Wiesneck
Kulturgeschichtliche Erzählung nach mündlichen und schriftlichen Überlieferungen
von R. Finder. (das ist Wilhelm Flinsch) Frankfurt a. M. Carl Jügels Verlag (M. Abendroth) 1905.
Inhalts-Verzeichnis:
Vorrede.
Zur Pfahlbauzeit
Unter römischer Herrschaft
Im MitteIaIter
Im Bauernkrieg.
Im 19. und 20. Jahrhundert
Vorrede.
Die Anregung zu nachstehenden Aufzeichnungen haben mir die »Ahnen« von
Gustav Freytag gegeben. Dabei will ich gleich betonen, daß ich mich
nicht in entferntesten unterfange, mit diesem Meister der
Gestaltungskunst mich irgendwie messen zu wollen. Während aber Freytag
die Geschichte eines Geschlechts schildert, habe ich mir vorgesetzt,
die Schicksale einer Örtlichkeit in verschiedenen Zeiten zu erzählen
Die Personen kommen dabei zumteil etwas schlecht weg; sie dienen dann
eben mehr als belebendes Beiwerk.
Die Trümmer von Wiesneck oben im Dreisamtale anmutig auf einem
vorgeschobenen Bergkegel von mäßiger Höhe gelegen, haben mein Interesse
schon als Knabe wachgerufen, namentlich als ich nicht nur ihr
zerbröckeltes Gemäuer aus nächster Nähe besichtigt, sondern auch einige
Gegenstände kennen gelernt hatte, deren man sich in der Burg täglich
bedient haben mochte. Das waren u. a. ein paar ungefüge eiserne
Feuerhalter von menschlicher Gestalt, welche sich in dem eine Stunde
von Wiesneck entfernten Gasthaus »zum Rainhof“ befanden und der
Überlieferung nach aus der Burg stammten.
Mit dem „Rainhof“ hatte es auch seine besondere Bewandtnis. Woher
rührte der eigentümliche Wirtshausname? Der Rhein kam dabei durchaus
nicht in Betracht, wohl aber ein Grasrain, ein alter Wall, der sich in
Höhe einiger Meter und in Ausdehnung etlicher Kilometer noch leicht
verfolgen ließ, zweifellos als Umwallung der da oben zu suchenden
verschollenen Römerstadt Tarodunum gedient hatte und auch besagten
„Rainhof“ einschloß. Der geschichtliche Zusammenhang dieser römischen
Ansiedlung mit der Burg Wiesneck galt als feststehend.
Daß ich es wage, mit meinen Ausführungen zumteil in sehr frühe, ja
selbst weit in vorgeschichtliche Zeiten zurückzugreifen, mag bei
manchem Leser ein bedenkliches Kopfschütteln erwecken. Ich bitte dann
aber zweierlei nicht außer acht zu lassen: erstens, daß ich eben nur
eine anspruchslose Erzählung schreiben will und nicht etwa eine hieb-
und stichfeste geologische oder kulturhistorische Abhandlung; zweitens,
daß doch selbst bei den auf gründlichster Forschung beruhenden
Vorstellungen die Phantasie manch vorhandene Lücke überbrücken muss.
Wenn in meinen Schilderungen der Schicksale Wiesnecks und seiner
Bewohner in den so verschiedenen Zeitaltern eine gewisse
Gleichartigkeit auffällt so liegt dieser Übereinstimmung volle
Absichtlichkeit zugrunde.
Der Verfasser.
Zur Pfahlbauzeit.
Es mögen jetzt 10.000 Jahre her sein, oder auch 100.000, denn auf eine
Null mehr oder weniger kommt es in der Geschichte der Erde nicht an, da
bildete der Titisee, oder wie man ihn damals nannte, Tisee, nicht das
verhältnismäßig, kleine Wasserbecken, wie jetzt, sondern er erstreckte
sich vom Fuße des Feldbergs weit weit über die ganze Hochebene des
Schwarzwaldes hin. Sein Ablauf, ein schmales, aber wildes Gewässer,
ergoß sich am Thurner vorbei, hinunter ins jetzige Dreisamtal. Dort
nahm es ein riesiger See auf, der nicht nur das Dreisamtal, sondern
auch das ganze Rheintal ausfüllte hinauf bis an den Jura und hinunter
bis an den Niederwald. Wo jetzt das Germaniadenkmal hinabblickt auf die
Klippen des Binger Lochs, da zeigte sich die Bergreihe bis hinüber nach
der Nahe zu vollständig geschlossen; sie bildete einen natürlichen Wall
gegen das Anbranden der Flut. Der Tisee war, wie viele andere der
flacheren Seen, von Pfahlbauern bewohnt, deren Ansiedelungen sich in
mäßiger Entfernung vom Ufer befanden. Um sich gegen Angriffe der
zahlreichen und gewaltigen wilden Tiere zu sichern, verließ man deren
Bereich auf dem festen Lande und erbaute die Hütten inmitten der
schützenden Wasserfläche auf hohen Pfahlrosten.
In einer solchen Pfahlbauhütte lebte mit seinem Vater ein Mädchen,
namens Ti. Schon zur damaligen Zeit liebten es die Menschen, ihre
Herkunft von alten Geschlechtern abzuleiten; so auch die Familie Ti,
welche behauptete, daß ihre Ahnen es gewesen seien, die dem Tisee
seinen Namen gegeben, daß sie also schon seit urvordenklichen Zeiten in
ihren Sitzen hausten. Andere Ansiedler meinten freilich, daß umgekehrt
diese ihren Namen demjenigen des Sees entliehen hätten. (Die Sprache
jener Pfahlbauer bediente sich nur ganz einfacher Formen. So
bezeichnete Ti nicht nur den See, sondern auch die erwähnte Familie
sowie jeden ihrer einst zahlreichen einzelnen Sprossen; nur in der
Betonung lag der Unterschied.) In einer benachbarten Hütte wohnte ein
Jüngling, namens To, dessen Eltern früh verstorben waren. Als Kinder
hatten Ti und To zusammen gespielt und innige Freundschaft verband sie
auch jetzt noch.
Es begab sich, daß die ohnedies beinahe beständig feuchte Witterung in
diesem Jahre besonders starke Regenmassen zeitigte, so zwar, wie die
auch damals schon angeführten „ältesten Leute“ es sich nicht erinnern
konnten. Der See schwoll bedenklich an, und es regnete immer weiter; ja
das Gewölk, anstatt sich zu lichten, verdichtete sich noch, und nun
begann es eine Reihe von Tagen unausgesetzt wie aus geöffneten
Schleusen vom Himmel zu gießen.
Die Pfahlbauer vermochten sich unheimlicher Gedanken nicht zu erwehren,
zumal die Bewohner mancher auf niedrigeren Rosten angelegten Häuser
durch das nasse Element schon daraus vertrieben worden waren und bei
günstiger liegenden Nachbarn Unterschlupf suchen mußten. Aber wie lange
blieb man da geborgen, wenn nicht bald ein Umschwung des Wetters
eintrat? Eine düstere uralte Weissagung machte die Runde in den Hütten.
Vor unendlich langer Zeit, so hieß es, habe dichter Wald den Boden des
jetzigen Seebeckens bedeckt. Da sei eine lange, lange Regenzeit
eingetreten und als sie geendet, sei anstelle des Waldes der See
vorhanden gewesen. Dereinst werde nun eine neue Flutzeit kommen aber
noch viel gewaltiger als jene, denn da würden Wasser, Luft und Feuer
gemeinsam trachten, die Wohnungen der Menschen zu zerstören und ihnen
Verderben und Untergang zu bringen.
Nur zu sehr schien es, als ob jene Botschaft sich nun erfüllen sollte,
denn zu dem unaufhörlichen Regen gesellte sich als gefährlicher
Bundesgenosse verheerender Sturm. Der Sturm artete in einen Orkan aus,
die Wellen des Sees gingen haushoch und drohten die Wände der auf ihren
Pfählen schwankenden Hütten zu zertrümmern. An ein Entrinnen auf das
feste Land war nicht zu denken, denn Vernichtung wäre die unfehlbare
Folge gewesen, hätte jemand gewagt, sich der Wut der entfesselten
Elemente preiszugeben. Jeder blieb auf seine Hütte angewiesen und auf
dasjenige, was er von Lebensmitteln darin aufgespeichert hatte. Und
befand man sich da nicht doch in vergleichsweiser Sicherheit? Denn auf
dem Festlande knickten unter den andauerd furchtbaren Erdschwankungen
Riesenbäume wie Strohhalme zusammen und gigantische Felsblöcke rollten
unaufhaltsam krachend zu Tal, alles ihre Bahn kreuzende zermalmend.
Um das Maß der Schrecken für die armen Seebewohner voll zu machen,
erfolgte nun auch noch ein gewaltiger Ausbruch des Vulkans auf dem
jetzt als Kaiserstuhl bekannten Gebirge, der ja ständig feurige Steine
auszuwerfen pflegte, und dessen Glut man am Wiederschein des Gewölks zu
gewahren gewohnt war. Helle Flammen von unglaublicher Höhe und
Mächtigkeit schlugen aus dem Krater empor, den ganzen Himmel weithin
mit dunkelrotem Feuerschein überziehend, der durch die Ritzen zwischen
den einzelnen Balken der Hütten drang und deren Inneres taghell
erleuchtete. Ein förmlicher Regen glühender Steine ergoß sich weit weit
im Umkreise und manche davon getroffene Hütte loderte in grellem Brande
auf. Jetzt, mit dem Feuer, sagte man sich, ist das geweissagte Ende
gekommen.
Mit einem Male erlosch die Glut und finstere Nacht deckte alles
ringsum. Ob es aber wirklich Nacht war oder Tag, wer hätte vermocht es
zu deuten? Denn tiefe Dunkelheit herrschte; die Sonne hatte schon seit
Tagen nicht vermocht, das dichte Gewölk zu durchdringen. Immer aufs
neue türmten sich schwarze Wolkenmassen auf; unversieglich ergoß sich
ihr Inhalt in den hoch angeschwollenen See. Auch der Orkan brauste in
unverminderter Stärke weiter, begleitet von ungewohnt heftigen
Erschütterungen der Erde und anhaltendem unterirdischen Donner.
To lag in seiner Hütte ausgestreckt auf seinem Bärenfell. Der Schlaf
hatte ihn endlich übermannt, nachdem er, er wußte selbst nicht wie
viel, Tage oder Nächte schlaflos verbracht hatte. Da war es ihm, als
würde seine Hütte gehoben und mit unheimlicher Schnelligkeit
davongetrieben. Er konnte sich darüber nicht klar werden, ob diese
Wahrnehmung nur auf einer Traumempfindung oder auf Wirklichkeit beruhe.
Wie die Gedanken in seinem Gehirn kreisten, so glaubte er auch die
Hütte um ihre eigene Achse kreisen zu fühlen; dann wieder, sie bewege
sich vorwärts. Ein furchtbarer Stoß, den die Hütte erlitt, weckte ihn
zum Bewußtsein dieser Wirklichkeit. Er klammerte sich mit aller Gewalt
fest, um bei dem fortwährenden heftigen Schwanken nicht zu Schaden zu
kommen. Plötzlich schien es ihm, als ob die Schnelligkeit des
Vorantreibens sich noch vermehre. Als kühner Schiffahrer war er in
seinem Einbaum schon manchmal durch die Stromschnellen des kleinen
Flusses gesteuert und hatte dabei jenes eigentümliche Gefühl des
schnellen Hinabgleitens auf schräger Fläche erprobt. Jetzt befiel ihn
eine ganz ähnliche Empfindung, nur daß die Bewegung eine weitaus
schnellere, heftigere war, von vielen ruckweisen Stößen und Gegenstößen
begleitet. Auf einmal erkrachte die Hütte unter einem gewaltigen
Anpralle und To wurde mit scharfem Rucke gegen die Wand geschleudert.
Er fühlte, wie das Dach über ihm zusammenstürzte, wie die Hütte aus
allen Fugen wich und wie einer der Balken ihn niederschlug. Dann verlor
er das Bewußtsein. Sein letzter Gedanke galt der armen Ti, wie er denn
überhaupt in den letzten schrecklichen Tagen durchaus nicht lediglich
an sein eigenes Heil, sondern auch gar häufig an das der gefährdeten
Genossin gedacht hatte. Immer wieder hatte er versucht, die Türe zu
öffnen um nach Ti zu spähen, allein die Ausführung erwies sich in
diesem Aufruhr der Elemente als ganz unmöglich. Und doch glaubte er
durch den höllischen Lärm, durch das schaurige Pfeifen und Tosen des
Orkans hindurch zuweilen Tis Angstrufe zu vernehmen. Es war ihm eine
entsetzliche Vorstellung, auch sie schutz- und hilflos der furchtbaren
Gefahr preisgegeben zu wissen und machtlos auf jeden Rettungsversuch
verzichten zu müssen. . . .
Als To aus seiner Betäubung erwachte, herrschte ringsum stockfinstere
Nacht. Noch strömte der Regen hernieder, noch tobte der Sturm, wenn
auch mit etwas verminderter Heftigkeit. Es bedurfte geraumer Zeit, bis
To sich Vergegenwärtigen konnte, daß er sich nicht in seiner Hütte oder
auf festem Boden befand und daß das ihn durchdringende Gefühl der Nässe
nicht nur vom Regen herrührte, sondern auch davon, daß er angeklammert
an einen Balken, mit halbem Körper im Wasser hing. So mochten einige
Stunden vergangen sein, als sich im Osten ein schwacher Lichtschein
erhob und die allmählich wachsende Helligkeit gestatten, die
Gegenstände rundum zu unterscheiden.
Kein wüster Traum äffte To, sondern er trieb tatsächlich auf einer fast
unermeßlich scheinenden Wasserfläche dahin. Die Ufer in der Ferne kamen
ihm fremd vor und doch meinte er wieder, bekannte Gebirgszüge zu
schauen. Einige der Gipfel glaubte er, bestimmt an ihren Formen zu
erkennen, nur wollten sie ihm bedeutend niedriger erscheinen als sonst;
dann auch verwirrte es ihn, daß er einige von geringerer Höhe überhaupt
nicht aufzufinden vermochte. Erst die weiter zunehmende Heiligkeit
offenbarte ihm den Grund der Veränderung in der sonst so bekannten
Gegend. Wohl befand er sich in dem eingangs erwähnten unteren
Seebecken, da, wo sich heutzutage das Dreisamtal hinzieht, aber der See
war infolge der andauernden Wolkenbrüche sowie durch den Ausbruch des
Tisees und anderer Hochbecken in einem Maße angeschwollen, daß seine
Fluten sämtliche niederen Berge überschwemmt hatten und nur die
höchsten Gipfel inselartig hervorragen ließen. Wie er hierher gelangt
war, das dämmerte in "Tos Gehirn, wo die Gedanken und Eindrücke
durcheinander taumelten wie die stürzenden Wände seiner Hütte, nur
mühsam empor. Wohl entsann er sich noch des tagelangen
Eingeschlossenseins in seiner Hütte und des dann folgenden
beängstigenden Gefühls, als werde dieselbe, einem leichten Fahrzeuge
gleich, von den Fluten emporgehoben und mit Windeseile bergab
getrieben. Nun erinnerte er sich auch des entsetzlichen Augenblicks als
die Hütte zerschellte, und da mit einem Mal überkam ihn die trostlose
Gewißheit, daß der rettende Balken, auf dem er dahin trieb, das letzte
Überbleibsel von der Behausung seiner Ahnen sei .... Jetzt gewahrte er
in geringer Entfernung vor sich eine inselartig aus dein Wasser
aufragende Felsengruppe von mäßigem Umfang. Es gelang ihm, sein
Fahrzeug dahin zu lenken und sich auf das rettende Ufer zu schwingen.
Die Umschau, welche er zunächst hielt, bot nichts tröstliches; zeigte
sie ihm doch nur, daß er sich allein befinde in einem Meere von schier
unendlicher Ausdehnung. Doch halt! Nicht ganz allein, denn was trieb da
vorn in beträchtlicher Entfernung? War das nicht ein Rost, wie
diejenigen, worauf man die Hütten zu errichten pflegte? und nun, was
richtete sich von diesem Roste auf und schien die Arme wie Hilfe
suchend nach ihm auszustrecken? Sein scharfes Auge entdeckte, daß es
ein menschliches Wesen sei und wenn ihn nicht alles täuschte, niemand
anders als die unglückselige Ti, welche mit dem Strome rasch dahin
trieb. Was To aber mit Einsetzen erfüllte, war die Wahrnehmung, daß das
Floß sich augenscheinlich in kreisender Bewegung befand und sich mit
zunehmender Schnelligkeit dem Mittelpunkte des Kreises näherte. Da, wo
von den verschiedenen Höhen die Wassermassen niederstürzend aufeinander
stießen, hatte sich ein mächtiger Strudel gebildet, der das schwankende
Fahrzeug zu verschlingen drohte.
Wenn uns auch über die Gebote der Ritterlichkeit bei den Pfahlbauer
keinerlei Überlieferungen zur Hand sind, so muß ich doch als
Geschichtsschreiber des braven To feststellen, daß bei diesem
entsetzlichen Anblicke der Entschluß in ihm aufflammte sich in die
Fluten zu stürzen in der Absicht, seine Jugendgenossin schwimmend zu
erreichen und sein bestes zu ihrer Rettung aufzubieten. Aber als ein so
vorzüglicher Schwimmer er sich auch deuchte, so belehrte ihn doch ein
Blick auf seinen weiter getriebenen Balken, daß die starke Strömung ihn
in ganz entgegengesetzte Richtung fortreißen würde.
Die Geschwindigkeit der Umdrehung des Floßes hatte mittlerweile noch
immer zugenommen. Jetzt neigte es sich in steilem Winkel nach innen. Ti
konnte sich nur durch Anklammern an dem äußern Rande vor dem
Hinabgleiten in den schäumenden Trichter bewahren. Doch was half ihr
diese vorübergehende Rettung! Unaufhaltsam und immer rascher kreisend
näherte sich das Floß dem Innern des Wirbels. Ein schriller Aufschrei
gellte über die Wasserfläche hin und alles war verschwunden.
To stierte noch immer auf die Stelle, wo er seine Gespielin versinken
sehen hatte; er wähnte, sie müsse noch einmal auftauchen. Doch:
»Es kommen, es kommen die Wasser all,
Sie rauschen herauf, sie tauschen nieder,
Die Jungfrau bringt keines wieder. “
Als sich ihm jedoch endlich die Überzeugung aufdrängte, daß keine
Hoffnung mehr bestehe, sank er wie vernichtet auf den Felsen nieder.
Der verehrte Leser wird zweifelsohne den berechtigten Wunsch hegen zu
erfahren, wie er sich denn eigentlich das Aussehen unseres Helden
vorzustellen habe, und so will ich denn, wenn auch etwas spät,
versuchen, ihn zu schildern. To besaß mittlere Größe; seine
breitschultrig stämmige Gestalt, die auffallend langen muskulösen Arme
deuteten auf große Körperkraft, die Bewegungen auf ungemeine
Gelenkigkeit. Was Farbe anbelangt, so war deren Grundton auf braun
gestimmt. Seine Haut spielte stark in’s Bräunliche, seine dunkelbraunen
Haare fielen lang und straff auf die Schultern, braune Farbe zeigten
auch die klugen Augen. Die Gesichtszüge trugen derben Schnitt; die Nase
war leicht aufgestülpt, der Mund etwas breit, der Gesamtausdrück aber
ein gutmütiger.
Tos Kleidung bestand zurzeit nur in seiner Haut, denn des WolfsfelIes,
welches ihm sonst Brust und Lenden zu bedecken pflegte, hatte er sich
im Schlafe entledigt gehabt und nun mit dem ganzen Inhalt seiner Hütte
verloren.
Die Natur hatte die Pfahlbauer, ihrem mühseligen Kampfe um’s
Dasein entsprechend, nicht nur mit viel schärferem Gesicht und Gehör,
sondern auch mit weit bedeutenderer Körperkraft und Zähigkeit
ausgerüstet als sie der moderne Mensch aufweist. Trotzdem machte sich
jetzt bei To die Ermütung geltend. Aus dumpfem Hinbrüten verfiel er in
langen, tiefen Schlaf, eine Folge der übermäßigen Anstrengung und
Aufregung bei den jüngsten Erlebnissen. Als er endlich erwachte,
dämmerte der zweite Morgen herein und nun trat bei To die Empfindung
eines gewaltigen Hungers in ihre Rechte. Aber da schien guter Rat
teuer. Denn nichts erblickte er, als die weite Wasserwüste, und das
Land, das allenfalls ihm hätte Nahrung bieten können, lag weit
entfernt. Indem er nun seine Augen über das kleine Felseiland schweifen
ließ, entdeckte er einige Muscheln, welche die Flut an’s Ufer gespült
hatte. Heißhungrig griff er danach, ohne daß der willkommne Fund aber
den auf eine gewisse Massenhaftigkeit der Mahlzeit zielenden
Anforderungen seines Magens irgendwie genügen konnte. Da kam ihm denn
ein dicht herantreibendes Behältnis gefüllt mit Rüben und allerlei
sonstigen Feldfrüchten höchst gelegen.
Nachdem To seine Esslust befriedigt, oder, hoffen wir, schon
währenddessen, fiel ihm aufs neue das traurige Schicksal seiner
Gespielin auf die Seele. Trotzdem er es mit eignen Augen angesehen,
mochte er noch immer nicht an die Wirklichkeit des Geschehenen glauben.
Er hoffte, dass er sich getäuscht, dass Tis Hütte die Katastrophe
überstanden habe. Es drängte ihn, darüber je eher, je lieber zu
vergewissern und deshalb den Versuch zu machen, zu der Ansiedlung
zurück zu gelangen, sobald die Witterungsverhältnisse dies nur
einigermaßen zulassen würden. Regen und Wind hatten aufgehört, und es
schien, als ob das Wasser, welches Tos Eiland umspülte schon merklich
gefallen und in weiterem Abnehmen begriffen wäre. Da bei Anbruch des
dritten Morgens der Wasserspiegel weiter gesunken war und die Strömung
keine unüberwindlichen Schwierigkeiten zu bieten versprach, so besann
sich To nicht länger, sondern sprang ins Wasser und schwamm hinüber an
den Fuß des nächstliegenden Berges, den er wohlbehalten, wenn auch
unter Ausbietung seiner vollen Kraft und Ausdauer erreichte. Von hier
aus suchte er den Platz der alten Ansiedlung zu gewinnen. Es war ein
mühseliges Beginnen, denn überall lag der Boden fußhoch mit Schlamm
bedeckt. Der Pfad, welcher sich sonst dem Abfluss des Tisees entlang
zog, war völlig überschwemmt und der Fluß brauste noch mit
außerordentlicher Gewalt durch die Schlucht. To mußte sich also seinen
Weg durch den dichten Wald, über den Kamm des Gebirges hinüber bahnen.
Endlich stand er auf der Höhe und konnte nun von einer freien Stelle
aus das Talbecken überschauen, worin seither der Tisee geflutet hatte.
Wohl hatte sich dessen Oberfläche wieder gesenkt, wenn auch noch lange
nicht auf den alten Stand. Aber welche Veränderung mußte To wahrnehmen!
Da wo eine Reihe von Ansiedlungen hunderte von Hütten umfasst hatte,
ragten jetzt nur noch die Spitzen einiger Pfosten aus der Wasserwüste
empor. Auch nicht eines der Gebäude war verschont geblieben; kein
lebendes Wesen ließ sich weit und breit blicken. Waren sie alle
zugrunde gegangen? Auf gleiche Weise wie die Unglückliche, deren
schauriges Ende er gestern mit ansehen mußte und in der er nun seine
Gespielin mit Gewißheit beklagte? Und er als einziger war diesem
furchtbaren Naturereignis entkommen! Mit doppelter Wucht lasteten diese
Gedanken auf ihm, verbunden mit der Erkenntnis, nunmehr ganz auf sich
allein angewiesen da zustehen. Langsam und traurig schlich To der
Stätte seiner Kindheit näher; weshalb, das wußte er eigentlich selbst
nicht recht, denn einer Bestätigung seiner Wahrnehmungen bedurfte es
wahrlich nicht. Und doch sollte sein Gang nicht unbelohnt bleiben. Als
er dem Flußbette nahe kann, stieß er auf einen hierhin verschlagenen
Einbaum, ein Fahrzeug, dessen er zum Weiterleben dringend bedurfte und
deshalb nicht zögerte sich seiner zu bemächtigen. Das Boot schien so
gut wie unverletzt und was Tos Freude krönte, es enthielt eine Unzahl
der notwendigsten Werkzeuge, Gefäße und Steinwaffen, auch Angelhaken
und Fischspeere aus Gräten. Vermutlich hatte einer der gefährdeten
Pfahlbauer das Fahrzeug ausgerüstet, um auf ihm zu entfliehen, war aber
vorher vom Verderben ereilt worden.
Seine Wohnung wieder hier oben in dem trügerischen See aufzuschlagen,
damit konnte To nach den gemachten trüben Erfahrungen sich nicht
befreunden. Die Ansiedelung auf dem Festlande aber erschien einem
Pfahlbauer völlig undenkbar. Es blieb also nur übrig, eine Insel als
Wohnstätte zu wählen, und das Schicksal hatte dem Vereinsamten ja den
Weg dazu gewiesen. Er machte zunächst seinen Kahn flott und unternahm
das Wagnis sich auf dem Ungestüm dahin brausenden Abflusse des Tisees
in das untere Seebecken zu begeben. Zuvor aber belud er das Boot mit
soviel Feldfrüchten, als es nur zu tragen vermochte. Von Feldfrüchten
im heutigen Sinne kann freilich keine Rede sein, denn eigentlichen
Feldbau betrieben die Bewohner des Tisees nicht. Wohl aber brachte die
damals ständig herrschende feuchtwarme Witterung allerhand genießbare
Erzeugnisse von Boden und Baum ohne Zutun des Menschen hervor, so daß
To mit fast unerschöpflichen Vorräten rechnen durfte. Völlig zum
Vegetarier zu werden brauchte er ja nicht, nachdem die ihm in die Hände
gefallenen Gerätschaften ihn in die Lage setzten, sich auch mit Fisch
und Fleisch zu versehen.
