Nord- und Südstaaten aufloderte, zur Verteidigung der guten Sache seines neuen Vaterlandes die Waffen ergriffen habe, als wohlbestallter Oberst eines vornehmlich aus Deutschen, zumeist gedienten Soldaten, gebildeten Regiments in den Krieg gezogen sei, in zahlreichen siegreichen Schlachten seine hervorragende militärische Begabung betätigt und Generalsrang errungen habe.
Alls später die allgemeine Amnestie auch Ottmar die Rückkehr ins Vaterland gestattete, machte er nur insofern davon Gebrauch, als er einige norddeutsche Städte besuchte, wohin ihn Geschäfte führten. Zu einem Besuche der engeren Heimat fehlte ihm die Neigung, weil mit dem Wegzuge und späteren Tode seines Vaters die verwandtschaftlichen Beziehungen daselbst erloschen, die alten Freunde aber meist in’s extrem reaktionäre Lager übergegangen und ihm dadurch verleidet waren. Die gewaltigen Ereignisse der 1866er und 1870er Kriege hatten überhaupt das Interesse an den Begebenheiten der badischen Revolution, die Erinnerung an deren Wortführer und Helden nahezu verwischt. Das jüngere Geschlecht bezeichnete diese Geschehnisse vergleichsweise als einen Sturm im Glase Wasser; es verstand nicht, für welche Utopien damals unabhängige Leute Gut und Blut auf´s Spiel setzen mochten. Die älteren Leute waren aber meist ganz froh, Mahner wie Ottmar, mit denen man unter den neuzeitlichen Verhältnissen nichts mehr recht anzufangen gewusst hätte, im Auslande, fern überm Weltmeere zu wissen und nichts mehr von ihnen zu hören. Es gewährte eine gewisse Beruhigung, sie als verschollen betrachten zu dürfen.
An einem schönen Sonntag Morgen im Sommer 1903 klomm ein bejahrter Herr in bequemem Reiseanzuge bedächtigen Schrittes den Wiesnecker Burghügel empor. Seine Bewegungen waren elastisch und man merkte seiner Gangart an, daß er nicht seines Alters sondern nur der herrschenden Hitze wegen seine Schritte verlangsamte. Diesen Eindruck ungetrübter Frische bestätigte auch seine sonstige Erscheinung, das feurige Auge, die lebhafte Farbe seines fein geschnittenen, von dichtem weißen Haare und ebensolchem wohlgepflegten Barte umrahmten Gesichts. Als der Wanderer den Gipfel erreicht hatte, hielt er kurze Umschau, dann schritt er geradenwegs auf die Nordseite zu und verschwand in einem der halbzerfallenen Kellergewölbe. Nach einer kleinen Weile sinnend und in sich gekehrt zurückkommend, bemerkte er zuerst nicht die Anwesenheit eines zweiten Besuchers. Erst als dieser, ein großer, breitschultriger Mann in bäuerlicher Festkleidung, von ungefähr sich umwandte, gewahrte ihn der erste Ankömmling, stutzte und rief: “Gehen denn hier die Geister der Verstorbenen jetzt auch bei hellichtem Tage um? Das ist ja der längst verblichene Burgbauer Mathias Gremelsbacher!“
“Nein,” scholl es schmunzelnd zurück, “der nicht, aber sein Großsohn Ottmar. Man sagt freilich, daß ich ihm in Gestalt und Wesen gleiche.”
“Wie ein Ei dem andern, ja sogar die Stimme erinnert mich an jenen,” gab der Wanderer zurück.
“Aber, mit Verlaub, wer ist denn der Herr, der meinen Åhni so genau kannte, der doch schon an die dreißig Jahre auf dem Kirchhof da unten schläft?”
“Ja, ja, ich vergaß, daß die Zeiten vergehen, daß aus Kindern Leute werden. War ich doch ein junger Springinsfeld, als ich von diesem Hügel Abschied nahm, um mit Hilfe Ihres Vaters, meines lieben Vinzenz, mein bedrohtes Leben über die schweizer Grenze in Sicherheit zu bringen.”
„Jesus Gott im Himmel, dann waren Sie am Ende gar der Freischarenführer . . .”
“Ottmar Lanz, Ihr Pate, der bin ich,” ergänzte dieser, tief bewegt die ausgestreckte Hand des Bauern ergreifend und herzlich schüttelnd.