Mehr Sorge als die Nahrung erweckte ihm die Beschaffung eines
geeigneten Obdachs, um nicht auf die Dauer ohne Dach und Fach auf der
öden Felskuppe hausen zu müssen. An Holz herrschte freilich kein
Mangel, denn dichter Hochwald bedeckte die Berge; aber wie sollte es To
allein gelingen, die nötige Anzahl Stämme zu fällen, zu richten und an
Ort und Stelle zu schaffen?
Noch einige Tage lang fiel das Wasser, dann behielt es seinen Stand bei
und die Insel ragte etwa hundert Fuß aus dem Wasser empor. Das nächste
Ufer lag so weit entfernt, daß eine Überrumpelung durch reißendes
Landgetier als ausgeschlossen gelten mußte. Nur etwa das obere Drittel
der Insel bestand aus Felsboden; von da ab zog sich fast rundum dichter
Wald bis herab an den Wasserspiegel. Der Baumwuchs hatte durch die
wochenlange Überflutung kaum merklich gelitten, war er doch an
dergleichen überreichliche Wässerung gewöhnt.
To hielt es für angemessen, die künftige Stätte seiner Wirksamkeit, als
deren Alleinherrscher in des Wortes engster Bedeutung er sich fühlen
mußte, einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Dabei entdeckte
er, daß der Hügel gegen das untere Ende hin sich wesentlich abflachte.
Hier lagen große Felsblöcke wirr durcheinander geworfen, sei es durch
frühere Ereignisse, sei es durch die Gewalt der eben erst Verlaufenen
Flut. An einer Stelle erschien ihm die Schichtung der Gesteine sehr
auffällig. Dicht am Wasserrande zeigte sich eine tiefe rundliche
Öffnung, weit genug, einem Menschen bequemen Durchschlupf zu gestatten.
Ein davor liegender Felsblock von ähnlich runder Form, schien den
Zugang verschlossen zu haben, aber jetzt durch Unterspülung
niedergestürzt zu sein.
Als To, seinem Wissensdrange folgend, durch das Loch gekrochen war,
befand er sich in einem langsam ansteigenden, höhlenartigen Gange. Nur
der unterste Teil erwies sich so enge, denn bald erweiterte sich die
Höhle in Höhe und Breite dergestalt, daß To gut aufrecht zu schreiten
vermochte. Vom oberen Ende her schien die Höhle gleichfalls einen
Zugang zu besitzen, wenigstens fiel von dort aus spärliches Tageslicht
herein, immerhin genügend, den Raum und was er barg zu erhellen. Den
Boden bedeckte fußhoher, feiner, weicher und dabei ganz trockner Sand,
eine an und für sich gar nicht üble Lagerstätte. Die Höhle schien auch
schon Wohnzwecken gedient zu haben, denn es fanden sich zerstreut
umherliegend kleinere und größere Knochenüberbleibsel, wie von
Mahlzeiten herrührend, und in der Nähe des oberen Ausgangs deuteten
unzweifelhafte Aschenreste auf eine ehemalige Feuerstätte. In geringer
Entfernung hiervon lag fast unversehrt ein vollständiges Knochengerüst,
allem Anscheine nach von einem menschenähnlichen Wesen herstammend, dem
aber To kaum bis zur Schulterhöhe gereicht hätte. Jedenfalls waren
lange, lange Zeiten verstrichen seit dieser letzte Bewohner geatmet
hatte, denn beim Berühren zerfielen die Knochen zu Staub. Daß es sich
hier ganz gemächlich hausen lassen müsse, daß auch dabei die
persönliche Sicherheit genügend gewahrt werden könne, das übersah
To mit einem Blick. Er richtete sich also, wenn man so
sagen darf, häuslich ein und begann gleich damit, daß er sich auf dem
weichen Sande zur Ruhe streckte.
Es würde zu weit führen, wollten wir Tos Bewegungen weiterhin im
einzelnen verfolgen, Es genügt zu sagen, daß sein Leben sich etwa
abspielte wie dasjenige des uns allen aus den Kinderjahren
bekannten Robinson.
Nachdem er selbst einen so trefflichen Unterschlupf gefunden, sorgte er
auch für einen solchen für sein Boot. Ein weit überhängender Felsen an
der tiefsten Einbuchtung deckte es gegen Regenfälle; weil aber das Ufer
hier steil und schlüpfrig abfiel, wandelte es To in drei regelrechte
Stufen um, deren unterste das Wasser bespülte. Der hier angeschwemmte
stark tonhaltige Sand erstarrte schon binnen wenigen Tagen zu einer
steinharten Masse.
Was Tos Vorgänger in der Höhle besessen, was To fehlte und was er auf
die Dauer schmerzlich vermißte, war Feuer zur Bereitung seiner Nahrung.
Der verehrte Leser wird sich aus Robinsonaden und dergleichen
entsinnen, daß man den Naturvölkern die Fähigkeit zuschreibt, sich
Feuer leicht zu verschaffen, indem sie zwei Hölzer von verschiedener
Beschaffenheit in heftige Reibung versetzen. Welcher Knabe hätte nicht
auch einmal diesen Versuch gemacht und wohl mit ebenso unbefriedigendem
Ausgang wie der Verfasser! Woran es gelegen, weiß ich nicht zu sagen,
vielleicht im Mangel an der nötigen Kraft und Ausdauer bei Unsereinem.
To, dem es an diesen Eigenschaften freilich keineswegs gebrach, bemühte
sich auch vergebens. Wohl hatte er die Dorfalten von dieser Art und
Weise der Feuererzeugung reden gehört, allein niemand hatte die Kunst
ausgeübt, einfach weil man ihrer nicht bedurfte, da man Feuer besaß und
dafür sorgte, dass es auf dem Herde nie verlöschte. Genügender Vorrat
gut ausgetrockneten Holzes lagerte zu diesem Zweck in der Nähe des
Feuerplatzes. To entsann sich aber auch einer Sage, wonach die Bewohner
des Tisees ihr Feuer ursprünglich von dem Vulkan jenseits des großen
Seebeckens empfangen hatten und zwar in Gestalt eines bis zu ihnen
geschleuderten großen glühenden Blockes. Was seinen Vorfahren der
gütige Zufall gespendet, das beschloß To aus eigener Kraft sich zu
beschaffen, indem er sich einen der feurigen Steine holte, wie sie der
jetzt wieder zu ganz harmloser Tätigkeit zurückgekehrte Vulkan in seine
nächste Umgebung streute.
So sehen wir denn To an einem der nächsten Tage seinen Einbaum
besteigen und mutig auf sein Ziel lossteuern. Windstille herrschte und
das gewaltige Seebecken lag in vollständiger Ruhe. Trotz ungehinderter
Fahrt langte To erst abends am Fuße des Feuerberges an. Gleich hohen
Herrschaften heutzutage in ihrer Pacht, verbrachte er die Nacht in
seinem Boote. Früh am nächsten Morgen stieg er bergan und es gelang
ihm, einen mächtigen glühenden Stein den Berg hinab zu rollen und mit
Aufbietung aller Geschicklichkeit auf im Boote bereitgehaltenen großen
Muschelschalen zu betten. Die Glut bewahrte er durch beständiges
Zulegen gedörrter Holzspähne. Am zweiten Abend wieder in seiner Höhle
angelangt, entzündete er auf der alten Feuerstätte die Flamme und
sorgte für ihre dauernde Erhaltung.
Auf diese Weise mochte eine Reihe von Monaten vergangen sein, da
verfinsterte sich der Himmel wieder und schon wähnte To, dass eine neue
Wassersnot hereinbräche. Aber diese Befürchtung erwies sich als falsch,
denn nicht feuchte Dünste waren es, die den Himmel trübten, sondern
dichte, dem Vulkan entsteigende Rauchwolken, gefolgt von einem neuen
gewaltigen Ausbruche. Die Erde erbebte weit im Umkreis. To wurde von
dieser Bewegung unsanft aus dem Schlafe gerüttelt. Weitere Sorgen
erweckte sie jedoch in ihm nicht, denn derartige, wenn auch gelindere
Erschütterungen bildeten auch früher fast die Alltäglichkeit, ebenso
wie der die Luft erfüllende Schwefelqualm. Tos Atmungsorgane zeigten
sich solchen atmosphärischen Einwirkungen freilich völlig gewachsen.
Eine früher gemachte Beobachtung fand er jetzt wieder bestätigt, daß
nähmlich zurzeit derartiger Vorgänge in der Natur der Fischfang sich am
ergiebigsten gestaltete. Die Fische drängten dann gleichsam nach der
Oberfläche des in seinen Grundtiefen aufgewühlten Wassers. Diesen
Umstand wollte To sich zunutze machen. Er gedachte einen mächtigen
Fischzug zu unternehmen und dann die Beute am Feuer zu trocknen, als
willkommenen Vorrat für schlechtere Zeiten. Bei seiner oben
beschriebenen Fahrt war seinem kundigen Auge der bedeutendere
Fischreichtum in dem äußeren Seebecken aufgefallen, auch andere und
größere Arten als in seiner Nähe gab es dort. Sie trachtete er zu
gewinnen und in Erwartung eines gleich günstigen Ausganges wie bei
seinem ersten Argonautenzuge stach er munter in See.
Die Heftigkeit des vulkanischen Ausdrucks dauerte an. Auch die Erdstöße
folgten sich in immer kürzeren Pausen, begleitet von gewaltigem
unterirdischen Donner sowie von einem ganz eigentümlichen, nie zuvor
vernommenen Geräusche, gleichsam wie aus weiter Ferne über den
Wasserspiegel herzitternd. Geriet auch die Wasserfläche zeitweise in
starke Wallung, so vermochte dies To doch ebensowenig von der
Ausführung seines einmal gefaßten Planes abzuhalten, als die
Wahrnehmung, dass der Berg immer gewaltigere Feuermassen ausspie. Jetzt
stieg eine Feuersäule von außerordentlichem Umfange berghoch und
senkrecht in die Luft. Gleichzeitig ergossen sich zwei breite glühende
Lavaströme in den See, nahe der Stelle wo To einst gelandet war. In
weitem Umkreise fielen mächtige Stücke der glühenden Masse in das
hochaufspritzende Wasser. Wo der Lavastrom dasselbe erreichte, zischten
Riesenwolken von Dampf auf; sie lagerten sich, untermischt mit dein
schwärzlichen Kraterqualm in dichter Schicht über die Wasserfläche und
verbreiteten Dämmerung ringsumher.
Die Fischwelt schien durch das Naturereignis aufs höchste geängstigt;
scharenweise erschienen die stummen Schuppenträger an der Oberfläche.
To hätte in kürzester Frist sein Boot mit ihnen anfüllen können; warum
aber griff er nicht zu? Bei all seiner Ursprünglichkeit hatte er
Anwandlungen von Feinschmeckerei, welche sich in ausgesprochener
Vorliebe für einen bestimmten lachsartigen Wasserbewohner offenbarte.
Ihm galt Tos diesmaliger, bisher ergebnisloser Beutezug; denn keiner
seiner Gattung ließ sich bisher blicken. Wollte To nicht unverrichteter
Dinge umkehren, so musste er sich entschließen, der herabregnenden
glühenden Steine ungeachtet, nahe an das Vulkangebirge heran zu rudern,
in dessen Buchten er seine Beute sicher zu finden glaubte. Allein
unerklärlicherweise wollte es Tos starkem Arme nicht gelingen, den
Einbaum in gewünschter Richtung voran zu treiben. Immer trieb er
nördlich ab und je weiter To in den See hinaus gelangte, als desto
unwiderstehlicher erwies sich die Gewalt der Strömung, deren
Vorhandensein ihm bei seinem ersten Besuche nicht aufgefallen war. Und
doch hatte er damals kaum nennenswerte Anstrengungen machen müssen;
heute dagegen arbeitete er mit vollen Kräften und dennoch ohne Erfolg.
So gewohnt ihm auch sonst die feuchte Wärme, die rauchgeschwängerte
dicke Luft war, heute schienen ihm beide unerträglich. Stromweise rann
der Schweiß an ihm herab, keuchend ging sein Atem und er fühlte die
Kraft seiner Muskeln erlahmen. Um sich zu kühlen, schöpfte er Wasser
mit der hohlen Hand, aber erschreckt zog er sie zurück, denn die Flut
fühlte sich ganz heiß an. Jetzt trieben auch tote Fische in Menge an
ihm vorüber; mechanisch erhaschte er einen derselben und gewahrte, daß
dieser förmlich gesotten war. To fühlte, dass er seinem Untergange
rettungslos entgegengehe, dass menschliche Widerstandsfähigkeit dieser
unheimlichen Vereinigung feindseliger Elemente nicht gewachsen sei. Und
doch trachtete er instinktmäßig der verderbendrohenden Glühhitze des
Feuerberges zu entkommen, indem er nun der Strömung folgend aus
Leibeskräften nach Norden ruderte. Wirklich schien dieses Bestreben
aussichtsvoll, denn je mehr der Kahn vordrang, umso lichter wurde es
ringsum und die Wasserwärme nahm merklich ab.
To begann freier aufzuatmen. Da auf einmal erfolgte ein Stoß, eine
Erderschütterung von furchtbarer Gewalt. Hochauf schwoll das Wasser,
To´s Einbaum zuerst in rasch kreisende Bewegung versetzend, ihn dann
jedoch pfeilschnell in südlicher Richtung voranschiebend. In kürzester
Frist fand sich der unglückliche Schiffer in unmittelbare Nähe der vom
Vulkan herabfließenden Glutströme getrieben. Noch dichter als vorher
lagerte hier der erstickende Qualm und Dampf; das Wasser schwoll und
quoll und brodelte, mächtige Blasen stiegen auf, Schaum trieb umher,
die ganze Seebucht dampfte in Siedehitze Tos Körper war bedeckt mit
Brandwunden, verursacht durch das überspritzende kochende Wasser.
Krampfhaft angeklammert hielt er sich, um nicht aus dem heftig
schwankenden Fahrzeuge geschleudert zu werden. Die Sinne begannen ihm
zu schwinden . . . Da, plötzliche Tagehelle! Ein mächtiger glühender
Block traf das Bot und begrub es samt seinem Insassen in dem hoch über
ihnen zusammenschlagenden Gischte . . . .
An jenem Tage wurde, unterstützt durch die Gewalt des Erdbebens, die
bereits Jahrtausende lang währende Sägearbeit des Wassers von Erfolg
gekrönt. Da wo heutzutage im ,,Binger Loch“ noch einzelne niedere
Klippen ragen, hatten die Fluten sich Bahn durch das Gestein gebrochen
herab zum Weltmeer. Das anfangs nur schmale Rinnsal wühlte sich nach
weiteren Jahrtausenden ein tiefes Bett für die grünschillernden Wellen
des gewaltigen Stromes, den unsere Lieder als „Vater Rhein« besingen.
Unter römischer Herrschaft.
Die Wasser des Tisees, oder Titisees, wie man ihn jetzt nannte,
umspülten schon seit Jahrtausenden nicht mehr die Pfähle, auf welchen
einst Tos Heimatdorf geruht hatte. Die jetzigen Anwohner wußten sich
nicht zu deuten, wozu die mächtigen Eichenpfosten gedient haben
mochten, welche noch vereinzelt auf sumpfiger Matte hervorragten. Aus
abergläubischer Furcht aber wagten sie nicht Hand daran zu legen.
Ungläubig würden sie die Köpfe geschüttelt haben, hätte man ihnen
vorerzählen wollen, dass die Wasser des Sees einstmals bis hierher
fluteten, noch mehr aber bei der Behauptung, daß auch das weite
unterhalb gelegene Tal einstmals mit Wasser angefüllt und von Fischen
belebt gewesen sei. Pochten sie doch darauf Autochthonen zu sein, deren
Ansiedlungen von jeher hier gestanden hätten, also die Ureinwohner und
eigentlichen Besitzer des Landes, wenn auch erstmals von den
stürmischen Germanen und dann mit diesen durch die Römer unterjocht. In
der Tat deutete auch nichts darauf hin, dass einst der Titisee eine
solche Ausdehnung besessen haben könnte. Und nun gar der kleine Tümpel
da unten im Tale, von knapp einer halben Stunde im Umkreise. Wie dürfte
sich jemand unterfangen in ihm den Überrest eines meerartigen
Seebeckens zu sehen!
Dichter Urwald deckte sämtliche Höhen und erstreckte sich auch über die
Talflächen. Nur an wenigen Stellen glänzten Lichtungen, Matten, worauf
Vieh weidete. Wenn man genauer zuschaute, mußten einem in dem die Ebene
beschattenden Walde einige schnurgerade Linien von beträchtlicher
Ausdehnung ausfallen, die strahlenförmig von einem Mittelpunkt
ausgingen. Es waren dies Durchhaue welche den Wald in Reviere teilten
und zugleich nach Entfernung der gröbsten Hindernisse in Gestalt von
Wurzeln, Sträuchern und Schlinggewächsen leidlich gangbare Verkehrswege
durch diese Wildnis bildeten. Außerdem gab es noch schmale, nur den
Eingeborenen bekannte Waldpfade
Den Mittelpunkt jenes Verkehrsnetzes - wenn man es so nennen darf -
bildete die Römerstadt Tarodunum. (Manche wollen den Namen des in der
Nähe liegenden heutigen Zarten davon herleiten.) Ungleich den Festungen
und Burgen späterer Jahrhunderte, welche man mit Vorliebe auf erhöhten
Punkten anzulegen pflegte, breitete sich die Stadt mit ihren
Umwallungen mitten in der Ebene aus, wie dies dem Wesen solcher
römischen Ansiedelungen entsprach. Bei ihrer Anlage war vor allem
Bedacht genommen auf Sicherung gegen die meist zur Nachtzeit
ausgeführten Überfälle durch die aufsässigen Alemannen. Um den Feinden
solche Unternehmungen tunlichst zu erschweren, hatte man nach alter
Kriegsregel einen breiten, baumlosest Gürtel rings um die Außenwerke
gezogen und im Anschluss daran die vorerwähnten Durchhaue geschaffen.
Die Lage der Stadt schien günstig gewählt, denn von hier aus ließen
sich auch die Pfade gut überwachen, welche aus verschiedenen Richtungen
vom Gebirge in die Ebene hinabziehend sich an dieser Stelle kreuzten
Dennoch erwies sich mit der Zeit eine noch weitere Umschau
erforderlich, als sie der städtische Wartturm zuließ. Vom östlichen
Gebirge her drohte stets die größte Gefahr, und es erschien dem
Befehlshaber der Stadt deshalb wünschenswert, sich einen Auslug zu
schaffen, von dem aus man die Bewegungen des Feindes früher und
sicherer als bisher beobachten konnte. Von den mancherlei Anhöhen,
welche man zur Errichtung einer solchen Warte ins Auge faßte, schien
keine sich besser eignen zu wollen, als der kleine vorgeschobene
felsgekrönte Berg, welcher die Verkehrswege durch Wagensteig und
Höllental beherrschte. Die ganze Bildung und nahezu völlig freie Lage
des Hügels mit seiner breiten Kuppe und den steil abfallenden Wänden
machte ihn zur Anlage einer Bergfestung recht geeignet.
Es handelte sich, wie der geehrte Leser schon erraten haben wird, um
keinen anderen Ort, als um die einstmals von To bewohnte Felsinsel,
deren Boden sich im Laufe der Jahrtausende mit einer hohen Humusschicht
bedeckt hatte.
Was aber in den Augen des römischen Feldherrn einen besonders
beachtenswerten Vorzug bildete, war die zufällig gefundene Höhle,
welche sich von der oberen Abdachung bis weit hinunter zog und gute
Gelegenheit zu heimlichen Ausfällen, aber auch in Fällen äußerster
Bedrängnis noch einen letzten Ausweg zum Entweichen bot.
So ging man denn rüstig ans Werk. Die den Bergkegel umstehenden Buchen,
Eichen und Fichten wurden gefällt, letztere dienten zugleich zur
Aufrichtung der doppelten Palisadenreihe. Die Baumstümpfe wurden
abgebrannt, und wo sich ehemals schattige Baumkronen gewölbt hatten,
entstanden jetzt geräumige Hofe wie auch, nach Süden gelegen, ein
Garten zu Nutzen und Annehmlichkeiten. Dann begann der Bau des
eigentlichen Wartturmes, das unterste Stockwerk aus mächtigen, roh
zugehauenen Quadern, das nächste aus kleineren Felssteinen, die oberen
beiden aus Holz errichtet. Die Räume zur Lagerung der Besatzung und
ihres Befehlshabers, vorläufig in Fachwerk ausgeführt,
gruppierten sich um den Wartturm herum; die Herstellung in
dauerhafterer Weise behielt man sich auf gelegenere Zeiten vor.
Von dem Wartturme aus genoß man einen weiten Ausblick; westlich, da wo
das breite Silberband des Rheins erglänzte, ragte Brisaccum auf seinem
Felsklotz; im Vordergrund, nur einige römische Meilen entfernt lag
Tarodunum, so dass man sich durch verabredete Zeichen leicht
verständigen konnte. Die Nähe des neuen Kastells gab ihm seinen Namen
,,Castrum vicinum“
Zum Befehlshaber des Kastells wurde der Centurio Marcellus ernannt.
Geborener Römer, hatte er manches Jahr in germanischen Garnisonen
zugebracht, war mit Wesen wie Kampfesart der Germanen, auch
einigermaßen mit ihrer Sprache vertraut und daher wohl besonders für
besagten Posten geeignet.
Marcellus hatte vor ungefähr einem Jahre eine junge Römerin aus edlem
Geschlecht namens Lavinia heimgeführt, und sie war dem Gatten ohne
Zaudern hierher in die Wildnis gefolgt. Im Hause ihres Vaters, der
längere Zeit einen weit vorgeschobenen Posten in Germanien befehligte,
hatte sie zugleich mit der rauhtönenden Sprache Land und Leute kennen
und schätzen gelernt; wir möchten sagen, dass gerade die Aussicht,
wieder nach Germanien zu kommen, mitbestimmend auf sie bei Annahme der
Hand des wesentlich älteren Marcellus wirkte.
Monatelang bereits hatten die Gatten zu Lavinias voller Befriedigung in
Tarodunum gelebt, als der Centurio Befehl erhielt, sich nach Castrum
vicinum zu begeben. An ihrem neuen Bestimmungsorte angelangt, richtete
Lavinia die Gemächer so wohnlich ein als die obwaltenden Umstände es
zuliessen. Auch für die Annehmlichkeiten außerhalb des Hauses, für den
Aufenthalt im Freien, sorgte sie. So wurde unter ihrer kundigen Leitung
nicht nur der Küchengarten sondern auch ein Ziergärtlein angelegt.
Einzelne höhere Laubbäume, welche man geglaubt hatte stehen lassen zu
dürfen, wurden geschickt zur Anbringung schattiger Ruhesitze benutzt.
Allerhand Blumen erfreuten das Auge, frischsprossende Fichten, sowie
Epheu und andere Schlinggewächse, verliehen dem düsteren Mauer- und
Balkenwerk der Gebäude einen freundlicheren Anstrich.
Lavinia stand sich ihres Werkes freuend im Garten, als sie sich von Marcellus gerufen hörte:
“Nicht nur drinnen im Hause hat sich alles in den wenigen Tagen Deiner
Anwesenheit so behaglich gestaltet, nein auch hier außen erkennt man
Deine ordnende Hand, Deinen feinen Sinn. Wo hast Du nur in der kurzen
Frist all die Gewächse aufgetrieben?“
„Die verdanke ich zumeist der lebhaften Mitwirkung des Riquinus, der
einen ebenso regen Eifer, als Anstelligkeit in Gartenangelegenheiten zu
entwickeln beginnt“ erwiderte sie.
„Kein Wunder unter solch vortrefflicher Anleitung, wie der Deinigen,“
gab er scherzend zurück. Doch wenn ich nicht irre, so kommt da gerade
der Wolf in der Fabel, oder ich müßte mich sehr täuschen, wenn sich
hinter dem glänzend grünen Blattwerk nicht des Riquinus blonder
Lockenkopf versteckte.“
Dieser war es in der Tat; er schleppte in jeder Hand einen mannshohen
Stechpalmenstrach und keuchte auf die Frage, wo er sie gefunden, die
Antwort hervor: „Die kannte ich schon längst, standen sie doch da unten
am See ganz in der Nähe meines Lieblings-Fischplatzes; ich meine, sie
müßten sich trefflich eignen, den Eingang des Gartens zu zieren,
umsomehr als sie ihr Laub im Winter bewahren und dadurch einen
freundlichen Anblick gewähren, wenn Deine Augen in die Winterlandschaft
fallen.“
Er hatte sich damit an Lavinia gewandt, in fließendem Latein, wenn auch
mit fremdartiger Aussprache. Nicht leicht konnte man größere Gegensätze
sehen, oder einen deutlicheren Unterschied der verschiedenen Typen, als
bei den drei hier zusammenstehenden Personen.
Lavinia galt als vollendete Schönheit, und mit Recht; besaß sie doch
rein klassischen Gesichtsschnitt: die niedere Stirn und Nase eine Linie
bildend, kleinen Mund und starkes Kinn, dunkle, ausdrucksvolle Augen,
das Ganze umrahmt von reichem, tiefschwarzem Haar. Wie die
Gesichtsbildung, so zeigte auch ihre Gestalt klassische Formen. Trotz
der damals herrschenden Mode - und sie verstieg sich zu ebenso großen
Torheiten wie heutzutage - trug Lavinia ihr Haar nicht in einem
künstlichen Aufbau, sondern einfach in der Mitte gescheitelt, an den
Schläfen zurück gestrichen und im Nacken mit einem griechischen Knoten
befestigt. Auch in der Tracht hatte sie sich den Erfordernissen der
Gegend anbequemt; das lichtgraue Gewand ließ die kleinen Füße sehen, es
vermied die sonst vorgeschriebene Schleppe, die auf den unbequemen
Schwarzwaldpfaden schlecht am Platze gewesen wäre.
Marcellus erschien als das Urbild eines römischen Kriegsmannes; dunkles
Haar, dunkle Hautfarbe, stark gebogene Nase, selbstbewußter Ausdruck
kennzeichneten ihn. Seine Gestalt zeigte nur Mittelmaß, kaum dass sie
die Grösse der hochgewachsenen Lavinia erreichte.
Diesen Vertretern des Römertums gegenüber musste jeder in dem
wohlgebildeten Antlitze des Jünglings sofort den Germanen erkennen,
dessen Namen Richwin man sich als Riquinus mundgerecht gemacht hatte.
Breitschultrig und kraftstrotzend überragte er den Centurio fast um
Hauptes Höhe. Seine blauen Augen blickten hell und freundlich in die
Welt, entbehrten aber nicht eines gewissen Ausdrucks von Schwermut.
Dass sie auch wild und zornig blitzen konnten, das mußte mancher
erfahren, den sein Unstern ihm als Gegner gegenüberstellte. Er stammte
aus einem Geschlechte alemannischer Edelinge an der oberen Donau. Wie
mancher seiner Stammesgenossen hatte er, germanischem Wandertriebe
folgend, in früher Jugend den Weg nach Rom gesucht, um dort in
Kriegsdiensten Weltkenntnisse, Ruhm und Beute zu erwerben. Der Zufall
führte ihn mit Lavinias Vater zusammen; da dieser an Richwins Wesen
großen Gefallen fand, so veranlaßte er den jungen Alemannen, ihm in
seine Garnisonen, zuerst nach Gallien, dann an den Rhein nach Germanien
zu folgen. So war er, vollständig im Hause und wie ein Zugehöriger
desselben lebend, gewissermaßen als Gespiele Lavinias aufgewachsen.
Unbegrenzte Verehrung und Wertschätzung für sie erfüllte ihn, ohne dass
jedoch ein Gedanke sie zu besitzen in ihm aufkeimte.
Als nun die Jungvermählten nach Germanien versetzt wurden und Richwin
sich aus freien Stücken erbot, sie dahin zu begleiten, wurde dies
Anerbieten auch seitens Marcellus´ dankbar angenommen, weil dieser sich
die Vorteile der Gegenwart eines so durchaus zuverlässigen, mit den
Verhältnissen genau vertrauten Hausgenossen nicht verhehlte, ganz wie
dazu geschaffen, die mancherlei Schwierigkeiten in dem fremden Lande
für beide Ehegatten zu ebnen. Schon während des Aufenthalts in
Tarodunum hatte Richwin, der als Unterbefehlshaber über einheimische
Truppen und eine Abteilung iberischer Bogenschützen wirkte, in seiner
freien Zeit die Gegend nach allen Richtungen hin durchforscht und
manche nützlichen Kenntnisse von seinen Streifzügen mitgebracht, ganz
zu schweigen von erbeutetem Wildpret und Fischen, welche angenehme
Abwechslung für die Tafel boten. Der römische Feldherr betrachtete es
als ganz selbstverständlich, dass Richwin den Centurio an seine neueste
Wirkungsstätte begleitete, weil er da von noch größerem Nutzen zu sein
versprach.
Man hatte den Wartturm gerade über dem oberen Eingang zu der Höhle
erbaut. Auf dem obersten Treppenabsatze ließ sich ein anscheinender
Quader - in Wirklichkeit ein auf die Dicke eines schwachen Mühlsteins
flach zugehauener Stein, der auf zwei kräftigen Zapfen befestigt war -
durch einen geheimen Federdruck türartig bewegen. Hinter dieser Türe
lag, in der Mauerdicke verborgen, eine schmale Steintreppe, welche in
die Höhle hinab führte. Der Ausgang der Höhle mündete außerhalb der
untersten Palissaden in der steilen Seitenwand des mächtigen, von der
Natur geschaffenen Grabens.
„Nachdem wir jetzt dem Angenehmen und Schönen gehuldigt, wollen wir
doch auch das Nützliche beaugenscheinigen,“ rief Marcellus. Lasst uns
in den Turm gehen, um den geheimen Ausgang zu untersuchen; es ist ganz
gut, sich in Zeiten, wo noch keine Gefahr droht, mit den
Zufluchtsmitteln vertraut zu machen, damit man eintretenden Falles ihre
Anwendung kennt.“ Mit diesen Worten schritt er den beiden anderen voran
durch die Steintüre in den sich vor ihnen auftuenden dunklen Schlund.
Marcellus tastete nach einer zur linken an der Wand hängenden Lampe,
entzündete sie und erhellte damit die Treppe zur Genüge. Langsam stieg
man dann hinab bis zu der Stelle, wo sich die Höhle zu einem schmalen,
das aufrechte Gehen verhindernden Gang verengte
“An dieser Stelle muß noch eine widerstandsfähige Tür eingebracht
werden, um jedes Eindringen Unberufener zu vereiteln,“ bemerkte
Marcellus „die Hauptsache ist ja bereits vollendet, eine sichere
Verwahrung der unteren Öffnung, die lediglich von innen beweglich, von
außen nur durch einen mit dem Geheimnis genau Vertrauten mit Gewalt
erbrochen werden kann.“
Er zeigte hierbei, seinen Begleitern gebückt vorangehend, zwei
gewaltige eiserne Bänder, woran ein die Öffnung genau Verschließender
wuchtiger Steinblock derartig befestigt war, dass er von innen unschwer
gehoben werden konnte, während ein starker Riegel als Verschluß diente.
Die drei Besucher schlüpften unter dem jetzt gehobenen Deckel mit
Leichtigkeit ins Freie.
„Jetzt müssen die wenigen vorhandenen Fugen noch auf recht natürlich
erscheinende Weise mit Moos ausgekleidet werden“ begann Marcellus
wieder, „und dann wird es unserm lieben Richwin wohl gelingen, einen
tüchtigen Brombeerstrauch zu finden, den er in entsprechender
Entfernung davor pflanzt, und der sich bald genug bestreben wird den
geheimen Ausgang zuzuspinnen ohne doch seine Benutzung zu verhindern.“
Richwin nickte lebhafte Zustimmung.
„Ehe wir unseren Rückweg antreten,“ fuhr der Römer fort, „möchte ich
Dir noch eine Erscheinung zeigen, die mich schon gleich, als ich diesen
Ort entdeckte, in Erstaunen setzte. Nur wenige Schritte von hier
befinden sich drei Stufen aus hartem Tone, offenbar von Menschenhand
angelegt, wie auch kaum zweifelhaft erscheint, dass in unsrer Höhle
Menschen gewohnt haben. Und doch weis ich mir den Zweck jener Tritte in
keiner Weise zu erklären, denn sie enden nach unten über lotrecht
abfallendem Fels; vielleicht ist Dir, der Du mit den Verhältnissen in
Germanien vertrauter bist, eine Deutung möglich.“
So sprechend wies er Richwin die einige Schritte von dem Höhleneingang
neben einem überhängenden Felsen angebrachten Stufen, To´s Werk.
Als auch Richwin den Kopf schüttelte, fuhr Marcellus fort: Die Anlage
erinnert ganz an Treppchen, wie sie sich an den Gestaden unserer
hemischen Seen finden, auf welchen man zur harrenden Barke hinabsteigt,
aber wo eine Barke gleiten soll, da muß doch vor allem Wasser fließen.
Die Fische, welche sich um diesen Fels tummelten, müßten eigentümlich
beschaffen gewesen sein; jedenfalls hätten wir sie uns mehr in der Art
leicht beschwingter Schwalben vorzustellen, deren munteres Gezwitscher
dort aus der Schlucht herauf tönt, worin sie seit ewigen Zeiten Nester
bauen.“
In sein heiteres Lachen stimmten auch die beiden andern ein.
In verhältnismäßiger Eintönigkeit floß das Leben der Kastellbewohner
dahin. Ab und zu tauchte, mit seinen Berichten aus nah und fern
willkommene Abwechslung bringend, ein gallischer oder italischer
Hausierer auf. Mitte Mai erschien abermals ein solcher Ankömmling, ein
zungenfertiger Mediolaner namens Severus. Jeder der beiden Gatten
schien eine Heimlichkeit mit diesem Fremdling zu haben, denn jeder nahm
ihn beiseite zu eindringlichem Gespräche und zu wichtigem Auftrage. Er
hatte Verschwiegenheit gelobt und geschworen das Bestellte zu liefern,
sobald der regelmässig verkehrende kaiserliche Bote in seinem Karren
den nötigen Platz zur Beförderung gewähren würde. Aber es dauerte bis
eine Woche vor der Sommer-Sonnenwende, ehe von Tarodunum die Ankunft
des Kuriers gemeldet und daraufhin die für unser Kastell bestimmte
Sendung abgeholt werden konnte. Früh am nächsten Morgen begab sich
Marcellus mit seinem Päckchen in Begleitung einiger Gartenknechte ins
Freie, wo er Lavinia bereits antraf.
“Heute will ich Dir ein Beispiel meiner Gartenkunst geben,“ bemerkte er
mit wichtiger Miene und entrollte der Umhüllung ein halbes Dutzend dürr
aussehenden fingerdicker Ruthen, deren jede einzeln den Wurzelballen in
einem kleinen Korbgeflecht verwahrt trug. „Severus bürgt mir dafür,
dass diese so hergerichteten Reben schon im nächsten Jahre Früchte
tragen werden. Sie müssen nun vor der Sommer-Sonnwende an eine nach
Norden zu geschützte, alle Sonne aufnehmende Stelle, am besten an eine
Mauer gepflanzt und der Stamm im Winter durch vorsichtige Bedeckung
gegen Frost geschützt werden. Da vermöchte man denn keinen günstigeren
Platz zu wählen als die Südseite unseres Turmes, da wo er mit unserem
Hause den Winkel bildet. Wenn ich auch kaum glaube und wünsche lange
genug hier im Kastell verweilen zu müssen, um unsern selbstgekelterten
Wein zu trinken, so dürften doch die Früchte eine angenehme Zugabe zu
den Genüssen der Tafel bilden“
„Aber glaubst Du wirklich dem Worte des geriebenen Mediolaners,“ warf
hier Richwin ein, der herzugetreten war, „hast Du nicht beachtet, dass
es bei uns hier oben weit rauher ist als auf dem warmen Boden von
Brisaccum, wo allerdings Obst gedeiht? Freilich, Severus versteht es
seine Ware an den Mann zu bringen.“
„Nun wir werden ja sehen, und der Versuch kann keinesfalls schaden,“
brach der Centurio etwas gekränkt die Unterhaltung ab. –„Was hat denn
Dir der Kaiserbote mitgebracht? wohl irgend welche neue Modetorheiten?“
wandte er sich lächelnd zu Lavinia.
„Ja und nein,“ erwiderte sie; „aber Du weißt, dass ich mit Ergänzung
meiner Sommergewandung etwas zurückgeblieben bin und dass es die
höchste Zeit wurde, den Mangel zu beseitigen.“
„Nun, nun, es ist mir nichts dergleichen an Dir aufgefallen, ich meine
vielmehr, Du habest immer recht schmuck ausgeschaut,“ antwortete er in
gleichem Tone wie zuvor.
So rückte das Fest der Sonnenwende heran. Die Eingeborenen pflegten es
immer mit besonderen Feierlichkeiten und unter Wahrnehmung gewisser
Gebräuche zu begehen. Einer derselben bestand in Darbringung kleiner
Geschenke an die Stammeshäuptlinge, seit der römischen Herrschaft auch
wohl an die Befehlshaber der Festungen. Aus solchen freiwilligen Gaben
entwickelten sich mit der Zeit die Abgaben, eine Einrichtung, in deren
Ausbildung und Ausnützung unsere modernen Steuerkünstler ja
unerschöpflich sind. Im wesentlichen bestanden die Darbietungen aus
Frühgewächsen des Gartens und Feldes, in Eiern, Hausgeflügel, auch wohl
Krametsvögeln, Wachteln und anderem kleinen Getier welches man in
Netzen fing. Obwohl Marcellus diesen Gebrauch kannte, so fühlte er sich
doch überrascht, dass man auch ihn in seinem entlegenen Winkel
bedachte; er meinte dies seiner Beliebtheit bei den Umwohnern und
seiner Kenntnis ihrer Sprache zuschreiben zu sollen.
Unter einer der großen Buche im Burghof empfing der Centurio die Träger
der verschiedenen Geschenke und nickte Richwin der von ferne zusah,
munter zu.
„Was sagst Du zu dieser Bescheerung? Beweist sie nicht, dass man sich
mit unserer Herrschaft mehr und mehr befreundet? Würde man uns sonst
Aufmerksamkeiten erzeigen, wie sie für gewöhnlich nur unter
Stammesgenossen gebräuchlich sind? schade, dass Lavinia verhindert ist,
diese sinnige Huldigung mit anzusehen, sie, die für dergleichen so
regen Sinn besitzt“
Richwin zuckte nur Bedeutungsvoll die Achseln und rief auf lateinisch
zurück „Sei auf Deiner Hut,“ welche Warnung jedoch nur einem
ungläubigen Kopfschütteln von seiten des Centurio begegnete.
Richwin aber machte sich unauffällig in dessen Nähe zu schaffen, indem
er dabei jeden Herantretenden genau beobachtete. Zumeist erwiesen sie
sich als gleichmütige Hörige, an ihren ganzen Äußeren dem gedrungenen
Wuchse, der dunkeln Haut und Haarfarbe, dem kurzgeschorenen Haar auf
runden Schädeln leicht erkennbar. Manchen Gabenträgern schritten auch
ihre alemannischen Herren voraus; sie benützten diese Gelegenheit, das
neue Kastell einmal von innen zu betrachten und offenbarten dabei eine
Art kindlicher Neugier. Ohne Auffälligkeit verstand es Richwin jedoch
immer wieder, sie von allzu vielem Umschauen abzubringen, dadurch dass
er sie in Gespräche verwickelte und dafür sorgte, dass sie möglichst
bald wieder zum Tore hinaus gelangten. Nur ein hochgewachsener älterer
Mann mit bräunlichem Haar und Bartwuchs vereitelte seine Absichten. In
Begleitung zweier anderer Freien war er gekommen, und während diese
Marcellus und Richwin ansprachen, nützte er die Zeit, seine Augen
eingehend im ganzen Hofraum umher laufen zu lassen. Er wußte an die
Brustwehr heran zu gelangen, sich hier genau umzuschauen und nach allen
Seiten zu spähen, ehe Richwin ihn wegzudrängen vermochte.
„Wer bist eigentlich Du?“ redete er ihn an, „ich kenne doch all’ die
Freien, die heute hier eingekehrt, nur Dich nicht, und doch erscheinst
Du mir nicht fremd; allein mich dünkt, es war an einem anderen Orte, wo
ich Dich zuletzt sah.“
„Ich entsinne mich Deiner nicht,“ gab der Alemanne mit einem
stechenden, beinahe feindlichen Blick zurück. „Mein Name lautet Ortwin,
ich hause seit einigen Tagen drunten beim alten Ludegar, dessen Weib zu
meiner Sippe gehört und in dessen Verhinderung ich komme; doch scheint
es,“ dies klang beinahe höhnisch, „dass hier nur solche Leute
wohlgelitten sind, die mit der Sprache auch ihr Volkstum mehr oder
weniger abgelegt haben.“
„Was willst Du damit sagen?“ fuhr Richwin heraus, dem die Zornesröte
auf die Stirne stieg, da er wohl merkte, gegen wen sich die Spitze der
Rede richtete.
“Oho, nicht so heftig, junger Kampfhahn“ lautete die Antwort; „ich
meinte nur, man käme mit den Herren hier besser zuwege, wenn man ihre
Sprache redete; dazu bleibt meine Zunge aber zu ungefügig. Man muß
schon in jungen Jahren mit der Erlernung begonnen haben und es mag ja
sein, dass mit den Redewendungen auch unwillkürlich manch welsche
Gepflogenheit sich bei einem festsetzen. Das soll beileib kein Vorwurf
sein,“ fügte er rasch hinzu, als er bemerkte, wie Richwin wieder
aufbrausen wollte. Um indes alle weiteren Erörterungen zu vermeiden,
zog der Fremde sich rasch zurück.
Richwin blickte dem Davoneilenden noch lange nach und umschritt als
dieser seinen Augen entschwunden die Umwallung. Er meinte bald daraus
Ortwins hohe Gestalt zwischen den Bäumen des dem Burgberg
gegenüberliegenden Hügels schleichen zu sehen, den Blick immer auf eine
bestimmte Stelle der Außenbefestigung gerichtet, gleichsam um
dasjenige, was er innerhalb ermittelt, mit seinen jetzigen
Wahrnehmungen zu vergleichen.
Mittlerweile hatte sich zwischen Marcellus und dem letzten Ankömmling
folgendes zugetragen. Ganz allein nahte dieser, ein kaum dem
Knabenalter entwachsener Jüngling von schlanker Gestalt und edlem
Wesen, dem die hellblonden Locken tief über die braunen Augen herein
hingen, diese und die merkwürdigen dunklen Brauen beschattend. Dieser
Gegensatz zu dem lichten Haar, verlieh den sehr regelmäßigen Zügen
einen eigentümlichen, anziehenden Ausdruck. Des Jünglings zierliches
Körbchen enthielt feines Obst, große, schwarze Herzkirschen, Pflaumen,
Sommerbirnen, ja sogar einige Frühtrauben.
„Die Trauben sind aber sicherlich nicht auf eigenen Grund und Boden gewachsen,“ scherzte Marcellus.
“Freilich nicht auf dem eigenen, aber ich sollte denken, dass die Gabe
Dir trotzdem willkommen sei, stammt sie doch von deutschem Boden und
vor allein aus redlichem Herzen,” lautete aus gut alemannisch die
Antwort. ,,Oder willst Du dem Genusse von Weintrauben, vielleicht auch
gar von Wein solange entsagen, bis die Ruten, die Du da am Wartturm
gepflanzt hast, Früchte tragen?”
Verblüfft schaute der Centurio den schelmisch blickenden Sprecher an,
den er seines Wissens noch niemals gesehen, der aber gleichwohl aus
eine Begebenheit anspielte die sich doch nur in engsten Kreise
zugetragen hatte. Noch verblüffter erschien er indes, als der
Alemannenjüngling ihm laut ins Gesicht lachte, vor Freude die Hände
zusammen schlug und in reinstem Latein ausrief
“Willst Du mich denn gar nicht eiskennen?”
“Du bist’s, die sich unter diesem blonden Haargewirr verbirgt,” riefen
Marcellus und der herangetretene Richwin beinah gleichzeitig, in
Lavinas Heiterkeit einstimmend, als sie diese in der Verkleidung
erkannt hatten.
“Das war der Sommerstaat, den mir Severus besorgte,” antwortete sie,
“und ich sehe, dass ich im Notfall einen ganz guten Alemannen abgeben
kann”
,,Unbedingt, im Äußeren sowohl als in der Sprache, und zwar einen, vor
dem man sich hüten muß,” scherzte der Gatte. “Was hast Du für
Auseinandersetzungen mit dem Alten gehabt?“ wandte er sich ernster
werdend an Richwin.
“Er äußerte gar zu lebhaften Wissensdrang betreffs unserer
Befestigungen, als dass ich ihn für einen gewöhnlichen Bauern hätte
halten sollen; ich meine auch, ihm schon irgendwo in gebietender
Stellung begegnet zu sein,” erwiderte Richwin sehr ernst. “Ich muß
deshalb suchen, der Sache auf den Grund zu kommen, jedenfalls war es
gut, dass ich ihn verhinderte, sich noch länger hier herum zu treiben.”
Zuweilen bei den Menschen, häufig bei den Gebirgen bezeichnet Kahlheit
der Kuppe hervorragende Bedeutung, gegenüber den ganz alltäglich mit
Baumwuchs überzogenen geringeren Höhen. Aber oft ist die Entstehung
solcher Blößen nicht auf das Wirken von Naturkräften allein
zurückzuführen, nein, gar manchmal hat Menschenhand nachgeholfen. Auf
luftiger Höhe, unter ganz freiem Himmel vollzog sich die
Gottesverehrung unsrer die Gebirge bewohnenden Vorfahren. In weitem
Kreise umstanden sie die den Gipfel krönenden gewaltigen Opfersteine,
deren Rinnen häufig genug nicht nur von Tier- sondern auch von
Menschenblut dampften. Da durften denn keine Bäume sich zwischen
Opferhandlung und Zuschauer schieben. In Zeiten der Kriegsgefahr
flüchtete man mit Hab und Gut hier herauf, um sich hinter Wagenburgen
oder steinernen Ringwällen in Sicherheit zu bringen. An gewissen Tagen
des Jahres pflegte man regelmäßig im Gefolge der Blutopfer Feste zu
feiern, Schmausereien, wobei man die Opfertiere an riesigen Feuern
briet; leider lassen neuere Forschungen die Annahme zu, dass es in den
ältesten Zeiten nicht immer beim Verspeisen der Tiere blieb. Auch in
den Nächten der Sonnenwende - die christlichen Priester verstanden es
geschickt, diese wichtigen Zeitpunkte ihren Zwecken dienstbar zu machen
durch Umwandlung in Gedächtnistage der Geburt Christi und Johannes des
Täufers - vollzogen sich solche Feiern. Großmächtige Feuer wurden unter
allerhand seltsamen Zeremonien im Ringelreigen umtanzt, wobei die
Tänzer sich mit Kuhhäuten zu umhüllen pflegten, die Hörner auf dem
Kopfe befestigt, den Schweif frei hängend. Wenn man die dunklen
Gestalten in ihrem fantastischen Aufzuge sich so gegen den lodernden
Lichtschein herum springend denkt, kann man sich erklären, woher die
Heidenapostle die Beschreibung ihrer menschenbratenden Teufel
entlehnten und warum sie deren Hauptquartier im Harze auf den
Blocksberg legten.
Die diesmalige Feier erweckte den Eindruck einer außergewöhnlich
großartigen Veranstaltung. Überall rundum, auf dem Feldberg, dem
Schauinsland, Kybfelsen, Thurner, Kandel und vor allem auf dem den
Pferdeopfern seinen Namen verdankenden Roßkopf, wie auf vielen anderen
Gipfeln erstrahlten hell lodernde Feuer, umtanzt von den schwarzen
Teufeln. Aber auch drüben auf dem Kaiserstuhl und dem sich dahinter
herziehenden Wasgenwald flammte Feuerschein auf. Lavinia, die dieses
Schauspiel zum ersten Mal erlebte, äußerte Richwin gegenüber ihre
lebhafte Freude an der prachtvollen Erscheinung. Der aber war sehr
einsilbig geworden, und aus ihr befremdetes Befragen hin entgegnete er
“Mir erregen diese Feuer, so sehr ich auch an und für sich die alte
Sitte liebe, keine Freude, sondern tiefe Sorgen. In solcher Menge und
Ausdehnung wie heute sah ich die Flammenzeichen noch nie. Um solch
mächtige Feuer zu richten und zu schüren, auf so zahlreichen
Höhepunkten, bedarf es einer gewaltigen Anzahl Leute, jedenfalls weit
mehr als in unsrer eher etwas dünn bevölkerten Gegend hausen. Du darfst
nicht vergessen, dass zu diesen Festen die Hörigen nicht zugelassen
sind, sondern nach alemannischem Brauch nur solche, die sich zu unserem
Stamme zählen.”
“Wie erklärst Du Dir dann den Zusammenhang der Sache“ warf Marcellus ein.
“Nur eine Erklärung finde ich, dass auswärtige Stammesgenossen in
mächtiger Anzahl hier zusammen geströmt sind, unbemerkt von unsern
Spähern. Dass sie aber nicht gekommen sind, nur um, wie es heißt, die
heuer stattfindende hundertjährige Begehung des Festes in den jetzigen
Sitzen unsres Volksstammes zu feiern, sondern dass sie andere Absichten
damit verbinden, und dass die Zeichen “allseitige Bereitschaft“
bedeuten, das will mir nur zu wahrscheinlich dünken, zumal wenn ich mir
die verdächtige Erscheinung Ortwins - wie er zu heißen vorgab - damit
zusammen reime. Seien wir also auf unserer Hut und Warnen wir auch die
Besatzung von Tarodunum.”
So geschah es. Während der nächsten Woche verdoppelte man die
Wachsamkeit, die Truppen mußten sich stündlich ablösen, vor allem aber
nachts sorgfältigen Auslug halten. Doch nichts Verdächtiges ereignete
sich. Auch von den Spähern, die man nach allen Richtringen aussandte,
um zu erkunden, ob alemannische Volksmassen in der Nachbarschaft oder
jenseits der Grenze weilten, oder ob sonst bedrohliche Anzeichen
vorlägen, kehrten alle bis auf einen unverrichteter Dinge zurück; jener
eine aber mochte ein Opfer seines gefahrvollen Berufs geworden sein,
denn er blieb gänzlich aus. Eine Tatsache jedoch hatte Richwin
ermittelt, dass nämlich jener angebliche Ortwin aus dem Hofe Ludegars
weder gewesen, noch diesem oder seinen damaligen Begleitern überhaupt
bekannt war. Das allein genügte freilich nicht als Grund, um die
Truppen dauernd in übermäßiger Weise anzustrengen, und man wollte schon
beginnen, die anscheinend übertriebene Wachsamkeit wieder
einzuschränken, als sich etwas ereignete, was die Richtigkeit von
Richwins Argwohn nur zu sehr bestätigte.