“Der Herr Ottmar, von dem der Vater selig so oft und gern erzählte und den mich´s immer verlangt hat, kennen zu lernen. Schau, schau, wie wunderbar, daß wir einander so begegnet sind. Aber, nichts für ungut, es geht so langsam auf Mittag; will der Herr nicht mit einem Teller Suppe und einem Stückle Kalbfleisch bei uns vor lieb nehmen? Ein bißle frisch schlachten ist’s ja wohl, aber gut gemeint. Und die Bäuerin muss noch Sträuble backen und einen guten Kaffee richten hernach. Aber erst gibts einen braven Schluck Markgräfler 1900er. Ist´s recht so?”
“Nichts lieberes weiß ich mir ja als wieder einmal nach einem halben Jahrhundert einzukehren im trauten alten Burghof und in früheren Erinnerungen zu schwelgen, freudig und wehmütig zugleich, weil ich allein übrig geblieben bin von der damaligen fröhlichen Tafelrunde.”
So einfach wie der Burgbauer sich die Sache gedacht hatte, ging es nun freilich nicht mit dem Essen. Die Bäuerin wollte sich nicht nachsagen lassen, daß es an etwas gefehlt habe, wenn es galt einen so hervorragenden Gast zu bewirten und darum sollte ordentlich aufgetischt werden. Da wurde noch ein Schinken aus dem Rauchfang geholt und zum Glück waren auch ein paar Hühner schon geschlachtet und gerupft, weil sie der Löwenwirt für Stadtleute auf den Abend bestellt hatte. Allein der mochte diesmal vergeblich warten; der lief ihr nicht fort, während der Fremde doch sobald nicht wiederkehren würde. Damit aber diesem die Zeit nicht lange würde, hatte sie in der Laube Käse, Butter und Wecken und eine Maßflasche vom Besten zurechtgesetzt, woran er sich mit dem Bauern einstweilen gütlich tun sollte, während sie ihre Vorbereitungen traf.
Otlmar Lanz war mit dieser Einleitung auch ganz zufrieden. Bald saß er mit seinem Wirt in dem gaisblattumsponnenen Hüttchen - an sich ebenfalls eine liebe Jugenderinnerung - und ließ sich von allen, die er auf dem Hofe gekannt hatte und die mit diesem zusammenhingen berichten. Die schmucke Tochter und der Sohn wurden vorgestellt, letzterer in Urlauberuniform der Gardegrenadiere, aus die der Vater mit besonderem Stolze und der Bemerkung hindeutete, daß er selbst den siebziger Krieg im gleichen Regimente mitgemacht habe.
Unter vielen anderen Dingen kam Ottmar auch auf das merkwürdige Erlebnis in der Höhle am Tage vor Bewerkstelligung seiner Flucht zu sprechen und erkundigte sich, was dieselbe denn für einen endgütigen Ausgang genommen habe. Da berichtete der Bauer folgendes: Bald nach Erlass der allgemeinen Anmestie war ein neuer Pfarrer nach Buchenbach versetzt worden, ein frischer junger Mann von vielseitigem Wissen, der besonderes Interesse an der Vergangenheit nahm und auf Wiesneck sozusagen jeden Stein untersuchte. Den Erzählungen vom Vater Vinzenz, wie sie diesem von seiner Großmutter überliefert worden, lauschte der Geistliche mit großer Aufmerksamkeit, insbesondere weil derartige Überlieferungen, wie er erläuterte, die vorhandenen schriftlichen Aufzeichnungen manchmal sehr glücklich ergänzten. Da meinte Vinzenz, er sei wohl in der Lage, dem Herrn Pfarrer noch eine ganz andere, recht augenfällige Aufklärung über ehemalige Begebenheiten auf der Burg zu verschaffen, und unter Mitwirkung desselben getraute er sich auch nochmals in den Höllenrachen im Burghügel schaurigen Angedenkens zu steigen. Der verschüttete Zugang zur Höhle wurde also aufgebrochen, die innere Türe zu der Nische geöffnet und die Leichen darin noch in gleichem Zustande und in gleicher Lage wie im Jahre 1849 vorgefunden. Der geistliche Herr legte mit Hand an, um die Körper ans Tageslicht zu befördern. Sachkundig untersuchte er die Rüstung des Ritters und entdeckte darauf das Thurnersche Wappen. Dies ließ ihm keinen Zweifel, daß man es mit Junker Kuno und seiner Gattin Anna zu tun habe, die seit Zerstörung der Burg spurlos verschwunden waren, was daraus erhelle, daß zu ihrem Gedächtnis der Bruder des Verschollenen eine Seelenmesse gestiftet habe, welche noch jetzt alljährlich am Jahrestage jenes Ereignisses in der Buchenbacher Kirche gelesen werde. Die Leichname wurden unter Teilnahme der Bewohner sämtlicher umliegenden Ortschaften auf dem Friedhofe feierlich beigesetzt. “Sie haben lange harren müssen, bis sie in geweihter Erde ruhten; Gott sei ihren armen Seelen gnädig!” schloß der Bauer.