Wie immer seither pflegte er in den Wäldern umher zu streifen, in
erster Reihe zur Kundschaft, nebenbei aber auch zur Erbeutung von
Wildpret oder allerhand Getier, welches man zur Ergötzlichkeit lebend
in einem für solche Zwecke angelegten Zwinger hielt. Heute endlich war
es Richwin geglückt das schon lange gesuchte Nest einer höchst seltenen
schneeweißen Weihe hoch im Wipfel einer riesigen Tanne zu entdecken.
Behende erklomm er diese und schickte sich gerade an, eines der nahezu
flüggen Jungen zu erhaschen, als er tief unter sich das Knacken von
Zweigen hörte. Gewohnt, sein Augenmerk jederzeit auch auf das im
geringsten Auffällige in Walde zu lenken, blickte er hinab und gewahrte
zwei fremde Alemannen herannahen und bei einer kleinen Lichtung Halt
machen. In einem derselben erkannte er Ortwin. Nun galt Richwins
Aufmerksamkeit nicht mehr den jungen Weihen da oben, wohl aber dem
gefährlichen Adler dort unten. Dass es sich um einen solchen handelte,
und zwar um einen, der im Begriffe stand, auf seine Beute herab zu
stoßen, das erfasste Richwin im gleichen Augenblick, als er jenen durch
seinen Begleiter mit “Gundomar” anreden hörte. Wie ein Blitz schoß ihm
dieser Name durch den Kopf, zugleich mit der daran haftenden
Erinnerung.
Herzog Gundomar galt als einer der unruhigsten, rauflustigsten und
unternehmendsten Alemannenführer in dem noch nicht unterjochten Teile
Germaniens. Jedwede sich bietende Gelegenheit erfaßte er, um die
verhaßten Römer anzugreifen, und manche ihrer Siedelungen wußte davon
zu erzählen, wie sein Schwert und Feuer in ihr gehaust. Aus Gundomars
Sippe stammte Richwins Mutter und gelegentlich eines
“Geschlechtertages” war dieser mit anderen Knaben dem Stolze der Sippe,
dem Herzoge, vorgestellt worden. Unauslöschlich hatte sich das Bild von
dessen ausdrucksvollem Kopfe bei Richwin eingeprägt, so flüchtig auch
die Begegnung gewesen war. Allein Gundomars Verkleidung im Verein mit
den Veränderungen, wie sie ein Jahrzehnt mit sich bringt, hatten bei
ihrem neulichen Zusammentreffen ein Wiedererkennen verhindert.
Lautlos glitt Richwin an dem glatten Stamme hinab, bis zu einem der
untersten Äste, dessen dichte Zweige ihn genügend verbargen, ohne ihm
jedoch die Möglichkeit der Belauschung des Gesprächs der beiden
Alemannen zu entziehen. Von ihrem Standorte aus genoß man eine
vollkommene Übersicht über das Kastell, wenn auch bei der Entfernung
manche Einzelheiten sich dem Beschauer entzogen. Gleichwohl wußte
Gundomar seinem Begleiter den schwachen Punkt der Befestigung - den
sein Scharfblick von allem Anfang an wahrgenommen - zu bezeichnen. Aus
dem Gespräche ergab sich, dass es sich um nichts Geringeres handelte,
als um einen in den allernächsten Tagen vorzunehmenden Überfall des
Kastells, ja, wenn Richwin recht verstand, sogar auch der Stadt
Tarodunum. Wo in aller Welt mochte Gundomar aber für ein solches
Unternehmen die nötigen Mannschaften bereit halten? Dass freilich ein
so erfahrener Heerführer wie Gundomar sich genügend würde vorgesehen
haben, davon fühlte sich Richwin überzeugt.
Als Gundomar und sein Genosse sich wieder ausser Seh- und Hörweite
befanden, sprang Richwin aus seinem Versteck herunter, und eilte so
rasch als ihn die Füße trugen zum Kastell zurück, um seinen
beunruhigenden Bericht zu erstatten und dessen sofortige Meldung auch
nach der Stadt zu betreiben. Auf seine Veranlassung hin wurde dann der
von Gundomar ausgefundene schwache Punkt in der Befestigung so gut es
eben anging verstärkt, wenn damit auch die von der Natur geschaffene
Unvollkommenheit nicht beseitigt wurde. Jene Schwäche beruhte in der
Gestaltung des Bodens. Während der das Kastell tragende Hügel ringsum
frei stand, war von dem östlich aufsteigenden Berge an einer schmalen
Stelle eine Felsklippe so weit vorgeschoben, dass deren Abstand von der
Jenseite nur etwa sechs bis sieben Klafter betrug. Trotz der
beträchtlichem Tiefe der Schlucht mußte man mit der Möglichkeit einer
hier vorzunehmenden Ausfüllung und Überbrückung rechnen. An Material
zur Ausführung derartiger Absichten gebrach es ja in dem holzreichen
Walde nicht, wenngleich die Herbeischaffung viele Arbeitskräfte und
Zeit erforderte. Mit dieser Erschwerung hatte man bei Anlage der
Befestigungen wohl gerechnet, ohne es indes an Versuchen fehlen zu
lassen, die Kluft hier zu erweitern. Die Härte des Gesteins setzte
jedoch den Sprengarbeiten solchen Widerstand entgegen, dass man vorzog,
sie bis zur Herbeischaffung geeigneterer Brechwerkzeuge zu verschieben.
Dass Richwin nur zu richtig verstanden, zeigte sich schon am nächsten
Tag, an welchem man zahlreiche Alemannenscharen vom Gebirge herunter
kommen und Bienen gleich, die ihrem Stocke zuschwirren in die Nähe des
Kastells ziehen sah. Nun fand sich auch eine Erklärung, warum man ihre
Annäherung seither nicht bemerkt hatte. Sie pflegten zu größeren
Beutezügen stets mit Mann und Maus, mit Weib und Kind, mit einer großen
Anzahl Wagen und Troß auszurücken, kamen naturgemäß sehr langsam voran
und konnten ihren Marsch nicht verbergen. Diesmal schienen sie jedoch
alles zurückgelassen und es auf einen Handstreich gegen das Kastell
abgesehen zu haben. Nachdem aber diese Absicht Dank der Wachsamkeit der
Besatzung vereitelt worden, änderten die Alemannen ihren Plan. Sie
beschlossen den Troß heran zu ziehen, weitere Aufgebote ergehen zu
lassen und die Belagerung auch auf Tarodunum auszudehnen. Dies stimmte
auch mit der von dieser Festung kommenden Mitteilung: die Alemannen
stünden im Begriffe die Stadt vollständig zu umzingeln, man sei daher
außerstande, dem Kastell die erbetene Verstärkung abzugeben. So mußte
man sich denn hier vollständig auf die eigene Stärke verlassen, und
Marcellus bedauerte nur, dass er nicht, einer ersten Eingebung folgend,
Lavinia zuvor nach Tarodunum oder noch besser nach dem, wenn auch etwas
entfernten, so doch vollkommen sicheren Brisaccum gebracht hatte.
Die Alemannen begannen nun eine regelrechte Belagerung und es wollte
zuerst scheinen, als ob ihnen der Gedanke einer Überbrückung der
“schwachen Stelle” fern läge oder als ob sie vielleicht vor der
immerhin großen Schwierigkeit und Gefahr dieser Unternehmung
zurückschreckten. An dem steilen Abhang empor klimmend, versuchten sie
es, die unterste Palissadenreihe so gut es eben anging zu durchbrechen;
allein weder Axthiebe noch Anlegen von Feuer erzielten Ergebnisse von
Belang.
Nun wandte sich auf einmal die Taktik. Richwin brachte diesen Umschwung
in Verbindung mit dem jetzt erfolgenden Auftauchen Gundomars, den er
seither vergebens unter den Heerführern gesucht hatte. Der Herzog
verbarg sich halb hinter einem Baume, trat aber hervor, als er Richwin
erkannte, und rief ihm über den Graben zu:
“Der Fuchs wird jetzt im eignen Bau gefangen. Der Jäger sind zu viele,
als dass er uns entschlüpfe. Wollt Ihr Euch gutwillig ergeben, so
sollen Euch gute Abzugsbedingungen bewilligt werden, eingedenk unserer
beider Gesippung. Merkst Du nun, was es heißt, gegen Deine eignen
Volksgenossen gemeinsame Sache mit den Welschen zu machen, auch dass
die von ihnen erlernten Künste Dich vor dem drohenden Untergange nicht
zu bewahren vermögen!“
Die Alemannen kannten den Gebrauch des Bogens nicht oder verschmähten
doch seine Anwendung. Sie bedienten sich in Fällen, wo sich der Gegner
mit Streitaxt und Speer nicht erreichen ließ, kurzer Wurfspieße. Das
Hauptgewicht legten sie aber auf das Handgemenge, wobei die Wucht des
Angriffs und ihre gewaltige Körperstärke den Ausschlag gaben. Richwin
hatte jedoch die Gelegenheit wahrgenommen sich in Führung des Bogens
auszubilden, galt sogar als vorzüglicher Schütze und man hatte ihm
deshalb die der Besatzung beigegebenen iberischen Bogenschützen
unterstellt. Er trug seinen Bogen bei sich. Rasch erfasste er einen
Pfeil, ließ die Bogensehne schwirren, und ehe Gundomar es sich versah,
stak das Geschoß tief in dem sein Haupt bedeckenden gewaltigen
Eberkopfe.
“Hier eine Probe meiner in Welschland erlernten Kunst. Es lag in meiner
Macht, Dich auch um eine Spanne tiefer zu treffen, doch wollte ich Dich
nur warnen, eingedenk unserer Gesippung. Eine Schar geübter
Bogenschützen folgt meiner Führung; ihre Geschicklichkeit, der Mut der
übrigen Besatzung und die Stärke unserer Befestigungen enthebt uns
jeder Sorge um unsere Sicherheit. Aber folge Du meinem Rate: Ziehe Dich
mit den Deinen zurück, dann sollst Du vor einem Rachezuge der Römer
verschont bleiben, dem Du sonst nicht entgehen wirst.”
Aus der Entfernung, wohin Gundomar es für geraten gefunden hatte sich
zurückzuziehen ertönte als Antwort ein schallendes Hohngelächter.
Bereits am folgenden Morgen erklangen aus dem Walde die Schläge vieler
Äxte. Bald rollten und schleppten die Alemannen mächtige Stämme herbei
und stürzten sie an der “schwachen Stelle” kunterbunt in die Schlucht,
welche dadurch nach und nach sich aufzufüllen begann. Es bedarf kaum
der Erwähnung, dass die Belagerten diese Arbeiten nicht ruhig geschehen
ließen, sondern von ihren Schußwaffen ausgiebigen Gelbrauch machten und
manchen Krieger niederstreckten. Aber abgesehen davon, dass diese
zahlreich wie die Ameisen immer wieder aus dem Boden empor zu wachsen
schienen, wussten sie auch die Wirkung der Pfeile dadurch wesentlich
abzuschwächen, dass sie hauptsächlich nachts arbeiteten und bei Tage
sich gegenseitig durch Schilde schützten.
Die gefürchtete Überbrückung konnte sich also schon in den nächsten
Tagen vollziehen. Wie sollte man dann noch verhindern, dass die
Stürmenden in das Kastell eindrängen? Dazu hätte es vor allem einer
weitaus größeren Truppenzahl bedurft als sie Marcellus zu Gebote stand.
Wenn er auch sein Hauptaugenmerk auf die der Überbrückungsgefahr
ausgesetzte Stelle richten mußte, so durfte er doch auch die übrige
Umfriedigung nicht unverteidigt lassen, so wenig zugänglich sie auch
erscheinen mochte. Einer solchen Übermacht von Feinden konnte eben
manches gelingen, dessen sich eine geringere Anzahl niemals unterfangen
durfte. Marcellus mußte also den Befestigungsgürtel in seiner ganzen
Ausdehnung bewacht halten, und diese Zersplitterung seiner Streitkräfte
barg die größte Gefahr. Verschiedene Versuche, die Bemühungen der
Belagerer durch Inbrandsetzung der in der Schlucht angehäuften Stämme
zu hintertreiben, misslang; ebenso wenig Erfolg brachten zahlreiche,
bei Tage und bei Nacht ausgeführte Ausfälle. Die Wachsamkeit und
Schlagfertigkeit der Alemannen vereitelten diese Wirkung, der Besatzung
dagegen bereiteten sie manchen Verlust durch Tod und Gefangennahme. Bei
dem letzten Ausfalle den Richwin mit seinen Iberern unternahm, wurden
diese fast sämtlich gefangen, während er demselben Lose nur mit knapper
Not entging.
Marcellus hielt mit Richwin Kriegsrat. Sie gewannen dabei die
Überzeugung, dass sie in anbetracht der arg zusammengeschmolzenen
Besatzung und bei der Unmöglichkeit eines Entsatzes von seiten
Tarodunums, nicht imstande sein würden, das Kastell länger als
höchstens noch einige Tage zu halten. Von Übergabe konnte keine Rede
sein. Es blieb also nur ein letzter Ausweg, das heimliche Entweichen
nach Tarodunum. Um diesen Fluchtversuch zu decken, sollten die Truppen
in der Stadt zu einem gleichzeitigen Ausfalle veranlaßt werden. Als
verhältnismäßig günstig erwies sich der Umstand, dass gerade an der
Seite des Notausgangs die Bewachung durch die Alemannen schwach
erschien, sodass man hoffen durfte, hier ohne erheblichen Widerstand
ins Freie zu gelangen. Man beschloss keine Zeit zu verlieren, sondern
gleich in der folgenden Nacht den Plan auszuführen. Richwin sollte mit
einigen auserwählten Kriegern vorausziehen, die Gelegenheit erspähen,
die allenfalls vorhandenen Wachen überrumpeln und niedermachen, sobald
dies geschehen, sollte der Rest der Besatzung in ihrer Mitte auch
Lavinia, nachrücken. Als Mitternacht vorüber, als die Lagerfeuer da
außen teils dunkler brannten, teils ganz erloschen, schlich Richwin mit
seinen Genossen durch den Notausgang hinab in den Graben und jenseits
hinauf zu den feindlichen Reihen. Aber mit Schrecken gewahrte er den
Irrtum über die vermeintlich schwache Bewachung, denn ein
ununterbrochener Gürtel zog sich um die ganze Umwallung.
War Verrat geübt worden? Hatte Gundomar die mit Tarodunum gewechselten
Signale erkannt, oder sonstwie die Absicht der Besatzung erraten? Hatte
er vielleicht mit Vorbedacht den Anschein nachlassender Wachsamkeit
erweckt, um die Eingeschlossenen heraus zu locken? Man durfte ihm
solche Kriegslist schon zutrauen. Jedenfalls erschien es als reine
Tollkühnheit heute auf Ausführung des Fluchtplanes zu beharren, da
zweifellos das ganze Lager alsbald alarmiert werden und eine
übermächtige Meute sich auf die kleine Schar der Abziehenden stürzen
würde. Schweren Herzens musste man sich also entschließen, günstigere
Gelegenheit abzuwarten und die Verteidigung des Kastells bis dahin
fortzusetzen.
Mittlerweile beschleunigten die Alemannen ihre Überbrückungsarbeiten,
ohne vorerst an weitere Angriffe zu denken. Jedenfalls beabsichtigten
sie, sobald der Übergang geschaffen, gleichzeitig hier wie an anderen
Stellen zu stürmen, auf diese Weise die kleine Besatzung nötigend, ihre
Kräfte zu teilen. In dieser Voraussicht traf Marcellus seine
Vorkehrungen. Nur scheinbar ließ er die äußere Verschanzung besetzt, in
Wirklichkeit aber beabsichtigte er, sich vollständig auf die
Verteidigung der inneren Linie zu beschränken, diese jedoch mit aller
Hartnäckigkeit zu betreiben. Er rechnete darauf, dass die Angreifer
ihre ganze Macht zum Sturme aufbieten, eine Bewachung der unteren
Außenwerke aber außer acht lassen und der Besatzung damit die Flucht
durch die Höhle ermöglichen würden.
Niemand war erstaunter als Gundomar als der Angriff, den er tatsächlich
auf verschiedenen Seiten zugleich beginnen liess, solch geringen
Widerstand fand, denn überall zogen sich die Verteidiger in die obere
Umwallung zurück, nachdem nur wenige Pfeilschüsse und Speerwürfe
gewechselt worden waren. Da freilich gestaltete sich der Kampf zu einem
äußerst erbitterten, allein das bekannte Sprichwort “Viele Hunde sind
des Hasen Tod” sollte sich auch hier bewahrheiten. Während den
Angreifern immer neue Streitkräfte zur Verfügung standen, ermatteten
allmählich die Belagerten, denen fast zu keiner Stunde des Tages wie
der Nacht Ruhe gegönnt werden konnte, und deren sich völlige
Mutlosigkeit bemächtigte, als es den Alemannen gelang, im Rücken der
Verteidiger deren Häuser sowohl als die Obergeschosse des Wartturmes in
Brand zu schießen.
Wie hatten sie dies ermöglicht trotz ihrer Unkenntnis des Bogens? sann
Richwin als er fortstürzte, um für schleunige Löschung der Brände zu
sorgen.
Da erscholl Gundomars Stimme, den Kampflärm übertönend: “Bin ich auch
zu alt zur Erlernung der welschen Sprache, mache ich mir doch welsche
Künste zu nutze durch diejenigen, so sie ausüben”.
Er hatte den gefangenen Jberern Schonung des Lebens zugesichert, wenn
sie sich ihrer Bogen bedienten, um die Holzteile der Gebäude in Brand
zu schießen; andernfalls sei ihnen sofortiger Tod gewiß. Einer fiel der
Weigerung, seine früheren Genossen in solcher Weise zu bekämpfen, zum
Opfer: ein Axthieb streckte ihn nieder. Die Überzeugungskraft dieses
Verfahrens zerstreute die letzten Zweifel der übrigen; nicht länger
verschlossen sie sich der Richtigkeit von Gundomars Darlegungen, dass
doch auch sie unterjocht und nur widerwillig in dieses rauhe Klima
getrieben worden seien, dass im Grunde die Römer ihre Feinde sowohl als
diejenigen der Alemannen blieben.
Die von Richwin angeordneten Löschversuche erwiesen sich als nicht
nachhaltig. Die Häuser mußte man völlig Preisgeben; auch aus dem Dache
des Turmes schlugen die Flammen immer aufs neue und drohten, sich nach
unten zu verbreiten. Richwin befahl darum einigen Söldnern zur
Bewältigung des Feuers die brennenden Balken ganz zu entfernen, ja im
Notfalle das Dach zu Opfern; dann eilte er wieder in die Reihen der
Kämpfenden.
Aber was half es, dass er, dass Marcellus Wunder der Tapferkeit
verrichteten, dass jeder Einzelne der Besatzung wie ein Löwe kämpfte,
gegenüber solcher Übermacht! Allerwärts durchbrachen die Alemannen die
Umzäunung, fluteten in den Hof und nötigten die Führer mit dem kleinen
Häuflein Überlebender letzte Zuflucht im Innern des Turmes zu suchen.
Dessen feste Türe vermochte zwar dem Anpralle der Feinde tüchtigen
Widerstand zu leisten; allein, würde derselbe wohl bis zum Einbruche
der Dunkelheit aufrecht zu erhalten sein, in deren Schleier man die
Flucht zu ergreifen gedachte? Nach dem arg gefährdeten Tarodunum durfte
man sich nicht wenden; ebensowenig nach Norden und Osten, wo die
aufrührerischen Eingeborenen hausten. Es blieb also nur die Wahl, eine
südöstliche Richtung einzuschlagen, um als nächste römische Ansiedelung
Civitas villaruni (das heutige Badenweiler) zu gewinnen. Freilich
stellten sich der Ausführung dieses Planes schier unüberwindliche
Hindernisse entgegen. Galt es doch, sich durch eine rauhe, pfadlose
Urwaldwildnis durchzuschlagen, tagelang über steile Hänge und Felsen zu
klettern, tosende Wildbäche zu überschreiten, am schlüpfrigen Rande
graußer Abgründe entlang zu wandern, beständig vom Tode in den
manigfaltigsten Gestalten umlauert, sei es durch Erschöpfung, sei es
durch Nahrungsmangel oder durch Angriffe der zahlreich umherstreifenden
reißenden Tiere.
Erschien dieser Fluchtweg schon für die in Kampf und Mühseligkeiten
erprobten Männer als kaum durchführbar, wie sollte Lavinia sich der
Aufgabe gewachsen zeigen? Wenn auch beiden Kampfgenossen diese Frage
auf den Lippen schwebte, so hüteten sie sich doch, sie auszusprechen.
Blieb ihnen denn eine andere Wahl als jener Schritt der Verzweiflung?
Mußten sie ihn nicht, trotz seiner Schrecknisse und Gefahren, dem
Schicksale, in die Hände der erbitterten Feinde zu fallen, vorziehen?
Lavinia hatte, um auf alle Fälle gerüstet zu sein, ihren Knabenanzug
angelegt und beim beginnenden Brande der Gebäude sich in der Höhle
geborgen, wo sie in ängstlicher Spannung der Entwicklung der Dinge
harrte.
Den wüsten Kriegslärm rund um und über sich toben zu hören, das Ächzen
und Stöhnen der Verwundeten zu vernehmen, durch Spalten in der Decke
Feuerschein und Qualm zu gewahren und dennoch keine genaue Kunde der
Vorgänge zu besitzen, das brachte sie der Verzweiflung nahe. So
trübselig daher die Berichte lauteten, welche ihr Gatte, eine Pause im
Gefecht benützend, ihr brachte, so erschienen sie ihr doch wie Erlösung
gegenüber der Pein der Ungewißheit. Sie schwankte keinen Augenblick im
Entschlusse zwischen Flucht und Übergabe, selbst für den allerdings
wenig aussichtsvollen Fall der Erlangung gewisser Zugeständnisse
seitens der Eroberer.
Doch sollte es zu dergleichen Erwägungen nicht kommen. Ein
ohrenbetäubendes Freudengeschrei und ein selbst in die dunkelsten
Winkel der Höhle dringender grellroter Feuerschein belehrte die Gatten,
dass Tarodunum in die Hände der Barbaren gefallen und in Brand gesetzt
sei. Damit schwand auch der letzte Funke der Möglichkeit eines
Entsatzes, während der erzielte Erfolg den Eifer der Belagerer des
Turmes neu entfachte. Da der angewandte Sturmbock den Widerstand der
festgefügten, durch Verstrebungen verstärkten Türe nicht rasch genug
brechen wollte, so nahmen sie ihre Zuflucht zum Feuer. Nur zu rasch
erreichten sie hiermit ihre Absicht, denn bald leckte eine helle Flamme
an der Türe hinauf, die dem erneuten Anpralle des Sturmbocks nicht
länger zu widerstehen vermochte und krachend zusammen brach. Zugleich
strömte unter lautem Freudengeheul eine Schar Alemannen herein,
wuchtige Streiche austeilend und empfangend, sodass bald eine Haufe
Leichen den Eingang neuerdings versperrte. Einzig Marcellus und Richwin
waren von den Belagerten am Leben geblieben, beide verwundet, ersterer
schwer. Seinen Zustand erkennend und nur noch auf Lavinias Rettung
bedacht, rief er dem Genossen zu:
“Entfliehe, Freund, eh’ es zu spät, und rette Lavinia! Meine Uhr läuft
ab. Ich vermag nicht, Euch zu folgen. Laß mich die letzte Kraft nützen,
den Rückzug Euch zu decken. Schon naht der Wölfe Schar aufs neue . . .
Grüß’ mein teures Weib; ich weiß ihr Los in guten Händen. Leb wohl! . .
·”
Er winkte Richwin schmerzlich lächelnd zu, stützte seine wankende
Gestalt mit der Linken gegen die Wand und hob die Rechte zum Streiche
gegen den ersten, der versuchen würde, nach Entfernung der den Zugang
hemmenden Toten, einzudringen. Richwin wollte ihn gewaltsam wegziehen,
doch wehrte der Römer sanft, aber entschieden ab, auf sein in Strömen
aus - einer Brustwunde fließendes Blut deutend.
“Dann sterbe ich mit Dir” rief Richwin.
“Und läßt Lavinia in solcher Feinde Hände fallen? Geht” scholl es gebieterisch zurück.
Durch die von Leichen befreite Öffnung stürzten jetzt gleichzeitig zwei
riesige Krieger herein. Der eine durchbohrte den schildlosen Marcellus
mit seinem Spieße, fiel jedoch von dessen Schwert getroffen; den
zweiten schlug Richwin nieder, ehe er zum Streiche ausholen konnte.
Durch den eindringenden Luftstrom zu neuer Glut entfacht, loderte der
brennende Dachstuhl zu heller Flamme auf. Mit Windeseile ergriff sie
nun Treppe und untere Zwischenböden. Erstickender Qualm drang nach
unten, alles verdunkelnd. Richwin fühlte instinktiv, dass es sich nur
um Augenblicke handele, wollte er nicht elend zugrunde gehn, ohne
Lavinias Rettung zu versuchen und damit Marcellus letzten Befehl zu
erfüllen. Ein Blick auf den Centurio belehrte ihn, dass dieser
ausgelitten habe. Im Schutze der herrschenden Dämmerung schwang Richwin
sich unbemerkt auf den Treppenabsatz, öffnete und verschloß die
Geheimtüre und verschwand. Im gleichen Augenblicke stürzte unter
entsetzlichem Gepolter und Geprassel das Turmdach ein, schlug Böden und
Treppen durch und begrub, ein gewaltiger Scheiterhaufen, alle die da
unten als Freund und Feind gekämpft. Von der sich entwickelnden Glut
barsten die Mauern. Sie stürzten nach innen und außen zusammen, bis nur
noch etwa ein Stockwerk stehn blieb, Quaderblöcke von solcher
Mächtigkeit, dass ihnen das Feuer nichts anhaben konnte.