Lange und gründlich wie die Vorbereitungen dauerte das Mittagsmahl selbst, und die Sonne stand schon tief, als man die Laube wieder aufsuchte, um den Kaffee mit unvermeidlichem Kuchen einzunehmen. Hier erst gelangte der Gast zu einer freilich äußerst gedrängten Darlegung seiner Erlebnisse seit der Flucht von Wiesneck. Er schloß mit einer Schilderung seiner Eindrücke bei der Rückkehr ins Vaterland und über die Wandlungen, welche sich in diesem vollzogen hatten und die sich in dem veränderten Auftreten der Deutschen im Auslande wiederspiegelten.
“Seit dem 1870er Kriege,” ergänzte er, “hatte sich in dem Wesen der deutschen Neuankömmlinge in den Vereinigten Staaten eine auffallende Veränderung vollzogen. Sie offenbarten ein ihnen früher fremdes Selbstbewußtsein, hervorgerufen durch ihre Mitwirkung an den großen Erfolgen und Errungenschaften, durch die Genugtuung, dem alten Erbfeinde endlich einmal heimgezahlt zu haben, was er uns seit des ländergierigen Sonnenkönigs fluchwürdigen Übergriffen Böses angetan hatte. Eine Genugtuung, um so begeisternder, als sie ihren Abschluß fand in Wiederaufrichtung des von jenem Despoten mit Füßen getretenen Deutschen Reichs im Schloße zu Versailles, an der Stätte, wo ehemals über die Geschicke der Völker entschieden wurde, welche Ludwigs Gier oder Grimm gereizt hatten. Mit den Erfolgen der deutschen Waffen, mit der dauernden Einigung der deutschen Stämme ging Hand in Hand der nie geahntes Aufschwung der deutschen Industrie, des Handels und der Schiffahrt. Mit einer mehr neidischen als anerkennenden Bewunderung schaute das Ausland auf diese Leistungen unsres Volks, welches ebenso gut verstand das Erz seiner heimischen Hüttenwerke, da wo es die Not gebot, zu scharfen Schwertern, zu zielsicheren Geschossen zu verarbeiten, als es nach Friedensschluß zu Werkzeugen friedlichen Wettkampfes auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit zu gestalten.
Wer hat wohl diesen Errungenschaften freudiger zugejauchzt als wir Kämpfer aus der Zeit der badischen Schilderhebung? War denn nicht nahezu alles erreicht, was wir erstrebt, wenn auch durch andere Mittel und in vielen Beziehungen anders in der Wirkung: ein einiges, auch ohne Zugehörigkeit Österreichs mächtiges Reich mit einem Kaiser an der Spitze, mit einer Verfassung, aufgebaut auf der im 49er Parlament ausgearbeiteten, mit Volksvertretung, Mitwirkung der Bürger an Gesetzgebung und Verwaltung, mit Preßfreiheit, allgemeiner Wehrpflicht usw? Und ist denn nicht im besonderen mein Jugendtraum in Erfüllung gegangen, die durch jenen Sonnenkönig verräterisch geraubten Provinzen dem alten Vaterlande wieder einzuverleiben? Die Strahlen der dort hinter den Vogesen niedersinkenden Sonnenscheibe vergolden deutsche Berge, hüllen eine fruchtbare deutsche Ebene in wallenden Purpurmantel!