Und so stand das rauchgeschwärzte finstere Gemäuer durch die
Jahrhunderte hindurch als Zeichen des Bruches der Römerherrschaft,
welche sich in diesem Gebiete nie mehr dauernd festzusetzen vermochte .
. .
Selbst die rauhen Alemannenkrieger standen erstarrt als sie die Wirkung
des Feuers gewahrten, als der riesige Grabkegel sich über den letzten
Insassen des Turmes wölbte. Dass ein geheimer Ausgang bestand, dass
zwei Überlebende sich im Schoße der Höhle bargen, war und blieb ihnen
fremd. So konnte es diesen denn glücken, bei eingebrochener Dunkelheit
die Flucht anzutreten Und sie unter unsäglichen Anstrengungen und
Gefahren zu vollenden.
Römische Schriftsteller berichten von einem in hohen Ansehen
gestandenen Riquinus, der als Befehlshaber der Festung Moguntia
gestorben und ein Germane gewesen sei. Sie erzählen auch von seiner
Gattin, einer Römerin aus edlem Geschlechte, noch in vorgerücktem Alter
sich auszeichnend durch Schönheit von Antlitz wie Gestalt.
Im Mittelalter.
Nahezu ein Jahrtausend hatten die Trümmer von Castrum vicinum
unbeachtet gelegen. Dichtes Moos und Epheu überwucherte das Gestein;
Sträuche und Bäume waren auf ihm gewachsen und hoch oben über allen
Wipfeln schwankten im Winde zahlreiche Rebentriebe, einem Stocke
entstammend, der selbst in schier Baumesdicke sich an dem Turme
emporrankte und von da zur nächststehenden Fichte hinübergeklettert
war. Wo unten im Tale der forellenreiche See geglitzert hatte, da
weidete jetzt ein Schäfer seine Herde auf grünem Rasenteppich.
Den Herren von Falkenstein kam eines Tages der Gedanke, den günstig
gelegenen Punkt für ihre eigenartigen Kulturzwecke auszunutzen. Die
Falkensteiner saßen hoch oben am Hirschsprung auf ihrem Felsennest, das
den Saumpfad durch das Höllental beherrschte. Diese Lage sich zunutze
machend, betrieben sie mit recht günstigem Erfolge das Raubrittertum.
Man fürchtete sie ob ihrer rücksichtslosen Gewalttätigkeit und mied,
wenn es irgend anging, die Straße oder trachtete, sie nur unter
ansehnlicher Bedeckung zu beschreiten, sonst hieß es eben: zahlen oder
bluten.
Die Falkensteiner erwiesen sich als weitblickende Leute. Sie eilten
ihrem finsteren Jahrhundert voraus, indem sie beschlossen, ihr edles
Handwerk auf den Großbetrieb einzurichten. Was half es ihnen, ab und zu
ein armselig Bäuerlein zu rupfen, einen Handwerksgesellen oder einen
umherziehenden Hausierer? Sie wollten in die Lage kommen, größere,
wertvollere Fische in ihrem Netze zu fangen. Sie wollten es vermeiden,
sich um ihre gute Laune gebracht zu sehen, wenn sie wegen jedes
lumpigen Einzelnen, der es garnicht lohnte, den immerhin weiten Weg von
ihrer Burg herab unternnehmen oder gar gewahren mußten, daß die
vorüberziehende Karawane unter so starker Bedeckung reiste, dass es
wohl blutige Köpfe, aber kein Gold zu erlangen gab. Zur Vermeidung
solch unliebsamer Enttäuschungen und zur zweckmässigen Ausnutzung ihrer
bevorzugten Lage wurde nun der uns bekannte Hügel, dessen Name sich in
Wiesneck verwandelt hatte, herangezogen.
Durch Wiederaufbau der Überreste des alten Römerturmes bis zu einer
entsprechenden Höhe stellten sie eine Warte her, geeignet eine kleine
Besatzung aufzunehmen, mit dem Zwecke, die von Freiburg heraufziehende
Straße zu beobachten und durch verabredete Zeichen nach Falkenstein zu
melden, wenn ein aussichtsreicher Fang sich herannahte. Sobald
zurückgemeldet wurde, daß der Weg ordnungsgemäß verlegt und die
Karawane genügend weit ins Höllental eingezogen sei, fiel der kleinen
Besatzung die dankbare Aufgabe zu, den Reisenden in den Rücken zu
fallen und so die Flucht zu vereiteln. Sage und Chronik strotzen von
Berichten über die Erpressungen, ja Grausamkeiten, deren sich die
Falkensteiner im Laufe der Zeit schuldig machten. Jedoch „der Krug geht
so lange zum Wasser, bis er bricht“; dies Sprichwort sollte sich auch
an jenem trotzigen Geschlecht bewahrheiten.
Die Falkensteiner, obgleich vor keinem Totschlag in größerer oder
geringerer Menge zurückschreckend, hatten es für ihren Großbetrieb
ersprießlicher gefunden, ihre „Kunden“, wie sie die in ihre Gewalt
Fallenden grausam-scherzhaft nannten, zu Gefangenen zu machen. Man
schleppte dieselben hoch hinauf in die nur an einer schmalen Stelle
mittels einer Zugbrücke zugängliche Burg Falkenstein. Einzig an dieser,
der Bergseite, hatte man es für nötig erachtet, eine kleine Außenmauer
aufzuführen; nach allen anderen Seiten fiel der freistehende Fels
mehrere hundert Fuß senkrecht ab, jedem Angriff von dort aus spottend.
Zunächst pflegte man den Gefangenen an eine bestimmte Stelle zu führen,
von wo sich der Blick schwindelnd in der Tiefe verlor. Hier machte man
ihm begreiflich, dass er die Freiheit durch Zahlung eines gewissen
Lösegeldes erkaufen könne, dessen Höhe man je nach Ansehen der
Persönlichkeit schätzte. Einen Knecht zur Bestellung der Botschaft an
seine Angehörigen stelle man ihm gern und kostenfrei zur Verfügung.
Kehre der Bote nach einer bestimmten Anzahl Tage überhaupt nicht oder
doch unverrichteter Dinge zurück, oder verweigere der Gefangene die
Zahlung eines Lösegeldes, so werde ihm, der ja selbst einsehen müsse,
dass hier oben zur längeren Beherbergung von Gästen weder Raum noch
Gelegenheit geboten, freilich nichts anderes übrig bleiben, als sich
durch einen kleinen Sprung da hinab freiwillig zu entfernen. So fügte
man zur schnöden Gewalttat noch Spott und Hohn. Gar mancher mußte den
„freiwilligen“ Sprung in die Tiefe unternehmen, davon zeugten die da
unten bleichenden Gebeine.
Zwei Hagestolze, wüste, rohe Gesellen hausten jetzt in dem Raubneste;
ihrem erfinderischen Sinne entsprang jene fluchwürdige Gepflogenheit.
Ihre einzige Schwester war fern von ihnen ausgewachsen, in ihren
Kinderjahren zuerst im Kloster der Karmeliterinnen zu Freiburg, dann
bei einer alten Muhme ebenda. Wie ein verwahrloster Rosenstrauch von
Wildschossen überwuchert, nur kärgliche Blüten treibt, dann aber zu
männiglich Verwunderung und Entzücken an einem Edelreislein eine Blume
von unübertrefflicher Pracht hervorbringt, so auch hier. Adelgunde von
Falkenstein war erblüht zu einem Jungfräulein, gar lieblich
anzuschauen, reich an allen Ehren und Tugenden, in allem das Gegenteil
der Brüder. Kein Wunder, dass jeder den reichen Freiburger Hausherrn
Konrad von Bürklin beneidete, der sie als Gattin heimführen durfte.
Zu dem Hochzeitsfeste, das bei der Muhme ausgerüstet worden, waren auch
die wilden Brüder erschienen; sie wußten ihre Rohheit unter glattem
Wesen zu verbergen, und es schien, als seien sie dem neuen Schwager gar
wohl gewogen. Dass ein weiterer Verkehr zwischen den Geschwistern
gleichwohl unterblieb, dafür bestanden gute Gründe. Einmal herrschte
auf Falkenstein meist Schmalhans als Küchenmeister (denn was der Raub
eingebracht, das ging meist binnen kurzer Zeit in Saus und Braus
darauf); dann aber durften die Falkensteiner sich auch nicht nach
Freiburg getrauen, weil ihr Kerbholz, durch schlimme Taten gegen dasige
Bürger, zu viele Schnitte aufwies. Zum Hochzeitsfeste hatte Bürklin
ihnen freies Geleite erwirkt gehabt.
Nun traf es sich eines Tages, dass dieser eine Reise nach Neustadt zu
unternehmen hatte. Er zögerte nicht, seinen Weg durchs Höllental zu
lenken, glaubte er doch sicher, dass die Bande des Blutes ihn vor
Gewalttat seitens der Falkensteiner schützen müßten. So ritt er denn
ohne Bedeckung munter drauf los, ins Höllental hinein, fühlte sich aber
doch unangenehm überrascht, als die Schwäger im Stahlharnisch ihm mit
einem Trupp Reisiger just innerhalb der gefürchteten Burg den Weg
verlegten.
„Hei,“ riefen sie ihm zu, "kommt der Herr Schwager endlich einmal uns
heimzusuchen? Nur flugs mit hinauf in unser Nest, haben wir doch
kürzlich einige Ohm guten Kaiserstühler erbeutet, der dem Herrn
Schwager sicher munden wird.“
Widerwillig, aber der nicht eben allzu sanft angewendeten Gewalt
gehorchend, ließ Bürklin sich mitziehen. Oben bewirteten ihn die
Schwäger wirklich aufs beste. Der Kaiserstühler floß in Strömen und man
befand sich bald in bester Stimmung. Als das Mahl geendet, äußerten die
Falkensteiner, nun wollten sie dem Herrn Schwager auch einmal ihre
schöne Aussicht zeigen. Damit führten sie ihn zu der vorerwähnten
Felsplatte. Schwindelnd und mit Grauen einen Blick auf die unten
zerschellten Schädel und Knochen werfend, wollte er rasch zurücktreten.
Die Brüder nötigten ihn aber wieder nach vorn und der ältere rief:
„Scheint dem Herrn Konrad nicht zu gefallen, wird darum kein solcher
Narr sein, die Reise hier hinunter fortsetzen zu wollen, wie so viele
vor ihm, die freiwillig den Sprung getan, weil sie sich vom Gelde nicht
trennen wollten, das wir so viel nötiger brauchten als jene. Auch heute
ist unser Säckel leer und dem Herrn Schwager kommts gewiß nicht auf
hundert Goldgülden als Zehrkosten an.“
Bürklin, wähnend, das aus jenen nur der Wein spreche, rief zurück:
,,Laßt’s gut sein mit Euren Späßen, die einem das Blut können gerinnen
machen, die aber einen schlechten Nachtisch bilden zu der fröhlichen
Mahlzeit. Dafür habt besten Dank, doch nun laßt mich meines Weges
ziehn, damit ich mein Ziel noch vor der Dunkelheit erreichen kann.“
Doch bitterer Ernst scholl ihm aus der zweistimmigen Antwort entgegen:
„Kennt Ihr denn unser Sprüchlein nicht? So höret:
Sich beugen unserm Wegerecht
Muß jeder, sei es Herr, sei´s Knecht.
Da schützt nicht Alter noch Geschlecht;
Wer sich nicht löst, dem geht es schlecht,
Und hab`er auch mit uns gezecht!
Eine Nacht wollen wir Euch beherbergen, doch wenn bis zum zweiten
Sonnenuntergang die hundert Goldgülden nicht in unseren Besitz gelangt
sind, so werdet Ihr versuchen müssen, ob Ihr fliegen könnt.“
So belehrt, entschloß sich Bürklin gute Miene zum bösen Spiele machend,
einen Zettel an seine Gattin zu schreiben, worin er sie beschwor,
unverweilt ihm das Geld zu senden, da sie ja die Gewalttätigkeit ihrer
Brüder zur Genüge kenne. Damit gaben sich die Falkensteiner zufrieden,
entsandten den Boten und behandelten den Schwager auf ihre Art
freundlich. Nun sollte aber besagtem Boten ein böses Mißgeschick
widerfahren. Als er so auf der Straße dahin trabte, begegnete er einem
Haufen Bauern, unter ihnen auch der Älteste von Kirchzarten. Der rief
auf einmal:
„Seh’ ich recht, ist das nicht einer von den Schnapphähnen die mich vor
einigen Wochen vollständig ausplünderten? Laßt uns ihn fassen und in
sicheren Gewahrsam bringen!“
Da verfingen keine Ausflüchte und Beteuerungen seiner Unschuld, denn zu
genau hatte der Älteste den rohen Kumpan erkannt, der auch nicht
leugnen konnte, ein Falkensteiner Dienstmann zu sein. Das allein
genügte schon, und so schleppte man ihn denn ins Gemeideverließ von
Kirchzarten. Was half es ihm, seinen Zettel vorzuzeigen, beteuernd, er
enthalte eine wichtige Botschaft und er müsse diese noch heute nach
Freiburg in die Stadt bringen? Keiner von den Bauern konnte ja,
ebensowenig wie der Knecht lesen! Als aber am nächsten Tage der Knecht
immer wieder anhub, seine Botschaft betreffe wichtige Dinge, wobei es
einem Menschen an Hals und Kragen gehe, da entschlossen sich die
Bauern, einen der Ihrigen mit dem Zettel zu Bürklins Gattin zu senden.
Welches Entsetzen ergriff die arme Frau, als sie den zerknitterten
Zettel entzifferte! War doch die Mittagsstunde längst vorüber, und wenn
auch jemand in schärfster Gangart ritt, so konnte er doch kaum vor
Einbrechen der Dunkelheit Falkenstein erreichen; Adelgunde kannte aber
die Sinnesart ihrer Brüder nur zu genau, um nicht zu befürchten, dass
sie die ausgestoßenen Drohungen ausführen würden, ohne Rücksichtnahme
auf die Verwandtschaft mit Bürklin. So entschloß sie sich denn kurz,
den schweren Gang selbst zu unternehmen, ließ flugs ihren Zelter
satteln, nahm die geforderte Summe zu sich und hieß einen reisigen
Knecht ihr folgen. Als sie trotz schärfsten Zureitens erst bei voller
Dunkelheit die Burg erreichte und beim trüben Scheine einer Fackel über
die Zugbrücke gesprengt war, frug sie den einen der herantretenden
Brüder angsterfüllt nach dem Verbleib ihres Mannes. Hohnlächelnd
lautete die Antwort:
„Hei, der konnte die Ankunft seiner Frau Liebsten nicht abwarten, er
sprang ihr da vom Fels aus entgegen. Kannst ihn Dir ja da unten
auflesen und mitnehmen; damit aber Dein Roß nicht zu schwer zu tragen
habe, wollen wirs um die hundert Goldgülden erleichtern.“
Damit riß der Raubgeselle ihr den Beutel aus der Hand.
Die Ärmste stand sprachlos, regungslos, tränenlos. Ihr sonst so
liebliches Antlitz verzerrte sich zur Unkenntlichkeit, und selbst jene
hartgesottenen Sünder erbebten als ein wilder Aufschrei ihrem Munde
entfuhr und als sie dann, die Schwurhand gen Himmel streckend, rief:
„Ihr blutdurstigen Wüteriche, Ihr Frevler an allem, was dem Menschen
heilig, achtet Ihr sogar die Bande des Blutes nicht, denen selbst das
Tier der Wildnis gehorcht? Wohlan auch ich zerreiße, was uns noch lose
zusammenfesselte, was ich als schwere Schickung der Vorsehung empfand.
Fremd stehe ich Euch gegenüber als Rächerin meines ruchlos gemordeten
Gatten. Wehe! rufe ich über Euch; nicht werde ich rasten noch ruhen bis
Ihr sein Schicksal geteilt!“ Gemeinsam mit dem treuen Knechte suchte
und fand Adelgunde den zerschmetterten Leichnam ihres Gatten. Sie hoben
ihn auf des Dieners Roß und zogen noch in der gleichen Nacht zurück gen
Freiburg. Da legte Adelgunde die zerfetzte Gestalt auf dem Marktplatz
nieder und verharrte dabei im Gebete. Als der Tag kaum graute, rief sie
die ganze Bürgerschaft zusammen. Sie beschwor die Bürger und flehte sie
an, solch himmelschreienden Frevel, wie er eben wieder einem ihrer
Genossen angetan, nicht länger ungerochen zu lassen, sondern die Burg
zu brechen, die Sünder zu bestrafen. Gar beweglich wußte sie zu bitten,
gar überzeugend zu reden, und gerade dass sie gegen die eignen Brüder
zeugte, das verfehlte nicht seinen Eindruck auf die Bürger und den Rat.
An gutem Willen fehlte es diesem nicht, wohl aber an Söldnern und an
Geld solche zu werben. Doch als Adelgunde sich erbot, der Züchtigung
der Missetäter ihr ganzes Vermögen zu Opfern, wenn man ihr nur deren
Bestrafung überlassen wollte, da stimmte der Rat zu.
Für jedermann galt es als ausgemacht, daß man der Burg auf sonst
übliche Weise nicht beikommen, sie wegen ihrer Unzugänglichkeit weder
beschießen noch weniger berennen könne. Allein Adelgunde wußte Rat. Was
einerseits die Stärke, das erwies sich anderseits als die Schwäche der
Veste; der einzige schmale Zugang bildete zugleich auch den einzigen
Weg zur Flucht wie zur Beschaffung von Nahrungsmitteln. Nur diese
Stelle brauchte man tüchtig zu besetzen und unausgesetzt scharf zu
bewachen. Darin tat Adelgunde sich allen zuvor, nicht tags nicht nachts
wich sie von den hier ausgeworfenen Bollwerken und jeden Morgen, jeden
Abend rief sie hinüber:
„Wollt Ihr Euch ergeben auf Gnad oder Ungnad?“
Und allemal scholls "Nein!“ zurück, doch täglich schwächer.
Längst war die letzte Brotrinde verzehrt, der letzte Becher Wein
geleert. Endlich am 23. Tage klang ein mattes „Ja!“ herüber und die
Zugbrücke rasselte nieder. Adelgunde rannte als erste in den Burghof.
Was da noch herumschlich, was nicht dem nagenden Hungertode einen
Sprung vom Felsen vorgezogen hatte, das glich mehr Gespenstern als
Menschen. „Hier seht Ihr mich wieder. Ihr Mörder!“ herrschte Adelgunde
ihre vor Todesangst schlotternden Brüder an. „Ich habe Wort gehalten.
Das Maß Eurer Sünden ist längst übervoll, das Leben habt Ihr zehnfach
verwirkt. Wie Ihr andern getan, so geschehe jetzt auch Euch!“
Damit zerrte sie die beiden, keines Widerstandes Fähigen, an den Rand
des Felsens. Zum ersten Mal mit Schaudern blickten die Frevler in die
gähnende Tiefe; am eigenen Leibe erfuhren sie nun die Qualen, welche
sie so vielen hier bereitet, die sie noch mit Spott und Hohn bedeckt
hatten.
„Laß uns doch wenigstens ein Stoßgebet zum Himmel senden,“ jammerten sie.
„Nein, unbußfertig, wie Ihr allezeit gelebet, sollt Ihr zur Hölle
fahren. Das Geschlecht der Falkensteiner verdient von der Erdoberfläche
vertilgt zu werden,“ lautete Adelgundes Antwort.
Damit stieß sie erst den einen, dann den andern von der Felsplatte
hinunter. Ein schriller Aufschrei, gleich darauf ein zweiter zerschnitt
die Luft, gefolgt von zehnfachem Widerhall an den Wänden der Schlucht
und dem schweren Aufschlagen der Körper unten im Grunde. Adelgunde
murmelte ein kurzes Gebet, schlug das Kreuz und mit den Worten: „So
fahre denn auch die letzte Falkensteinerin hin, Gott sei meiner armen
Seele gnädig!“ stürzte auch sie sich in die Tiefe.
Die Burg wurde von Grund aus zerstört, und nur wenige Steine reden
heute davon, daß sie einst bestanden. Achtlos wandern und fahren die
Fremden auf der breiten Straße dahin, welche man im vorigen Jahrhundert
unten in der Schlucht dicht an der mit einem zerfallenen Steinkreuze
bezeichneten Blutstätte vorbeigeführt hat. Allein der Einheimische
meidet die Stelle zur Nachtzeit. Treibt ihn aber die Notwendigkeit
dennoch vorbei, so beschleunigt er seine Schritte und drängt sich an
den äußeren Rand der Straße. Es soll da nicht geheuer sein . . . . .
Auch die Besatzung des alten Wartturms zu Wizinek, welche bei den
Überfällen stets eine so wichtige Rolle gespielt hatte, entging ihrem
Schicksale nicht. Zur Sühne ihrer Untaten wurde sie an den benachbarten
Riesentannen aufgehängt, den Raubvögeln zum Fraße. Am Turme beschränkte
man sich auf Zerstörung von Dach und Treppe; im übrigen überließ man
der Zeit das Werk der Vernichtung.
Im Bauernkrieg.
So waren wieder Jahrhunderte ins Land gegangen während welcher die
Reste des Wartturms nur ab und zu lichtscheuem Gesindel der Tier- wie
Menschenwelt zum Unterschlupf dienten. Wieder war dichtes Buschwerk,
hoher Baumwuchs da entstanden, wieder deckten Schlingpflanzen und Moos
das Gestein. Hoch über alles hinaus schlangen sich an den bröckelnden
Steinen zahlreiche Ranken der Reben, welche stets aufs neue wurzelten
und trieben. Kaum, daß noch eine der erhaltenen Zinnen zwischen den
Baumwipfeln hervorlugte, kaum, daß man vom Bestehen der Trümmer noch
Kenntnis besaß .... , rnan mied das öde Gemäuer.
Die Freiherren von Thurner hatten ihren Landbesitz im oberen Ende des
Dreisamtales allmählich bedeutend erweitert und es fügte sich, dass man
für einen der jüngeren Sprossen eines Herrensitzes bedurfte, tunlichst
inmitten der weiten neueren Ländereien liegend. Solcher Herrensitz
mußte, weil das dem Namen nach wohl aufgehobene Faustrecht in
Wirklichkeit noch fortbestand, gesichert gegen Zugriffe von
Fehdelustigen stehen. Man hielt Umschau nach einem für dergleichen
Zwecke geeigneten Punkte. Wenn auch etwas abseits gelegen, so schien
doch keiner dafür besser geschaffen, als unser viel besprochener Hügel.
Zu seinen Gunsten sprach auch das Vorhandensein der Reste des
Wartturmes, die sich leicht zu einem geeigneten Belfried ausbauen
ließen. Nachdem man zunächst zur Gewinnung eines klaren Überblicks die
Bäume gefällt hatte, begaben sich die Herren Udo und Kuno von Thurner,
Vater und Sohn, in Gesellschaft des Burgpfaffen, des Benediktinermönchs
Kilian an Ort und Stelle, um die Gelegenheiten zu erkunden.
Während nun die Herren den ganzen Berg in weitem Umkreis umschritten,
stieg Kilian hinauf zur Spitze des Hügels. Er hatte sich in seinen
jungen Jahren genugsame Zeit in Welschland herumgetrieben, und es war
ihm dabei gar manches über die bedeutende Vergangenheit und über das
Kulturleben der alten Römer in grossen wie in kleinen Dingen offenbar
geworden. So hatte er auch Kenntnis erlangt von deren Zügen nach
Germanien und von ihren zahlreichen Ansiedelungen daselbst, u. a. im
Breisgau. Gestützt auf Überlieferung und Sage forschte er ihren Spuren
im Thurnerischen Gebiete mit Eifer nach, nicht ohne dabei dem Spotte
Ritter Udos anheimzufallen. Diesem zum Trotze hatte Kilian das Gemäuer
von Wiesneck längst als Reste eines römischen Wartturmes erklärt,
allein der urwaldartige Zustand des Hügels hatte alle eingehenderen
Forschungen vereitelt. Die nun vorgenommenen Lichtungen eröffneten aber
Aussicht auf die ersehnten Aufschlüsse. Mit Kennerblick hatte denn
Kilian alsbald in der regelmäßigen Abplattung des Bodens, trotz dessen
Überwucherung mit Pflanzenwuchs, eine ehemalige Gartenanlage entdeckt.
Eifrig suchte er weiter. Plötzlich stieß er einen hellen Freudenschrei
aus und winkte die beiden Herren herbei.
„Nun was soll’s denn“ frug Udo etwas ungehalten, indem er auf den zu
seinen Füßen kauernden Kilian blickte, der strahlenden Auges den Strunk
einer armdicken Pflanze in Händen hielt.
„Es verlohnt sich schon, daß Ihr Euch hierher bemüht,“ erwiderte dieser, „schaut nur, was ich hier halte“.
Verächtlich die Achseln zuckend, erwiderte der Alte: „Nichts als einen dürren Ast.“
„Weit gefehlt,“ scholl es zurück, „nicht dürr ist er, noch welk, denn
hier neben sprossen frische Augen heraus. Das ist nicht mehr und nicht
weniger als eine edle Rebe, eine von dreien, die ich hier fand, fest im
Boden gewurzelt und wohl schon manch Jahrhundert alt. Nur geringer
Pflege und Nachhilfe wird’s bedürfen, und wir ziehen uns hier, wie die
alten Römer, unseren eignen Wein.“
„Bleibt mir mit Euren alten Römern und ihren Reben vom Halse; ich habe
nichts übrig für diese Weichlinge. Gingen sie doch, wie Kunos Magister
im Kolleg erzählte, bei Gelagen in langen Schleppgewändern einher,
Rosenkränze in’s Haar geschlungen, wie die Weiber, und tranken ihren
Wein immer nur mit Wasser gemischt. Das ziemt sich keines Mannes.“
„Und doch verkennt Ihr die alten Römer, wie in mancher anderen, so auch
in dieser Beziehung. Ohne ihr Zutun wäret Ihr überhaupt darauf
angewiesen, gleich Euren Vorvorderen, Euch nur an Meth oder Bier zu
erlaben. Die Freude eines guten Trunkes Wein aber müßtet Ihr missen.
Die Römer haben uns den Weinbau hierher gebracht, und welch guter
Tropfen dort unten am Schloßberg bei Freiburg und in den Rebengeländen
des Kaiserstuhls wächst, das weiss niemand besser als Ihr, Herr Ritter.
Und dann die Straße, auf der man von Freiburg herauf wandert, sie ruht
auf römischer Unterlage, das wird Euch Junker Kuno bestätigen.“
Dieser nickte zustimmend.
„Aber ein Beispiel für der Römer Tüchtigkeit· steht ja noch weit näher, dicht neben Euch.“
Der Ritter schaute betroffen um sich.
„Hier der Turm, der Euch als Belfried dienen soll, verdankt seine Entstehung niemand anderem als den Römern.“
Der Ritter wollte ungläubig den Kopf schütteln, doch Kilian fuhr fort:
„Überzeugt Euch nur selbst; kennt Ihr eine Burg im ganzen Breisgau die
solche Bauart zeigt? Wo findet Ihr Quader von solcher Mächtigkeit, wo
einen Mörtel von solcher Festigkeit wie dieser hier? Könnt mir’s
getrost glauben, ich kenne die Dinge, hab’ in meinen jungen Tagen genug
dergleichen Bauwerk aus alter Zeit dort unten in Welschland gesehen.“
Udo wußte keinen triftigen Einwand und gab sich knurrend zufrieden.
Man entwarf nun den Plan zum Bau des neuen Herrensitzes und schritt
alsbald zu dessen Verwirklichung. Wenn auch der alte Römerturm eine
Hauptrolle darin spielte, so wurde doch die ganze Anlage in jeder
Hinsicht verschieden von jener ersten entworfen. Von hölzernen
Schutzwehren wollte die Kriegskunst schon längst nichts mehr wissen,
namentlich seitdem Berthold Schwarz in der unfernen Karthause die
mörderische Erfindung des Schießpulvers machte. Alle Umwallungen mit
vielen Türmchen, mit Zinnen und bedeckten Gängen versehen, wurden in
Stein ausgeführt, an dem ja kein Mangel herrschte. Zur Erhöhung des
Hauptturmes selbst bediente man sich derjenigen Steine, die man im
ehemaligen Hofraume zerstreut, sowie angehäuft im Innern des Turmes
fand. Doch nur soweit, wie vordem die Falkensteiner, nämlich bis zum
ehemaligen ersten Treppenabsatze hob man sie heraus, wie jene ohne
Ahnung, daß die eigentliche Eingangstüre sich beträchtlich tiefer
angebracht befand.
Zur Zeit, als die Falkensteiner ihr Augenmerk auf den Wartturm lenkten,
war er durch niedergestützte Steine und Schutt innerlich bis zum
ehemaligen ersten Stockwerke aufgefüllt gewesen; auch äußerlich reichte
die auf solche Weise entstandene, zu einer festen Masse verwachsene
Schicht bis nahe an ein daselbst angebrachtes Fenster. Die
Falkensteiner hatten dieses ursprünglich für die Türe gehalten und auch
als solche benutzt. Für den Thurnerschen Plan eignete sich aber die
Anbringung des Eingangs besser auf der gegenüber liegenden Seite. Bei
Gelegenheit des dafür erforderlichen Mauerdurchbruchs entdeckte man
ganz zufällig die in der Wand befindliche Treppe zu der Höhle und hier
den ins Freie führenden Notausgang. Der paßte nun freilich trefflich in
den Rahmen der damaligen Befestigungskunst, ohne solch einen heimlichen
Ausgang war kaum eine Burg zu denken, denn nur zu häufig hatte man, der
Notwendigkeit gehorchend, Gebrauch davon machen müssen. Die schon von
Marcellus wohl geplante, aber nicht zur Ausführung gelangte
widerstandsfähige innere Türe wurde alsbald angebracht; den äußeren
Verschluß bewirkte man in ähnlicher Weise wie früher.
Bezüglich des eigentlichen Zugangs zur Burg trat so recht der
Unterschied zwischen der älteren und neueren Befestigungskunst zutage.
Was sich ehemals als Schwäche der Festung erwiesen, das sollte nun ihre
Stärke werden, denn man legte ihren einzigen Eingang gerade an die
Stelle, wo von der Jenseite der Fels weit vorsprang, ja man verlängerte
diesen Vorsprung noch künstlich durch Mauerwerk, um einer gewaltigen
Zugbrücke geeignetes Widerlager zu bieten. Diese Zugbrücke und dahinter
ein mächtiges Gatter dienten als Verschluss der Toröffnung, welche
zwischen zwei festen Türmen hervorlugte, deren wohlgerichtete
Feldschlangen jeden Herannahenden abschrecken mußten.
Solcher Gestalt erweckte Wiesneck nun den Eindruck einer dem Auge
wohlgefälligen und dabei sicheren Burg; ja als es gelungen war, einen
in der Nähe strömenden Bach in den Burggraben zu leiten, konnte man sie
für damalige Begriffe als beinahe uneinnehmbar bezeichnen, trotzdem der
dem Eingang gegenüber liegende schroff· aufragende Berghang
gewissermaßen die Burg beherrschte. Allein da er vollkommen kahl, dabei
von äußerst steiler, felsiger Beschaffenheit war, da er allerwärts
völlig deckungslos dem Bestreichen mit den Schießwaffen, der Burg
ausgesetzt lag, so schloß dies die Möglichkeit des Hinaufschaffens oder
wirksamer Aufstellung von Belagerungsgeschützen völlig aus. Man darf
außerdem die geringe Tragweite der Geschütze des 16. Jahrhunderts nicht
außer acht lassen, sowie die Umständlichkeit und Schwierigkeit der
Bedienung, welche nur an besonders dazu geeigneten Orten als ausführbar
galt. Zu gesteigerter Sicherheit legte man, dem schroffen Bergeskamme
folgend, eine kräftige Pallisadenwand mit festem Tore an.
Als der Burgbau seinem Ende zuschritt, durfte auch Junker Kuno seine
Studien als vollendet betrachten, wenn man es so bezeichnen will, dass
er auf verschiedenen Universitäten eine Reihe Kollegien gehört hat. Mit
regem Sinn für die Ergebnisse neuerer Forschungen auf allen Gebieten
begabt, hatte er auch nicht versäumt zu Füßen des Dr. Martinus in
Wittenberg der Auslegung von dessen Lehre zu lauschen. Dann hatte er
eine Menge kleiner Höfe und Burgen besucht, mit deren Inhaber die
weitverzweigte Thurnersche Familie in verwandtschaftlichen Beziehungen
stand. Sein als Witwer lebender Vater hegte den lebhaften Wunsch, den
Lieblingssohn seinen Einzug in Wiesneck in Begleitung einer Gattin
halten zu sehen, zumal dessen älterer Bruder Heinrich als abgesagter
Weiberfeind galt. Dies war auch der eigentliche Grund, weshalb er ihn
in der ganzen engeren und weiteren Familie umhersandte, hoffend, dass
er irgendwo in zarte Bande geschlagen würde. Aber, wie so oft, dachte
auch in diesem Falle der Sohn anders als der Vater. Die braunen Augen
des Fräuleins Anna von Schnewlin trugen die Schuld an diesem Zwiespalt.
Kuno lernte Anna bei einer Gasterei kennen, welche die Stadt Freiburg
den Besuchern der Hochschule gab, wozu auch die Bewohner der
nächstgelegenen Burgen geladen waren. Da durften diejenigen von der
Schnewburg, welch letztere dort von den niederen Abhängen des
Schönbergs herübergrüßte, nicht fehlen. Noch mehrmals hatte Kuno
Gelegenheit gefunden, mit Anna zusammen zu treffen, seinem Vater diese
Begegnungen und was ihn dazu getrieben, aber verschwiegen.
Nicht als ob Ritter Udo an dem holdseligen und tugendsamen Fräulein
etwas würde auszusetzen gefunden haben, vermied doch der Sohn, seine
Gedanken zu verraten, vermeinend, das ein zwischen den beiden Vätern
herrschender alter Hader einer Verbindung der Kinder im Wege stehen
könnte.
Inzwischen war Annas Vater seinen zahlreichen Ahnen in ein besseres
Jenseits gefolgt, und Kuno durfte wohl hoffen, dass sein edeldenkender
Vater den Groll nicht über das Grab des Feindes hinaus festhalten
würde. Zweifelhafter allerdings erschien es ihm, ob Anna seine Neigung
überhaupt erwidere, und er beschloß daher, sich hierüber Gewissheit zu
verschaffen, ehe er den Vater in sein Geheimnis einweihte.
Große Freude herrschte im Thurnerschen Stammschlosse, als der jüngere
Sohn aus der Fremde heimkehrte, und stolz blickte Udo auf den seiner
schönen Mutter wie aus dem Gesicht geschnittenen Sohn, dessen adeliges,
liebenswürdiges Wesen jedermann bezauberte. In feierlichem Aufzuge
wurde er nach kurzem Aufenthalte von allen Burginsassen zu seinem neuen
Wohnsitze geleitet. Dort an der Zugbrücke empfing ihn Bruder Kilian,
der es sich ausbedungen hatte, seinem ehemaligen Schüler hierhin zu
folgen, sich vorbehaltend, seine seelsorgerischen Pflichten
gewissenhaft zwischen beiden Herrenburgen zu teilen, deren räumliche
Entfernung von einander dies ja zuließ.
„Ich denke, mein Aufenthalt in Wiesneck wird Euch nicht zuwider sein,
Junker,“ rief er diesem zu, „oder sollte etwa das ketzerische Gift, so
Ihr in Wittenberg eingesogen, Euch der alten Lehre abhold gemacht
haben?”
„Kannst vorläufig noch ruhig darüber schlafen,“ neckte Kuno, “aber wer
weiß wie lange ich dabei verweile; in unserem Jahrhundert begeben sich
gar wundersame Dinge, und was der Wittenberger lehrt, verdient wohl
Beachtung.”
“Das gebe ich gern zu,” nahm der erstere wieder das Wort, “habe Bruder
Martinus selbst kennen gelernt, als wir beide in Rom weilten, und kann
mir wohl denken, dass ein so ernst und streng gearteter Mann, wie er,
Greuel fand an dem heidenartigen Treiben der Priesterschaft da unten.
Gleichwohl darf man nicht zu scharf mit ihnen ins Gericht gehen, denkt
und fühlt doch der Welsche ganz anders als wir kalten Nordländer, wallt
doch das südländische Blut heißer und rascher durch die Adern. Dass
Martinus ein ehelich Weib genommen, das verdenke ich ihm weiter nicht,
denn es war vormals uns Priestern allen gestattet, bis Papst Gregor
VII. den Bann darauf legte. Dass aber Luthers Erkorene just eine sein
mußte, die die Gelübde abgelegt und den Schleier genommen hatte, das
kann ich ihm nicht verzeihen“
Unter solchen und anderen Gesprächen war man ins Innere der Burg
getreten, wo Bruder Kilian, der sich ganz zu Hause fühlte, den Führer
machte. Auch liess er es sich nicht nehmen, dein neuen Burgherrn sein
Steckenpferd vorzureiten, den Garten; dass er dabei nicht vergaß, auf
den wirklich gut gediehenen Weinstock aufmerksam zu machen bedarf kaum
der Erwähnung. Kuno zeigte sich mit allem Gesehenen höchlich zufrieden,
und da zur Führung der Haushaltung eine gute, ältere Base eingesetzt
worden, die ihres Amtes mit voller Umsicht waltete, so erwies sich auch
diese wichtige Frage befriedigend gelöst.
Kund fühlte sich recht behaglich in seiner neuen Tätigkeit. Täglich
ritt er herum auf die verschiedenen zu dem Herrensitz gehörigen
Meierhöfe, in die Dörfer, die dem Herrn von Thurner zehntpflichtig
waren, auch wohl dahin, wo die leibeigenen Knechte ihre Arbeit unter
der Aufsicht von ebensolchen Oberknechten verrichteten. Die leutselige
Art, womit er sich mit den Leuten zu unterhalten wußte, sich nach ihren
Familienverhältnissen und sonstigen Dingen erkundend, kurzum der rein
menschliche Zug, der sein ganzes Wesen durchdrang, gewann ihm im Sturm
alle Herzen. Man war es nicht gewohnt, daß ein so Hochstehender der
jederzeit über Leben und Tod der Untergebenen gebieten durfte, statt
wie Andere solcher Stellung durch hochfahrendes Wesen Ausdruck zu
geben, sich in so freundlicher Weise zu jenen herabließ. Diese
Auffassung seines Berufes dankte Kuno in erster Reihe den Keimen die
der wohlwollende, unterrichtete, aufgeklärte Kilian in seine junge
Seele gelegt, dann aber auch der Ausbildung, die sein Geist auf den
verschiedenen Hochschulen genossen, wo ein neuzeitlicher, freierer
Lebensodem wehte.
Aber nicht allein hier, oder nur bei solchen, welchen die Schätze des
Wissens zu Gebote standen, regte sich dieser freiere Geist; nein, auch
bei den Unterdrückten, den Rechtlosen rührte es sich. Hier machte sich
der aufklärende Einfluß geltend, welchen Gutenbergs Erfindung auf die
Massen ausübte Stand man auch dem Zeitpunkte noch sehr, sehr fern, da
Lesen nicht mehr als eine nur wenigen Auserwählten vertraute Kunst
betrachtet ward, so wurden doch in Mengen Flugschriften gedruckt. Sie
behandelten allerhand Dinge in einem den gemeinen Mann ansprechenden
Tone. Spielleute und anderes fahrendes Volk griffen sie mit Begier auf
und lasen sie den geringen Leuten in Stadt und Land vor, so lange bis
diese den Inhalt auswendig wußten. Dieser Same fiel auf fruchtbaren
Boden, immer neue Druckschriften wurden begehrt, und um ihnen guten
Absatz zu sichern,
wäehlt man als Inhalt, zuerst nur andeutungsweise, nach und nach aber
immer deutlicher die Geißelung der bestehenden Verhältnisse, ja man
forderte die Geknechteten geradezu auf, sich ihr Recht zu verschaffen,
gehe es nicht in Sitte, dann mit Gewalt. Das zündete. Von allen Ecken
und Enden verlautete es von Unruhen und Aufständen, von Forderungen,
welche die Bauern an ihre Gebieter stellten. Und merkwürdig, diese
Auflehnung gegen die althergebrachte Ordnung erfuhr keineswegs in allen
Fällen schroffe Zurückweisung oder gar Züchtigung, vielmehr wurden
manche Forderungen, wenn auch widerwillig genug, zugestanden, worauf
denn scheinbare Ruhe eintrat. Man schien sich auf Seite der Gebieter
eben bewußt zu werden, dass die nach und nach angemaßten Rechte doch
weit, weit über das erlaubte Maß hinausgingen. Man suchte deshalb durch
kleine Mittel, durch geringfügige Zugeständnisse größerem Unheil
vorzubeugen. Allein diese kleinen Mittel konnten auf die Dauer den an
schweren Übeln krankenden Körper des öffentlichen Lebens nicht retten.
Die schmalen Stege, welche solch’ mühsam errungene Zugeständnisse über
den weit klaffenden Abgrund der Mißstände spannten, vermochten dem
Andrange nicht zu genügen. Einmal in Besitz gewisser dürftiger
Freiheiten gelangt, gewahrte das Volk erst recht den noch immer
verbleibenden Abstand, dessen Ausdehnung zu ermessen es sich völlig
entwöhnt gehabt hatte.
So gährte es denn weiter in den Köpfen der unzufriedenen Bauern, und
gerade der Breisgau bildet ja den Schauplatz der ersten gewaltsamen
Erhebungen. Jäckle Rohrbach wars, der mit seinen Genossen dem eine
Stunde westlich von Freiburg gelegenen Dorfe Lehen den sogenannten
,,Bundschuh“ (Die Bauern trugen über die Knöchel reichende, da selbst
mit einem Bunde versehene Schuhe und wählten diese Form der
Fußbekleidung als ihr Abzeichen) erhob und sich und ihm rasch Anhänger
erwarb. In aller Stille und Heimlichkeit, meist zur Nachtzeit, hielten
die Bauern ihre Versammlungen und Beratungen ab und bestimmten ihre
Sendlinge zur Aufstachelung der benachbarten, wie der weiter weg
gelegenen Gemeinden. Allerhand Unzufriedene, entlassene Kriegsleute,
verunglückte Studenten und dergleichen, wie auch wirkliches Gesindel,
welches eine willkommene Gelegenheit zu ungestraftem Rauben und
plündern erspähten, gesellte sich zu ihnen, und diese, wenn auch
anfangs nicht gewollte, so doch kaum vermeidbare Beimischung verlieh
der Bewegung bald seinen ganz anderen Anstrich. In dem Dorfe Uffhausen,
gerade unterhalb der Schnewburg gelegen, sollten die Flammen des
Aufruhrs zuerst hell auflodern, vorzeitig freilich, weil noch nicht
alles genügend vorbereitet war, doch aber durch besondere Umstände
hervorgerufen, auf die wir uns vorbehalten später zurückzukommen.
Kunos Erwartung, seinen Vater zur Einwilligung in eine Verbindung mit
Anna von Schnewlin zu bestimmen, sollte ihn nicht getäuscht haben. Udo
bot dem Sohne freudig die Hand zu einer Gelegenheit, sich über die
Gesinnung seiner Erkorenen zu unterrichten. Der Freiherr entschloß
sich, für einige Zeit zu Kuno hinunter nach Wiesneck zu ziehen und das
Stammschloß Thurneck in der Obhut des Vogtes zu lassen, da Junker
Heinrich zurzeit am herzoglichen Hofe zu München weilte. Udo forderte
zugleich Frau von Schnewlin nebst Tochter zu einem Besuche hier oben
auf, gleichsam um damit zu bekunden, dass er den alten Span als
endgütig begraben betrachte.
Seite 9 rechts
Die Edeldame ging auch gern auf den Plan ein, denn mit mütterlichem
Scharfblicke hatte sie der Dinge erraten. Da sie selbst große Vorliebe
für den jungen Mann empfand, so fasste sie die Einladung Udos im
richtigen Sinne auf, nämlich das Zustandekommen der beiderseits
gewünschten Verbindung nach Kräften zu erleichtern. Die Zimmer für die
Damen wurden also eiligst hergerichtet. Base Bertha bot ihr Bestes auf,
Küche und Keller in schönsten Stand zu setzen, und man harrte freudigen
Herzens der Ankömmlinge.
Heitere, gesellige Tage brachen an, als die Gäste erschienen. Anna
verhehlte keineswegs, wie wohl ihr Wiesneck und dessen Herr, sowie der
Gedanke ständigen Verweilens gefiel, sodaß Kuno letzte Zweifel an die
Erwiderung seiner Neigung alsbald verschwanden. Wenn er gleichwohl den
wichtigen Schritt seiner offenen Erklärung verschob, so geschah dies,
weil Umstände eintraten, welche alle Gedanken an eine frohe Zukunft
vorerst verscheuchten.
Die Erzählungen, welche auf der Burg vorsprechende Leute über die
Bauernunruhen machten, lauteten immer beängstigender. Trotzdem Kunos
Sinn jetzt auf ganz andere Dinge gerichtet war, fiel es ihm doch auf,
daß sich im Wesen auch der Thurnerschen Bauernschaft Umwandlungen
vollzogen. Trat er unverhofft in einen Bauernhaus, so fand er da mitten
in der Arbeitszeit eine Anzahl Leute versammelt die lebhafte
Verhandlungen pflegen, bei seinem Erscheinen jedoch sofort verstummten.
Auch die Hofmeier berichteten, dass sich eine gewisse Störrischkeit
unter den Hörigen und Leibeigenen zeige, dass auch diese sich nach
Feierabend zusammen zu rotten liebten, anstatt sich wie sonst auf die
faule Haut zu legen. Dass der Geist des Aufruhrs der das ganze deutsche
Volk beherrschte, auch in diesen Köpfen spukte, schien nur zu klar.
Wenn es bisher noch zu keinem eigentlichen Ausbruch gekommen war, so
durfte man dies im wesentlichen der großen Beliebtheit Kunos bei seinen
Untergebenen zuschreiben, dem Umstande ferner, dass er ihr Los
freiwillig schon bedeutend besser gestaltet hatte, als das der
benachbarten Bauern. Ja, diese Beliebtheit Kunos hatte ihre Wirkung
sogar auf die Untertanen seines als strenge gefürchteten Vaters
erstreckt, der das Nachgeben in solchen Dingen als Zeichen der Schwäche
betrachtete.
Alls aber nun vertraute Boten Mitteilungen brachten von Ueberrumpelung
und Zerstörung von Burgen und Klöstern durch die Aufständischen und als
man die auffällige Wahrnehmung machte, dass solche ganz geheim
gehaltenen Nachrichten wie ein Lauffeuer unter der Bauernschaft herum
gelangten, nahm man doch Veranlassung, den Verteidigungsszustand von
Wiesneck und Thurneck einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Kuno
war es nicht entgangen, dass einige Teile der Befestigungsswerke seiner
Burg nicht so vollkommen den neuesten Anforderungen entsprachen, wie er
sie auf seinen Reisen bei anderen Herrensitzen gewahrt hatte, wenn sie
auch unter gewöhnlichen Verhältnissen kaum zu besonderer Besorgnis
Anlass geboten hätten. Wie die Dinge sich indessen jetzt gestalteten,
hätte Kuno gewünscht, die nötig erachteten Verbesserungen ungesäumt
auszuführen, wenn er sich nicht gescheut hätte, durch Herbeischaffung
der erforderlichen Steine die Aufmerksamkeit der umwohnenden Bauern in
unliebsamer Weise zu erregen. Doch hier wußte Kilian Rat.
,,Wo könnt Ihr schöneres Baumaterial finden als unten im Innern des
Turmes,” bemerkte er, und als man ihn staunend ansah, fuhr er fort:
“ist doch der ganze untere Halbstock desselben mit Steinen angefüllt,
die von der Zerstörung, des Turmes herrühren; das habe ich neulich
zufällig bemerkt. Ihr entsinnt Euch doch ganz wohl, dass wir die
Eingangstüre an der Ostseite anbrachten, weil die vorhandene westlich
gelegene weniger Sicherheit zu bieten schien, außerdem auch zu kleine
Verhältnisse aufwies. Glaubt Ihr denn nun, die Römer, oder wen wir als
Erbauer betrachten müssen, hätten es sich so unbequem gemacht, stets
nur in gebückter Haltung hindurch zu schreiten? Gewiß nicht, und darum
vermute ich den eigentlichen Eingang wesentlich tiefer liegend, bis zu
ihm hinab aber alles, innen wie außen, mit Schutt und Steinen
angefüllt. Laßt uns wenigstens den Versuch unternehmen, alle Arbeiten
jedoch durch das Burgvolk ausführen, dann dringt keine Kunde davon aus
den Mauern hinaus.”
Kilians Behauptung bewahrheitete sich vollkommen. Besseres Baumaterial
in der Gesteinsart sowohl als in der schon zugerichteten Form konnte
man sich nicht wünschen und die Verstärkungsarbeiten rückten munter
voran. Da, an einem der nächsten Tage wurde Kilian eiligst zu den
Herren nach dem Turme gerufen, um einen soeben gemachten merkwürdigen
Fund zu besichtigen Unter Steinen und mächtigen halbverkohlten,
vermoderten Balkentrümmern hatte man ein fast ganz zermalmtes
menschliches Gerippe gefunden, bedeckt mit Resten eines stark vom Rost
zerfressenen Schuppenpanzers sowie mit einem arg zerquetschten und
zerbeulten Helm von ungewohnter Form, aus versilbertem Erz.
“Das ist nichts anderes denn ein altrömisch Panzerkleid,” rief Kilian
eifrig; “auch der Helm stammt aus jener Zeit, solche Waffenstücke habe
ich zu Dutzenden in den päpstlichen Sammlungen bewundert. Sie
umschlossen zweifellos die Hülle eines bei Zerstörung der Burg
gefallenen römischen Kriegers, vermutlich des Befehlshabers. Möge uns
dieser Fund keine schlimme Vorbedeutung sein!” setzte er leise und sich
bekreuzigend hinzu.
Zu rechter Zeit erreichten die Verbesserungen der Befestigung ihre
Vollendung, denn immer näher heran rückte die jetzt in vollen Aufruhr
ausgeartete Bewegung. Ihren Weg kennzeichneten himmelanschlagende
Feuersäulen aus zerstörten Burgen und Klöstern. Jetzt stiegen aus der
Karthause bei Freiburg Flammen und Rauch auf, dann ein gleiches aus dem
Schloß der Freiherren von Gleichenstein in Lützelweiler, der Geiling zu
Ebnet und kurz darauf aus der Burg Kageneck in Eschbach. Nun mußte man
stündlich den Einbruch der wilden Scharen in das Thurnersche Gebiet
gewärtigen. Kilian hatte die Besatzung von Wiesneck auf den
größtmöglichen Stand gebracht und hielt scharfe Wache. Da, an einem
schönen Morgen gewahrten die Burgbewohner beträchtliche ungeordnete
Haufen in zerlumpter Kleidung und mangelhafter Bewaffnung unterhalb der
Burg sich ansammeln jedoch in solcher Entfernung, daß man die Geschütze
nicht auf sie spielen lassen konnte. Nachmittags sandten sie einen
Herold, wenn man die verwahrloste Gestalt so bezeichnen will, die sich
mit einer weißen Fahne in der Hand der Zugbrücke gegenüber aufstellte.