Aber welcher Umschwung der Anschauungen hat sich auch in dem verwichenen halben Jahrhundert vollzogen, namentlich seit den alle alte Fesseln sprengenden, den kleinlichen Nachbarhader der einzelnen deutschen Völkerschaften wegspülenden Wirkungen des gemeinsamen Kampfs gegen einen übermütigen Feind! Im Reichstag, in öffentlichen Versammlungen, in Wort und Schrift bespricht man ungeahndet Dinge, deren auch nur andeutungsweise Erwähnung in meiner Knabenzeit (wenn sie sich überhaupt aus dem engsten Kreise der Vertrautheit herauswagten) als Hochverrat gebrandmarkt und bestraft worden wären.
Ein solcher Hochverräter, Karl Schurz, verkehrte freundschaftlich mit Bismarck, meinem Kameraden, dem braven Max Dortu, den man seinerzeit auf dem Wiehre-Friedhofe erschoß und verscharrte wie einen Hund, durfte ebendaselbst ein ehrendes Denkmal gesetzt werden - ich sah es gestern - mit der erschütternden Inschrift: ,Hier ruht Maximilian Dortu aus Potsdam, 23 Jahre alt, erschossen den 14. August 1849. Mit ihm seine Eltern, deren einzige Freude und Hoffnung er war.”
Tief ergriffen schwieg der Erzähler, um nach einigen Minuten gepreßt fortzufahren: “Unsere Ziele waren die gleichen wie die erreichten, allein wir rechneten nicht mit den Verhältnissen, mit der Zersplitterung der deutschen Stämme, mit dem Fehlen eines gemeinsamen Mittelpunktes, eines oder einiger allgemein anerkannter Führer. Darum blieb der Erfolg aus, und mit ihm, der zumeist das Urteil der Welt bestimmt, verloren wir die Sympathien, die uns sonst sicher gewesen wären. Die Puritaner durften Karl I., die Franzosen Ludwig XVI. enthaupten, die Nordamerikaner das englische, die Griechen das türkische Joch abschütteln. Sie errangen sich Erfolg und erlangten dadurch ihre Freiheit sowie die Anerkennung der Mächte. Die Bezeichnung "Rebellen” verschwand gar bald; sie blieb nur an uns und denjenigen Völkern haften, deren Erhebungen nicht siegreich vertiefen.
Doch Freund Burgbauer, es ist hohe Zeit zum Scheiden, wenn ich noch meinen Zug erreichen will. Darum Gott befohlen und tausend Dank für Eure treue Anhänglichkeit, für Eure vortreffliche Bewirtung. Wenn einem von Euch die alte Heimat zu enge wird, so kommt hinüber, wo Ihr mich zu finden wisst. Allein überlegt es Euch genau, ehe Ihr diesen Schritt unternehmt, denn so behaglich und traulich wie hier wird es einem in der neuen Welt niemals. Wären nicht alle Fäden zerrissen, welche mich mit hier verbinden, während sie mich nach drüben ziehen, so bliebe ich dauernd im lieben Dreisamtale.”
In einem “Berner Wägelein”, demjenigen täuschend ähnlich, in welchem vor einem halben Jahrhundert Vinzenz den Flüchtling in aller Heimlichkeit befördert hatte, fuhren ihn nun voll stolzen Bewußtseins des Jugendfreundes Sohn und Enkel zur Station Himmelreich. Nach nochmaligem herzlichen Abschied bestieg Ottmar Lanz den Zug, der bald den Augen der Zurückbleibenden entschwand.
Der Reisende aber blickte rückwärts dahin, wo im blassen Mondlichte der Wiesnecker Burghügel aufragte, gekrönt von dem düster blickenden Stumpfe des Wartturmes.
“Unverändert, wie ich in meiner Kindheit frühesten Tagen dich kennen lernte, wie dein Bild sich mir einprägte, als ich, ein heimatloser Flüchtling, von dir schied, schaust du nach mehr als fünf Jahrzehnten in die Weite, “ murmelte Ottmar vor sich hin. “Was gilt aber deinen unverwüstlichen Quadern, deinem zu unzerstörbarem Steine gewordenen Mörtel eine derartige Spanne Zeit, welche Menschen eine Ewigkeit dünkt! Geschlecht auf Geschlecht hast du kommen und gehen sehen seit Jahrhunderten. Weitere Jahrhunderte” wirst du überdauern, wenn unsere Gebeine längst vermodert sind. Wie sich dann wohl die Dinge hier herum gestaltet haben werden? Einst war es meine höchste Wonne, an alten Zeugen die Vergangenheit zu erforschen; jetzt möchte ich die Zukunft ergründen, möchte mit Chidher dem Alten ausrufen:
Und aber nach fünfhundert Jahren
Will ich desselbigen Weges fahren”
Ende.