Der Abgesandte verkündete, er sei im Auftrag der Heerführer der Bauern
gekommen, um die Herren von Thurner zunächst zu einer Verhandlung
einzuladen. Er bezeichnete einen Platz, außerhalb des Burgfriedens
gelegen, gleichwohl so nahe, daß er von den Mauern aus mit den
Feuerrohren bestrichen werden konnte. Dahin, so schlug er vor, sollten
die Herren sich verfügen, um mit den Führern des Bauernheeres
Verhandlungen zu pflegen; letzteres würde in angemessener Entfernung
verharren, um jeden Gedanken an verräterische Absichten zu
verscheuchen.
Der Herold mußte geraume Zeit auf einen Bescheid warten. Während sich
Kuno nicht abgeneigt zeigte, die Vorschläge anzuhören, was ja noch zu
nichts verpflichtete, wütete sein Vater dagegen als ein hierin
liegendes, an die verdammten Bauern gemachtes Zugeständnis. Er vertrat
eben vollständig die starre Züchtung, welche den Bauern, den Hörigen
und Teileigenen, jegliches Recht absprach, ihnen dagegen nur Pflichten
und Lasten auflud. So entsprach es der von seinen Vorfahren
überkommenen Überlieferung und er verschmähte es, sich in eine andere
Anschauung hinein zu versetzen. Wie konnte man einer Bande, deren Zuge
Brand, Raub und Mord auf dem Fuße folgten, anders begegnen als durch
Gewalt? Und durfte man sich denn überhaupt auf das Wort solcher
Menschen verlassen? War nicht der Rittersmann allein fähig, Bedeutung
und Tragweite des Manneswortes zu ermessen? Dem Zureden Kunos und
Kilians gelang es endlich doch, den Freiherrn zum Nachgeben zu bewegen,
und die Zusammenkunft wurde auf den nächsten Abend festgesetzt. Auf
diesen Bescheid hin überreichte der Herold zur Kenntnisnahme eine
Rolle, welche in sauberen Schriftzügen die Punkte enthielt, über die
man in Verhandlungen zu treten beabsichtigte, die sogenannten “Zwölf
Artikel”.
Trotzdem sich die Heerhaufen der Bauern durch beständigen lebhaften
Zuzug ganz erheblich verstärkt hatten, war von einer eigentlichen
Einschließung der Burg keine Rede. Fast schien es, als ob die Absicht
dabei mitspiele, die Schlossbewohner am allenfalls beabsichtigten
Entkommen nicht zu verhindern. Warum auch nicht? Entfloh die
Herrschaft, dann durften die Bauern darauf rechnen, in Bälde ohne
Schwertstreich die Burg einzunehmen, denn mit den zurückgelassenen
Knechten gedachten sie rasch einig zu werden. Entstammten doch diese
gleich ihnen den unteren Schichten des Volkes und viele davon demselben
Verwandten- und Bekanntenkreise. Hätte man sich aber erst einmal in der
Burg festgesetzt und kehrte dann die Herrschaft zu gelegenerer Zeit
wieder, so besäße man als beati possidentes leichtes Spiel mit ihr;
kehrte sie überhaupt nicht wieder, dann um so besser. Jedenfalls war
eine solche Aussicht einem Kampfe weitaus vorzuziehen, der doch manches
Opfer fordern mußte.
Man wirft vielleicht die Frage auf - da man bei Beurteilung, des
Bauernkriegs häufig von der Anschauung ausgeht, es sei den Aufrührern
mehr um Rache, um Mord und um Plünderung zu tun gewesen - wollten denn
die Bauern überhaupt ernstlich in Unterhandlungen eintreten? Diese
Frage fordert ein unbedingtes “Ja” heraus, namentlich so lange es sich
um die Anfänge der grossen Bewegung handelt. Was dieselbe
hervorgerufen, das beruhte ja auf dem geradezu unerträglichen
rechtslosen Zustande der Untergebenen gegenüber ihren Unterdrückern,
denn anders konnte man die Herrschaften, seien es weltliche, seien es
geistliche, nicht bezeichnen. Wenn auch einige Hitzköpfe es in erster
Reihe nur auf Rache abgesehen hatten, sie mochten dafür persönliche
triftige Gründe besitzen oder nicht, so herrschte doch bei den Führern
des Aufstandes eine andere Auffassung vor, als diejenige, nur bei
Mißlingen von Güteversuchen im Wege der Gewalt eine Verbesserung ihres
Loses herbeizuführen. Was sie anstrebten, das besagten die von ihnen
nach reiflicher Beratung zusammengestellten sogenannten “Zwölf
Artikel”, als deren wesentlichste wir nachstehende Punkte hervorheben
wollen:
Aufhebung der Leibeigenschaft und Frohnden; Ermäßigung der Zehnten;
eigener Gerichtsstand, wobei, wie in alter Zeit, die Bauern unter der
Dorflinde zu Gericht sitzen sollten; Vertretung im Reiche; Predigt und
Verlesen des Evangeliums in deutscher Zunge durch selbstgewählte
Pfarrer; freier Wald und freie Gewässer für Jedermann, also Holz;
Streu- und Weidenutzung, Jagd. Und Fischrecht.
Ganz besondere Bedeutung wurde letzterem Artikel beigemessen. Durch
Freigabe der Jagd und damit verbundenen Selbstschutz durfte der Bauer
doch hoffen, den in erschreckendem Maße überhand nehmenden Wildstand
und damit die alle saure Arbeit zuschanden machenden Flurschäden zu
vermindern.
Mit verschiedenen Edelleuten und geistlichen Herrschern hatten die
Bauern sich, unter Zugrundelegung jener zwölf Artikel geeinigt, welche
unter geeigneten Umständen auch Abänderungen erfahren konnten, und man
lebte ganz verträglich und erträglich zusammen. Auch größere wie
kleinere Städte hatten auf der gleichen Grundlage Vereinbarungen mit
den Bauern getroffen, denn das freie Bürgertum vor allem sympathisierte
mit denjenigen, welche seither im Joche ihrer gemeinsamen Widersacher
seufzten, und deren freiheitliche Bestrebungen geeignet schienen einen,
auch ihnen günstigen Umschwung herbeizuführen. So waren unter anderem
seitens der Stadt Freiburg dem Bauernheere freiwillig die Tore geöffnet
worden.
Zwischen den Vorposten der Bauern und denjenigen der belagerten Burg
hatte sich wie dies in ähnlichen Fällen fast immer zu geschehen pflegt,
in gewissem Sinne ein kameradschaftlicher Verkehr angebahnt. Unter
mancherlei harmlosen Nachrichten gelangte auf diese Weise auch eine
Kunde in das Schloß, welche lebhafteste Bestürzung hervorrief und
welche man sich ängstlich bestrebte den zunächst Betroffenen vorderhand
zu verheimlichen. Es handelte sich um nichts geringeres als das Gerücht
von der vor wenigen Tagen stattgefundenen Zerstörung der Schnewburg,
als erstem der Herrensitze, deren Brand man von Wiesneck aus beobachtet
hatte. Der Hergang wurde folgender Maßen geschildert:
Diethelm, Anna von Schnewlins gewalttätiger Bruder, als roher Wüstling
verrufen, war, von einem Gelage heimkehrend bei Anbruch der Dämmerung
an einer Wiese vorbeigekommen, auf welcher die schöne Veronika, Tochter
eines freien Bauern von Uffhausen, mit Heumachen beschäftigt war.
Längst schon hatte Diethelm dem Mädchen nachgestellt und ergriff nun in
seiner Trunkenheit die Gelegenheit, ihr Gewalt anzutun. Den auf
Veronikas Hülfeschrei herbeieilenden Bräutigam derselben stach er
nieder, schwang sich auf’s Roß und sprengte heim auf seine Burg. Das
Mädchen aber, von Scham und Schmerz zerrissen, stürzte sich in den
nahegelegenen Weiher.
Diese Schandtat Diethelms, der manche Gewalthandlung, manches
Bubenstück vorausgegangen war, wirkte wie glimmender Zunder in ein
Pulverfaß geschleudert. Der angesammelte Groll gegen die
Gewalttätigkeiten und den Übermut der Herrschaften im allgemeinen, des
Schnewburgers aber im besonderen, brachte hier die unter dem Zeichen
des Bundschuhs vorbereitete Empörung zum Ausbruch. Jedermann im ganzen
Dorfe fühlte sich zum Rächer der unschuldig in den Tod Getriebenen
berufen und verpflichtet. In aller Eile verständigte man die Genossen
vom Bundschuh in den nächstliegenden Ortschaften und umstellte die
Burg, deren Bewohner keine Ahnung von dem drohenden Verderben
beschlich. Ein Bauernknecht von Uffhausen, Mitglied des Bundes,
unterhielt ein Verhältnis mit einer der Mägde im Schloße. Auf
verabredete Zeichen hin hatte sie sich schon manchmal zu nächtlichen
Stelldichein mit ihm eingefunden. Diese Zeichen gab er auch heute bei
angebrochener Nacht und alsbald trat die Dirne aus einer verborgenen
Pforte zu ihm hinaus in den Wald. Diese Gelegenheit wahrnehmend,
drangen die Verschwörer in den Burghof ein. Sie überrumpelten die
Besatzung, plünderten die Veste und steckten sie in Brand.
Die Durchforschung aller Räume nach den Damen, welche sie zurückgekehrt
wähnten, erwies sich als vergeblich; ebenso aber war ihnen auch der
Missetäter Diethelm entkommen. Durch die drohende Gefahr rasch
ernüchtert, hatte er sich auf ein Pferd geworfen, jagte mitten durch
den Schwarm der Eindringlinge und suchte sein Heil in der Flucht. Fast
wäre sie ihm auch geglückt, wenn nicht ein verspäteter Nachzügler ihm
am Ausgang des Waldes begegnet wäre. Dieser, der rote Kaspar genannt,
ein ehemaliger Landsknecht von herkulischem Körperbau, erkannte nicht
sobald im schwachen Mondlicht den Junker, als er auch seine Partisane
schwang und ihn vom Roß herabstieß, nicht ohne jedoch seinerseits eine
derbe Kopfwunde davon zu tragen.
Sollte dieser Bericht, wie man freilich kaum bezweifeln durfte, sich
bewahrheiten, so mußte seine Kenntnis eine geradezu niederschmetternde
Wirkung auf die Damen ausüben. Wenn Frau von Schnewlin auch keine
Ahnung von dem Unheil besass, das sie betroffen, so konnte sie doch
angesichts der Erfahrungen der letzten Tage ihre Besorgnisse über das
Schicksal ihrer Burg nicht verhehlen. Und doch war sie anderseits blind
genug, den nur mühsam verhaltenen Groll ihrer Untergebenen über
Diethelms Freveltaten zu übersehn, ja sich sogar in dem Gedanken zu
wiegen, die oft bewiesene Anhänglichkeit der Schnewliner Bauern an sie,
die jederzeit milde und hilfsbereite Herrin, und an ihre allgemein
beliebte Tochter, werde sich neuerdings bewähren und ihr eine
Ausnahmestellung sichern. In diesem Widerstreite der Gefühle empfand
sie es doppelt dankbar, als Kuno sich zur Entsendung eines Boten erbot,
der auf weiten Umwegen nach der Schnewburg gelangen und Kunde von da
zurückbringen sollte. Dass indessen von einer Rückkehr der Herrschaft
dahin nicht die Rede sein könnte, solange man von Thurnerscher Seite zu
keiner Verständigung mit dem Bauernheere gelangt wäre, mußte
einleuchten.
Anna lebte zu sehr in der Zukunft, als dass sie sich durch die
Bedrängnisse der Gegenwart merklich hätte beeinflussen lassen. Wenn ihr
auch der sorgenvolle Ausdruck in Kunos Mienen nicht entging, wenn sie
es auch peinlich empfand, nicht wie anfangs mit dem Junker durch die
ausgedehnten Wälder und Felder reiten zu können, so erblickte sie doch
in den zerlumpten Haufen, die da in weitem Umkreise lagerten, nicht
sowohl schlimme Feinde als vielmehr mit ihrer Lebenslage unzufriedene
Leute, welche Gelegenheit nahmen, deren Besserung anzustreben, Gewalt
jedoch nur anwenden würden, wenn man ihnen in keiner Weise willfahren
wollte. Dahin würde es aber sicherlich nicht kommen, erstens galt doch
Kuno als erklärter Liebling der ganzen Anwohner und dann war er auch
viel zu einsichtig, als dass er nicht wie in früheren Fällen den
Wünschen seiner Untertanen entgegenkommen würde. Wer konnte überhaupt
diesem Kuno, ihrem Kuno böse sein, wer vermochte seinem freundlichen
Wesen, seinem sonnigen Lächeln zu widerstehn? Mochten auch viele seiner
Standesgenossen durch ihr hoffärtiges, gewalttätiges Benehmen den Zorn
der Untertanen herausgefordert und dessen Ausbruch nun zu fürchten
haben - Kuno brauchte nichts derartiges zu scheuen, so wenig, fast noch
weniger, als ihre Mutter. Liebe macht ja blind, beurteilt den
Gegenstand ihrer Leidenschaft nur nach den eigenen Gefühlen,
vermeinend, sein Zauber müsse Jedermann gleichmäßig gefangen nehmen!
Anna, die den Vater früh verloren, war in ihrer Kindheit etwas
schwächlich und dabei mancherlei Kinderkrankheiten ausgesetzt gewesen.
Ängstlich hatte darum die liebevolle Mutter des zarten Pflänzleins
körperliche Gesundheit gehütet und gleiche Fürsorge auch dessen
geistiger Seite gemidmet. Jeden rauhen Luftzug, jegliche Ungebühr wußte
die Mutter von ihr fern zu halten, und selbst der wüste Diethelm
bemeisterte sich in Gegenwart des abgöttisch geliebten, nachgeborenen
Schwesterleins in einem Maße, dass dieses nur ungläubig den lieblichen,
braunen Lockenkopf schüttelte, wenn zuweilen Tadel über des Bruders
unbändiges Wesen laut wurde. Dass man das Gesinde anhielt, dem von
Seiten der Herrschaft gegebenen Beispiele zu folgen, darf nicht wunder
nehmen; in den Ortschaften der Umgebung wurde Anna wie eine holde,
mildtätige Fee angesehen, wenn sie kam, die mancherlei Werke der
Barmherzigkeit auszuüben. Die jungen Burschen betrachteten das
holdselige Burgfräulein, das so ganz anders geartet war wie ihre
Schätze, tatsächlich wie ein höheres Wesen, und oftmals wurde ihr
berichtet, der und jener habe sich verschworen, für sie durch’s
höllische Feuer zu gehen.
Man darf deshalb nicht erstaunen, bei ihr, die so von allen Seiten
geliebkost, verwöhnt und in bester Absicht über die rauhe Seite des
Lebens hinweggetäuscht wurde, einer solch´überidealen Auffassung der
gegenwärtigen Tage zu begegnen. Wie würde sie aus allen Himmeln
gefallen sein, hätte sie jetzt einen Blick auf den rauchenden
Trümmerhaufen werfen können, in welchen die Anführer ihre geliebte
Heimstätte verwandelt hatten! Zu der bloßen Erwähnung der Möglichkeit
eines solch’ unerhörten Vorgangs würde sie auch nur ungläubig und
unwillig das Köpfchen geschüttelt haben.
Zur festgesetzten Abendstunde verfügten sich Udo und Kuno von Thurner
in Begleitung Bruder Kilians an den Ort der Zusammenkunft, wo sie die
Bauernführer Jost Fritz, Jäckle Rohrbach, Hans Bulgenbach bereits
vorfanden; zu ihnen hatte sich der Jägerbauer gesellt, der auf seinem
Freihof im Ibenthal saß und dessen allgemeines Ansehen die Thurnerschen
Bauern bestimmte, ihn zu ihrem Wortführer zu ernennen. Er war den
Herren, deren erstaunt auf sich gerichtete Blicke er wohl bemerkte,
einige Schritte entgegen gegangen und antwortete auf die vorwurfsvolle
Frage Kunos, was denn ihn dazu triebe, gemeinsame Sache mit dem wilden
Haufen zu machen, da doch er wahrlich keine Ursache habe, über die
Herrschaft zu klagen:
“Wohl wahr, Herr, aber was wollt Ihr, mit den Wölfen muß man heulen.
Zudem dachte ich, es möchte für Euch besser sein, wenn ich der Beratung
beiwohnte.”
Die Bauernführer erweckten in Kleidung und Aussehen einen nur um
geringes günstigeren Eindruck als die Mehrzahl ihres Heeres. Während
Hans Bulgenbachs Äußeres einen etwas schwärmerisch veranlagten Mann
verriet, zeugten Jäckle Rohrbachs Züge von List und Verschlagenheit,
Jost Fritz blickte finster und herrisch.
In merkwürdigem Gegensatz zu diesen Dreien stand das biedere Gesicht
und Wesen des Jägerbauers. Von den Vieren erfreute er allein sich des
freien eignen Besitzes. Nur er zog den Hut, als die Herren herantraten,
keiner der Anderen griff nur danach, ein Umstand, der besonders Udo
aufs peinlichste berührte, ihn, der es gewohnt war, die Bauern in
Unterwürfigkeit vor sich ersterben zu sehen.
Jost Fritz, die eigentliche Seele der ganzen Bewegung im Breisgau und
als Wortführer anerkannt, begann die Verhandlung wie folgt: “Habt Ihr
Euch die zwölf Artikel genau angesehen und seid Ihr gewillt, darauf
einzugehen?“
Udo entgegnete: “Was soll’s mit den zwölf Artikeln? Ihr könnt doch
nicht meinen, dass man gewillt sei, auf solche willkürliche Forderungen
einzugehn. Wo blieben da die uns von Gott und durch die Überlieferung
verliehenen Vorrechte?“
,,Mit den Vorrechten ist’s vorbei, Ritter Udo,” nahm jener kühl wieder
auf; “Ihr müßt Euch bequemen einzusehen, dass der Bauer auch ein Mensch
ist und als solcher gleiche Rechte mit Euch beansprucht. Wir verlangen
durchaus nicht mehr als den Zustand, wie er unter unseren Altvoderen
bestand und wie er nur durch Anwendung mißbräuchlicher Gewalt mit der
Zeit verändert worden.”
„Aber auf solche Forderungen kann ja doch niemand eingehen, hieße dies
doch die Welt auf den Kopf stellen! Zu allen Zeiten hat’s Herren
gegeben und Knechte; nur einer kann befehlen, die andern müssen
gehorchen; und wenn es Euch selbst gelingen sollte, heute eine Anzahl
Ritter oder Geistliche zur Aufgabe ihrer Herrschaftsrechte zu zwingen,
gar bald wird sich das Blatt drehen und neue Herrscher werden
entstehen. Was nützt Euch auch die Erfüllung all der Forderungen, die
Ihr stellt? Wüßte doch die Mehrzahl unter Euch keinen geeigneten
Gebrauch davon zu machen, ja, Unfriede und Unzufriedenheit würden nur
die Folge sein, wenn Ihr Rechte ausüben solltet, deren Tragweite zu
ermessen Ihr nicht vermögt. Was hat Euch denn auch gefehlt? Haben die
Freien unter Euch doch jederzeit ihr gutes Auskommen, die Unfreien und
Hörigen ihre gesicherte Unterkunft gehabt, und haben wir Euch und Euer
Eigentum doch jederzeit mit Gut und Blut gegen feindliche Angriffe zu
schützen gewusst.”
“Das ist´s ja eben, was uns nicht genügt,” erwiderte Jost Fritz, “daß
wir nur ein karges Auskommen genießen, sonst aber in keiner Weise mit
über unser eigenes Schicksal beschließen, noch sonstwie mitraten und
taten sollen. Was unterscheidet uns denn jetzt vom lieben Vieh, dem man
auch für schwere Arbeit sein auskömmliches Futter reicht und nur, wenn
man es mästen will, einen Teil darüber hinaus? Ihr sagt, Ihr habt uns
gegen feindliche Einfälle geschützt? Wer sagt Euch denn, dass wir
solchen Schutz erheischten? Konnte es uns nicht gleichgültig sein, wer
von Euch uns bedrückte, denn darauf kam es doch schließlich immer
heraus? Was schor es uns, wenn Ihr Ritter, irgendwelche Gelegenheit vom
Zaune brechend, einander mit Fehde überzoget? Hüben und drüben Bauern,
Hörige, Unfreie, die einander für Eure Raufhändel die Köpfe blutig
schlagen mußten und zum Entgelt ihre Häuser und Höfe ausgeraubt und in
Flammen aufgehen, ihre Weiber geschändet, ihre Kinder erschlagen sehen
mußten? Ihr freilich gewannet dabei eine oder die andere Ortschaft oder
sonstige Gebietserweiterungen und Vorteile.”
Udo wußte keine Antwort, denn dass er hier und jetzt auf seine
Herrenrechte nicht pochen dürfe, die ihm nach seiner Meinung
gestatteten Streit zu führen wann, wie, wo und mit wem es ihm beliebe,
das sah auch er wohl ein. Kuno blickte ernst, denn seine geläuterte
Auffassungsart vermochte sich der allgemeinen Richtigkeit des
Geäußerten nicht zu verschließen. Kilian flüsterte ihm zu: “So Unrecht
hat der Mann nicht.”
So ergab jeder der zwölf Artikel eine beiderseitige lange Erörterung,
die zu keinem rechten Ende führen wollte. Ganz besonders schmerzten Udo
die vermeintlichen Eingriffe in alle den Wald betreffenden Gerechtsame.
Das war doch sonnenklar, dass die Jagd und alles was damit
zusammenhing, ausschließlich durch Ritterbürtige und ihnen
Gleichgestellte auszuüben sei. Da sprach doch nicht nur die
Geschicklichkeit mit, das Wild zu erlegen, sondern die Art und Weise
wie dies ausgeführt wurde. Gab es doch ein ganzes Heer streng zu
befolgender Jagdregeln mit eigner Ausdrucksweise, die zu erlernen und
gebührend anzuwenden kaum ein ganzes Menschenleben ausreichen wollte
und die zu verstehen es ritterlicher Sinn erforderte. Wie sollte es
niedergeborenen Menschen gelingen, dergleichen sozusagen ohne
Entweihung nachzuahmen? Mußte dadurch nicht das ganze edle Waidwerk als
in den Kot gezogen gelten, mußten nicht gar bald alle jagdbaren Tiere
ausgerottet sein? Hatte doch schon die von Kuno seinen Bauern
eingeräumte Befugnis, das ihre Fluren schädigende Wild zu verscheuchen
und im Notfall zu töten, den Wildstand schwer beeinträchtigt.
So und in ähnlichem Sinne polterte Udo; doch auch hierbei wußte Jost
Fritz den Freiherrn durch treffende Einwürfe zu verblüffen, welche ihre
Wirkung auf die Dauer nicht verfehlten, wenn Udo es auch nicht zugeben
mochte. Wohin war es gekommen, dass man sich getrauen durfte ihm
dergleichen ungestraft zu sagen! Schließlich verständigte man sich
dahin, dass die Burgherren die Dinge nochmals in reifliche Erwägung
ziehen und am folgenden Morgen mit allenfallsigen Gegenvorschlägen am
gleichen Ort erscheinen wollten.
Nun galt es lange Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn, wobei
meist Kilians ruhiges Urteil entscheiden mußte. Soviel war sicher, daß
man kämpfen oder Zugeständnisse und zwar keine zu geringe, machen
müsse, wollte man erreichen, statt von Haus und Hof vertrieben zu
werden, daselbst in immer noch befehlender Stellung, wenn auch unter
Aufgabe ansehnlicher Vorrechte, verbleiben zu können. Auch Udos
Widerstand ward endlich gebrochen, weil immer neu eingehende
Schauerberichte sich in Schilderung der Untaten der Aufrührer überboten
und weil das immer noch im Wachsen begriffene Belagerungsheer doch
allmählig beachtenswertere Gegner aufwies. So hatte man unter den
letzten Ankömmlingen eine größere Anzahl gut ausgerüsteter,
verhältnismäßig stattlich aussehender Leute bemerkt, offenbar
entlassene Kriegsknecht, die ihre Kraft und Erfahrung nun zur
Abwechslung einmal in den Dienst der Bauern stellen wollten, bei dem,
wenn auch kein Handgeld, keine Löhnung, doch manch gutes Beutestück in
Aussicht stand.
Durch Kilian waren die Vorschläge, die man den Bauernführern zu
unterbreiten gedachte, niedergeschrieben worden, und mit ihnen begab
man sich am nächsten Morgen an den Zusammenkunftsort. Rascher als
erwartet und nach jedesmal nur kurzer Beratung gingen die Bauernführer
auf die Vorschläge der Herren ein, dagegen rückten sie nun mit einer
neuen Forderung heraus.
Woran es ihren ungeordneten Haufen - abgesehen von oben erwähnten
Ausnahmen - gebrach, das war ja eben die Ausrüstung, nicht allein an
Kleidung und Schuhwerk für die Mannschaften, sondern namentlich an
Waffen sowie an entsprechender Ausbildung in deren Handhabung und
schließlich an eigentlicher, regelrechter Kriegführung. Diese
Erfordernisse zu erlangen, dazu bedurfte es nun vor allen Dingen einer
sachkundigen, tatkräftigen Oberleitung, eines tüchtigen Feldhauptmanns.