Rezension:
Karl Borromäus Heinrich
in Süddeutsche Monatshefte 1908, Jg 05-2, Seite 99-100




Es wird uns aus niederen, mittleren und höheren Schulen oft gesagt, daß die Geschichte eine große Lehrmeisterin sei.
Aber unsere jungen Leute wachsen trotzdem aus ohne jede Tradition; von keinerlei Pietät beschwert, ergeben sie sich bedingungslos den modernen Ideen. Alle haben sie das selbstbewußte Gefühl, als ob das eigentliche Menschentum eben erst jetzt und mit ihnen begonnen habe.
Diese kulturlose Feindseligkeit gegen Ueberlieferung und Geschichte verschuldet zum großen Teil der Geschichtsunterricht auf unseren Schulen.
Leider ist dies nicht einmal ein schriftstellerisches Paradoxon, sondern ein Erlebnis, das heute viele gemeinsam haben.
Man lernt nur Daten und Zahlen; und man erfährt nichts von Zuständen, vom Pathos, das jeweils einem Jahrhundert innewohnte.
Die Methode ist arithmetisch, kulturlos, und kann nicht zur Kultur erziehen, denn mit Zahlen kann man die Vergangenheit nicht zum Leben erwecken.
Nun hat R. Finder etwas gefunden, wonach unsere jungen Leute auf den Schulen umsonst suchen: nämlich das Leben der Vergangenheit.
Ein kleines Tal und ein kleiner Berg. Aber die Menschen sind noch kleiner.
Finder sagt in der Vorrede, dass ihm die Geschichte des Ganzen wichtiger war als die der einzelnen Wesen.
Jener kleine Berg und jenes kleine Tal leben noch heute und geben Zeugnis. Aber die Pfahlbewohner, die Römer, die Burgherren und Bauern leben nicht mehr, oder höchstens noch durch jene historische Oertlichkeit.
Die Erzählung gibt einen lebendigen Begriff von den Zeiten, die über den stillen Ort hingezogen sind. Manchmal glaubt man eine leise, feine Ironie zu spüren: vielleicht liegt sie darin, daß der Erzähler, dem hier eine individualistische Ausarbeitung der menschlichen Charaktere sehr ferne lag, das Typische und Gesellschaftliche der beschriebenen Menschen so lebhaft unterstrichen, dagegen das Persönliche gering angeschlagen hat; daher diese Menschen dann bei ihren persönlichen Erlebnissen recht harm- und hilflos dastehen, sogar wenn sie große Uebeltäter sind. Es berührt übrigens sehr wohltuend, jetzt, wo alle von der menschlichen Psychologie ausgehen, wieder einen Schriftsteller der Seele ganzer Zeiten nachspüren zusehen. Die Sprache seiner Beobachtungen ist demgemäß sehr ruhig, aber gewandt, im wahren Sinne des Wortes, indem sie sich - ohne dabei in Sprachfexerei zu verfallen - den einzelnen Zeitläuften anpaßt und sich mit ihnen wandelt.
Die jeweilige Handlung, die nicht durch sich selbst, sondern durch ihren größeren geschichtlichen Zusammenhang Bedeutung erhalten dürfte, ist bei Pfahlbewohnern, Römern und Germanen, Burgherren und Bauern fast die gleiche. Sie ist vielleicht sogar dürftig.
Aber man muß die Absicht des Verfassers ehren, der dies selbst zugesteht, und wohl zeigen wollte, daß bei aller Verschiedenheit der äußeren Bedingungen das innerste Wesen der kurzlebigen Menschen während der letzten paar Jahrtausende gleich geblieben ist. Die Verwandtschaft mit den vergangenen Menschengeschlechtern fühlen lernen, scheint ja für den Nachkömmling vor allem nötig, wenn er in den Kreis der Kultur eintreten will.
Finders Buch ist für Lernende von großem Nutzen. Der Verfasser greift auf die Tradition zurück und verzichtet auf die Arithmetik.
Wenn manches an dem Buche sehr einfach erscheinen mag, schadet dies nicht: denn es ist besser, einfach als traditionslos zu sein.