Hierzu hatte man Junker Kuno ausersehen und verlangte seine alsbaldige
Einwilligung. Seinen Einwendungen, noch ehe sie ausgesprochen, wußte
Jost Fritz damit zu begegnen, dass er ihm das Beispiel des Edelmanns
Florian Geier anführte, der in gleicher Eigenschaft die Haufen des
Odenwälder Bauernheeres leitete, und der mit seiner “schwarzen Schar”
sich die Achtung selbst der Gegner zu erwerben gewußt habe.
Kuno betonte zunächst, dass die Forderung als ganz neu die vorige
Übereinkunft vollständig über den Haufen werfe, dass er aber auch die
an ihn gestellte Zumutung entschieden zurückweise, weil sie alles Maß
übersteige, indem sie ihn zwingen würde, ohne alle Ursache gegen
Standesgenossen zu Felde zu ziehen, mit denen er in Frieden und
Eintracht lebe. Des Geiersbergers Beweggründe für sein unritterliches
Gebahren träfen für ihn nicht zu.
Jost Fritz fand alsbald die Erwiderung, dass es für Kuno im Grunde doch
gleichgütig sei, ob er aus eigenem Antrieb oder durch die Not dazu
gezwungen jenen den Fehdehandschuh hinwerfe. Im übrigen erschien es
doch gar nicht ausgeschlossen, dass man sich mit den Herrschaften in
Güte einige, wie man dies auch bei den Herren von Thurner erhoffe. Auch
für derartige Güteversuche biete deshalb Kunos Beteiligung an der
Bauernsache eine Gewähr. Sie könnten also von ihrem Verlangen nicht
abgehen.
Dass Udo die bloße Möglichkeit der Erwägung eines Schrittes barsch
zurückwies, geeignet dem Namen Thurner einen niemals mehr
auszutilgenden Schimpf anzuhaften, wird niemand verwundern. Während man
nun noch hin und her stritt, die Köpfe sich erhitzten und die
Wahrscheinlichkeit einer Verständigung immer weiter entschwand, trat
ein Zwischenfall ein, welcher eine solche endgültig ausschloß.
Langsamen Schrittes und auf einen Stock gestützt, war aus den Reihen
der Bauern ein Mann von riesiger Gestalt mit struppig-rotem Haar und
Barte, den Kopf mit einer Binde umwickelt, herangenaht - der rote
Kaspar. Ohne auf die Frage, wieso er sich herausnehme, gegen die
Verabredung sich zu den Verhandlungen der Führer heranzudränge,
zu antworten, rief er: “Zu den Bedingungen, die Ihr da ausgemacht,
hätte ich noch eine hinzuzusetzen. Unser Uffhäuser Haufe ist just erst
angelangt, der Marsch war weit. Mich selbst zwang die Kopfwunde die
Junker Diethelm mir beibrachte, als ich ihn vom Pferde stieß, einen Tag
zu rasten und zum Nachkommen mich eines Wägeleins zu bedienen. Wir
konnten nicht früher ausrücken, weil wir erst gründliche
Aufräumungsarbeiten auf der Schnewburg zu verrichten hatten,” setzte er
mit rohem Lachen hinzu. “Nun haben sie mich an die Stelle des dabei von
einem fallenden Steine erschlagenen seitherigen Anführers und Sprechers
hierzu erwählt. Sämtliche bei dem Sturme beteiligte Uffhäuser Burschen
haben aber auf Anstiften des Bruders der geschändeten Veronika einen
schweren Eid geleistet, nicht eher zu ruhen, bis dieser Genugtuung
geschehen, bis an dem Burgfräulein dieselbe Gewalt verübt worden, wie
sie der Bauerndirne widerfahren. In der Burg war das Fräulein nirgends
zu finden, weil sie sich hierher zu Euch begeben. Gebt sie uns, ihren
getreuen Uffhäusern, in Güte heraus, damit ihr geschehe, was wir gelobt
- sonst holen wir sie mit Gewalt!”
Alle starrten den Sprecher an, der solch’ frevelhafte Forderung wagte.
Kuno riß das Schwert heraus, um den Frechen niederzuschlagen und wurde
nur mit Mühe durch Kilian und den Jägerbauern daran verhindert.
,,Wie kannst Du Schandbube Dich erdreisten, solch haarsträubendes
Verlangen zu stellen?” fuhr er heraus. “Das bloße Aussprechen solch’
unerhörten sündhaften Ansinnens verdient schon den Galgen, wie viel
mehr das Verlangen an sich! Meine gute Klinge müßte durch Dein Blut
besudelt werden! Scher´ Dich hinweg! Mit Dir haben wir nichts zu
schaffen und mit Deinen Genossen hier ebensowenig, wenn sie mit Dir
gemeinsame Sache machen.”
Udo tobte in heftigsten Worten über die Niedertracht der sich äußernden
Gesinnung und wandte sich zum Gehen, Kuno mit sich fortziehend.
Die Bauernführer standen unschlüssig; durften sie es doch mit keinem
der Ihren verderben, und die Uffhäuser hatten durch ihre rasche Tat
gezeigt, dass sie wohl zu beachtende Hilfskräfte bedeuteten. Der alte
Jägerbauer aber wandte sich zornig zu Kaspar: “Wenn’s so steht, dann
tun wir Thurnerschen nicht mit; für die Leute aus dem Ibental stehe ich
unbedingt ein, wir führen keinen Krieg gegen Weibsleute. Was hilft’s
auch der Verstorbenen, wenn Ihr eine andere entehrt, und was kann
überhaupt das unschuldige Mägdlein dafür, dass sie einen solch’ wüsten
Bruder hatte?”
“Unser Herr Jesus war auch unschuldig wie ein Lamm und ist doch für die
Sünden der Menschheit geopfert worden,” erwiderte Kaspar mit
scheinheiligem Gesichtsausdruck.
“Laß Du unsern Herrn und Heiland aus dem Spiel; dergleichen ziemt sich
nicht für Dein ungewaschenes Maul!“ herrschte ihn der fromme Hans
Bulgenbach an.
Doch Kaspar ließ sich nicht aus der Fassung bringen, sondern bemerkte
kalt: “Hie Uffhausen, hie Thurner! Willfahrt Ihr nicht unserm eidlichen
Gelöbnis, so ziehen die Uffhäuser wieder heim!”
Damit wandte er sich zurück. Die Herren schritten, ohne sich nochmals
umzukehren, der Burg zu, damit ausdrückend, daß sie die Verhandlungen
als gescheitert betrachteten.
Die Bauernführer beratschlagten darüber, wie sie sich den beiden
Streitpunkten gegenüber zu verhalten hätten. Dass sie Kuno nicht zum
Feldhauptmann gewinnen könnten, wenn sie der Uffhäuser schnödem
Verlangen willfahrten, das lag auf der Hand. Ebenso wollte es nach den
Äußerungen des hochangesehenen Jägerbauers scheinen, als würden die
Thurnerschen der Mehrzahl nach sich zurückziehen wenn solche
Ausschreitungen stattfanden. Vielleicht ergriffen sie solchen Anlaß
sogar als willkommenen Vorwand dazu, denn sie erweckten im allgemeinen
den Eindruck, als hingen sie der ganzen Bewegung nur recht lau an, ja
es frug sich, ob man nicht überhaupt Gefahr Iaufe, bei irgend einer
sich darbietenden Gelegenheit von ihnen ganz im Stiche gelassen zu
werden. Gleichwohl mußte man den üblen Eindruck vermeiden, den der
Wiederabfall einer größeren Schar von der Bauernsache verursachen
würde. Anderseits durfte man nicht verkennen, dass die Uffhäuser ganz
hervorragend wünschenswerte Hilfskräfte bildeten. Sie waren nicht nur
kräftige, wohlgenährte Leute, sondern die meisten von ihnen hatten sich
bis in die letzte Zeit als Landsknechte herumgeschlagen, hatten dadurch
schätzbare Erfahrungen in Führung der Waffen, namentlich der wichtigen
Feuerwaffen, erworben, und sie besassen deren auch als Eigentum. So,
Vorzüge und Nachteile gegeneinander genau abwägend, gelangte man
endlich doch zu dem Beschlusse, die letzten äußersten Forderungen
aufrecht zu erhalten, wonach Kuno sich als Feldhauptmann der Bauern zu
stellen und außerdem das Fräulein auszuliefern habe.
Diese offiziellen Bedingungen überbrachte an Stelle des Herolds der
Jägerbauer den Belagerten. Er fügte jedoch die geheime Auslegung bei,
daß es den Bauernführern nur erwünscht käme, wenn ihnen die Möglichkeit
zur Erfüllung des Ansinnens der Uffhäuser dadurch benommen würde, dass
das Fräulein heimlich aus der Burg entwiche. Dass die Damen in diesem
Falle auf seinem Freihofe vorläufige, gute Unterkunft finden und gegen
männiglich Angrifse geschützt sein sollten, gab der biedere Jägerbauer
zugleich deutlich zu verstehen. Eine alsbaldige Entscheidung seitens
der Wiesnecker begehrte man nicht, sondern gönnte ihnen Zeit zur
Überlegung, von dem Gedanken ausgehend, diesmal planmäßiger vorzugehen,
als bei den seitherigen vereinzelten, flackerfeuerartigen Aufständen,
die ohne eigentlich nachhaltigen Einfluß geblieben waren. Die Bauern
warteten deshalb auf weiteren Zuzug aus näherer und weiterer Umgebung
und befaßten sich in der Zwischenzeit mit Aufwerfen von Verschanzungen
auf der West- und Südseite, zunächst zur eigenen Sicherheit und in
einer Entfernung, die sie außerhalb der Tragweite der Geschütze
brachte.
Auf der Gegenseite war man inzwischen auch nicht müßig geblieben, hatte
Sendboten zu allen Anhängern der Familie Thurner geschickt, auch zu
sonstigen weltlichen wie geistlichen Herren, von denen man sich Hilfe
versprach. In gar beweglichen Worten hatte man ihnen die gefährdete
Lage von Wiesneck geschildert und die Schlussfolgerung daran geknüpft,
dass mit jedem neuen, der Rittersache erwachsenden Verlust die Bewegung
der Aufständischen in ungleichem Maße gewinnen müsse. Doch einer der
Boten nach dem andern kehrte zurück mit mündlichem oder schriftlichem
Bescheid, stets dem lebhaften Bedauern mit dem Schicksal der
Belagerten, zugleich aber dem noch größeren Leidwesen Ausdruck
verleihend, dass man sich außer Stande fühle, gewünschten Entsatz zu
entsenden, weil man dringend genötigt sei, auf die eigne bedrohte
Sicherheit Bedacht zu nehmen.
Die Herren von Thurner sahen sich also auf sich selbst, auf die
Festigkeit ihrer Mauern und auf die Ausdauer der Besatzung angewiesen.
Allein so reichhaltig auch die aufgespeicherten Vorräte bemessen waren,
so mußten sie in absehbarer Zeit zu Ende gehen - und was dann? Kuno
allein hätte sich wohl durchschleichen und durchschlagen können; aber
was sollte aus den Damen, was aus seinem Vater werden, der infolge der
erlebten Aufregungen an einem hitzigen Fieber schwer krank
darniederlag? Diese Erwägungen drängten Kuno, dem Winke des Jägerbauern
zu folgen und vor allem, solange sich noch solche Aussicht bot, Frau
von Schnewlin nebst Tochter auf den Freihof in Sicherheit zu bringen.
Er entsandte daher durch den Notausgang einen vertrauten Boten an den
Jägerbauern mit den nötigen Weisungen und der Bitte um kurze
Benachrichtigung sobald alles für unauffälligen Empfang der Flüchtlinge
bereit sein würde.
Wuchtig wie die Sorgen um die Zukunft auf ihm lasteten, betrachtete
Kuno doch als seine schwerste Pflicht, den Damen die Schreckenskunde
vom Untergange der Schnewburg mitzuteilen. So schwach er dabei auch die
Farben auftrug, so überwältigend gestaltete sich doch die Wirkung der
Nachricht, bedeutete sie doch nicht weniger als Vernichtung aller
Erinnerungen an die Vergangenheit, trostlose Ausblicke in die Zukunft,
Auslöschen des Namens! Anna selbst, aus allen Himmeln gestürzt, suchte
lange vergeblich die fassungslose Mutter zu trösten; erst am folgenden
Tage gelang es ihrem und Bruder Kilians warmen Zuspruchs deren Ruhe
wieder einigermaßen herzustellen. Jetzt nahte auch Kuno und bat die
gebeugte Frau, an Stelle des Verlorenen ihn als Sohn anzunehmen, ihn
mit Annas Hand zu beglücken. Um den Bund zu besiegeln und, im Stillen
hoffend, den Schwur der Uffhäuser Burschen gegenstandslos zu machen
(der sich doch nur auf das Fräulein Anna bezog und manchem inzwischen
leid geworden war, beschwor er sie, ohne Brautstand und ohne
Hochzeitsfeier die Trauung durch Kilian alsbald vollziehen zu lassen.
Die Mutter willfahrte der Bitte, und Kilian segnete den Bund ein. Mit
Absicht verbreitete man im Bauernlager die Nachricht von der
vollzogenen Vermählung, doch verstand es Kaspar seinen Spießgesellen
die Kunde als eitle Erfindung hinzustellen, ersonnen, um sie in ihrem
Entschluß wankend zu machen.
Wie die Dinge lagen, konnten sich die Thurnerschen Bauern, der Drohung
des Jägerbauern entsprechend, vorläufig einer tätigen Beteiligung an
der Belagerung enthalten; wie ihre Neutralität sich indessen im
Ernstfalle gestalten würde, das ließ sich mit Bestimmtheit nicht
voraussagen, namentlich soweit es die jüngeren Burschen betraf. Die
Ibentäler dagegen hatten bestimmt erklärt, unter keinen Umständen
mitzumachen, wenn man die Bedingung einer Gewalttat gegen das Fräulein
aufrecht erhielte.
Die Führer des Bauernheeres hatten sich über letzteren Punkt weiter
nicht geäußert, denkend, kommt Zeit, kommt Rat. Der argwöhnische Kaspar
jedoch glaubte den Grund ihres Schweigens zu durchschauen. Dem
Jägerbauern mißtraute er völlig, er argwöhnte, dass dieser etwas der
Bauernsache Ungünstiges im Schilde führe. Er ließ das Tun und Treiben
auf dem Hofe unbemerkt beobachten, verschmähte es auch durchaus nicht,
solche Spähdienste, namentlich bei Dunkelheit, selbst vorzunehmen. So
umschlich er gerade wieder einmal nachts den rings um den Bauernhof
ziehenden tiefen Wassergraben, ganz wie der Fuchs ein Gehöft
umschleicht, um eine Spalte zu finden, durch die er in den Hühnerstall
eindringen kann. Da gewahrte er, wie ein Knecht durch das Tor schlüpfte
und eiligen Schrittes den Weg herunterkam.
“Nun, was soll´s, Jörg, noch so spät am Abend? Willst wohl zu Deiner
Liebsten im nächsten Ort?” redete er den ihm bekannten Knecht an.
Dieser, durch die Anrede außer Fassung gebracht, hielt es am besten,
auf die Sache einzugehen; er gab eine derartige Absicht zu, bat aber,
ihn nicht zu verraten. Kaspar schritt neben ihm her, über gleichgiltige
Dinge redend. Als Jörg indes da, wo der nach Eschbach führende Weg
rechts abbog, die Richtung nach links einschlug, klopfte der Schurke
ihm auf die Schulter und rief: “Aber Jörg, Dein Schatz wohnt doch in
Eschbach und Du gehst Wiesneck zu, wie hängt das zusammen, bist ihm
doch nicht untreu geworden?”
Die Verwirrung des Knechts bestärkte den schlauen Kaspar in seiner
Annahme, jenen auf einer Unwahrheit ertappt zu haben. “Jörg” nahm er
wieder auf, “ich glaube, Du willst mich narren, ich weiß aber besser
Bescheid, und Du darfst mir ruhig vertrauen. Du hast eine Botschaft an
den Wiesnecker?“
Aus Jörgs Erschrecken auf die Richtigkeit seiner Vermutung schließend,
fuhr Kaspar fort: “Das trifft sich gut, denn mir ist die ganze Sache
bekannt und als ein guter Kerl der ich bin, kann ich Dir vielleicht den
weiten Weg in der stockfinsteren Nacht ersparen, ohne dass Du um Deinen
Botenlohn kommst. Hatte ich doch eine Anfrage vom Junker an Deinen
Bauern und wollte just zu ihm, also sag’ mir getrost Deinen Auftrag und
leg’ Dich ruhig auf’s Ohr; alles soll bestens besorgt werden.”
Durch das zuversichtliche Wesen Kaspars zutraulich gemacht, rückte der
einfältige Knecht heraus: “Du hast´s freilich erraten. Hier ist ein
Zettel, den ich Junker Kuno überbringen soll und den ich Dir schon
anvertrauen möchte, wenn ich sicher wüßte, dass der Jägerbauer nichts
davon erführe, sonst ginge es mir schlecht. Gern würde ich mich
allerdings noch ein paar Stunden hinlegen, denn schon um ein Uhr nach
Mitternacht beginnt meine Wache.“
Kaspar gab die bündigsten Versicherungen und erhielt daraufhin den
Zettel ausgehändigt, während Jörg sich langsam entfernte. Kaspar jedoch
eilte spornstreichs ins Lager hin zu dem verlaufenen Magister Longins,
der die Schriftsachen der Bauern besorgte. Ihn befrug er, ohne ihm den
Ursprung des Zettels zu verraten, über die Deutung der wenigen
daraufstehenden Worte: Paratum est (Alles bereit). So kurz der Inhalt,
so bedeutungsvoll erschien er Kaspar doch, denn er meinte den Sinn
jener Bereitschaft dahin zu verstehen, dass es sich um Entweichung der
Schnewburger Damen handle und zwar zunächst auf den Jägerhof. Der
Bösewicht ging mit sich zu Rate, was zu tun sei. Sollte er den Jägerhof
noch schärfer beobachten lassen und, falls die Ankunft der Flüchtlinge
sich bestätigte, sie daselbst überfallen und der Wut der Uffhäuser
preisgeben? Das schien ihm nicht geraten, denn er verhehlte sich nicht,
daß die Hofgenossen sich sehr entschieden zur Wehre setzen und ihr
hochgehaltenes Schirmrecht verteidigen würden, sowie dass dessen
Verletzung die Thurnerschen Bauern unfehlbar völlig abtrünnig machen
müsse.
Was bewies ihm denn die Richtigkeit der Mutmaßung, dass es sich um die Flucht der
Schnewburgerinnen handle, und wenn auch, daß sie ihren Weg über den
Jägerhof nehmen sollten? Der Zettel, ohne Auf- und Unterschrift, trug
lediglich die zwei lateinischen Worte, die im Grunde ebensogut
nichtssagend als bedeutsam ausgelegt werden konnten. Welchen Anhalt
boten sie für die Annahme eines Einverständnisses des Jägerbauers mit
dem Junker? Das Zeugnis des halbsimplen Jörg erschien doch zu wertlos,
als daß Kaspar einen Fall von Wichtigkeit daraus hätte schmieden und
ihn der Entscheidung der anderen Bauernführers vorlegen mögen, zumal er
diesen in Sachen der Damen misstraute. Er beschloß also die Sachlage
mit List auszuforschen, um, wenn er den geringsten Anhalt über das
Zutreffen seiner Auffassung gewänne, die Flucht zu verhindern und
gleichzeitig dem achselträgerischen Jägerbauern einen gebührenden
Denkzettel zu versetzen.
Kaspar wußte, dass der fromme Hans Bulgenbach sich noch spät abends im
Lager umher zu treiben Pflege, um Bekehrungsversuche zu untenehmen.
Darauf gründete er seinen Plan und richtig lief ihm denn auch Hans in
die Hände, wie immer seine Bibel unterm Arm.
“Nun, noch so spät auf, Hans?” rief er ihm zu. ,
“Ei gewiß” lautete die Antwort, “habe noch versucht ein paar räudige
Schafe zu bekehren, bin mit meinem Erfolg zufrieden und kann mich
beruhigt auf die Streu strecken. So versteckt wie Du waren jene Sünder
freilich nicht, denn bei Dir ist doch Hopfen und Malz verloren.”
“Das mein ich noch lange nicht, habe mir vielerlei Dinge anders
überlegt. So denke ich jetzt auch anders über die Behandlung, die man
der Schnewburgerin soll angedeihen lassen. Wie die anderen Führer, so
glaube auch ich, es könnte der guten Sache nur nützen, wenn man der
Jungfer zum Entkommen behilflich wäre.”
Der Gesichtsausdruck Hansens, den weniger seine Klugheit, als seine
wirkliche Frömmigkeit und Ergebenheit an die Bauernsache zum Führer
gemacht hatte, verriet Kaspar, auch ohne dass jener ein Wort erwiderte,
daß er sich auf richtiger Fährte befinde. Er fuhr daher fort: “Ich habe
mir ausgedacht, wie man die Sache ausführen könnte, und da der
Jägerbauer doch einmal drum weiß,“ - er blickte Hans scharf dabei an,
der unwillkürlich zustimmend nickte - “so habe ich mit ihm das Nötige
verabredet. Schau, hier trage ich einen Zettel von ihm, den sein Sohn,
der ja Gottesgelahrtheit studiert, geschrieben und den ich Junker Kuno
ausliefern soll. Loginus hat mir den Inhalt gedeutet: Alles bereit”
“Gott Lob!” konnte sich Hans nicht enthalten auszurufen ,,nun aber eile, damit nichts versäumt werde.”
Wohl eilte Kaspar, nicht aber zur Burg, sondern zu seinen Uffhäuser
Genossen und zog bald darauf mit einer Schar Auserwählter in aller
Stille zum Jägerhof. Dort wußte er den Vertrauensseligen Jörg
herauszulocken, indem er ihm zurief, der Auftrag sei bestens besorgt,
er bringe ihm hier den Botenlohn. Kaum war Jörg jedoch vor die Türe
getreten, als ihn auch schon ein Dutzend grober Fäuste erfaßte und
niederschlug, ehe er einen Laut auszustoßen vermochte. So gelang es den
Verschworenen leicht in den seines Wächters beraubten Hof einzudringen,
ihn gleichzeitig an vielen Enden in Brand zu setzen und spurlos wieder
zu verschwinden. Erst durch den hellen Schein und das Knistern der
Flammen geweckt, blieb den Hausbewohnern knapp noch Zeit, das nackte
Leben zu retten. Als die Morgensonne über den Berg emporstieg, beschien
sie an Stelle des stattlichen Anwesens einen rauchenden Trümmerhaufen.
Die Entstehungsursache des Brandes ließ sich nicht feststellen, weil
der Wächter, der allein Aufschluss hätte geben können, halb verkohlt
unter den Trümern gefunden wurde. Die Kunde des Brandes jedoch
verbreitete sich mit Windeseile und gelangte auch nach Wiesneck; sie
bewirkte natürlich das vorläufige Aufgeben des Fluchtplans.
Ritter Udo sollte nicht mehr vom Krankenlager auferstehen. Wie bei
anderen gleichartigen Kraftnaturen, denen eigentliche Krankheit bis
dahin fern geblieben, wirkte die andauernde Bettlägrigkeit
erschlaffend, auf den Körperzustand und der Geist verlor die
Spannkraft, jene Schwäche niederzukämpfen. So siechte er dahin, seiner
Auflösung augenscheinlich entgegengehend. Die Damen suchten ihm seine
Leidenszeit tunlichst zu erleichtern, ihn über die Ungewissheit von
ihrer aller Schicksal wegzutäuschen und ihm alle unerfreulichen Dinge
fernzuhalten. So hatte man ihm u. a. vorenthalten, dass auch Thurneck
von den Aufständischen enge eingeschlossen sei, und dass man seit
vielen Tagen sich ohne alle Nachricht von dort befinde.
Diese Ungewißheit sollte allerdings in höchst betrübender Weise
beseitigt werden. Eines Morgens traf nämlich ganz unerwartet der
Burgvogt von Thurneck ein. Staunte man schon, dass er ungehindert durch
den Belagerungsring gelangen konnte, so noch weit mehr über die Kunde,
welche er Kuno brachte. Vor wenigen Tagen hatte ein Herold der Bauern
ein Schreiben des Freiherrn Udo an den Burgvogt übergeben. Klang auch
dessen Inhalt außerordentlich befremdlich und widersprach er in jeder
Hinsicht der ihm jetzt offenbar gewordenen Wirklichkeit, so durfte der
Vogt doch die Echtheit nicht bezweifeln, denn das Schriftstück trug
nicht nur das Handzeichen (drei Kreuze) sondern auch das Insiegel des
alten Freiherrn. Kuno, der beide prüfte, musste die Richtigkeit der
Behauptung des Vogtes zugeben. Auf welche Weise es gelungen war, die
beabsichtigte Täuschung zu bewerkstelligen, darüber konnte man nur
Vermutungen hegen.
Das Schreiben lautete: “Kund und zu wissen, dass es denen Bauern
geltungen, mich in ihre Gewalt zu schlagen, in unziemlicher Haft zu
halten mir ständig mit schimpflichem Tode dräuend, dafern ich mich
weigere, ihren Forderungen zu willfahren. Junker Kuno liegt schwer wund
darnieder und kann mich nicht befreien. So habe ich wohl oder übel die
zwölf Artikel annehmen und zum Zeichen meiner aufrichtigen Gesinnung
zugestehen müssen, daß vor meiner Rückkehr einem Fähnlein Bauern Einlaß
in meine gute Burg Thurneck gewähret werde. Denselben ist gute
Unterkunft und Verpflegung zu geben. Dagegen haben sie sich fein
ehrbarlich zu verhalten und in allen Dingen dem Befehl des Burgvogts zu
gehorchen. Mauern und Türme sollen die Bauern gemeinsam mit meinen
Söldnern besehen, doch so, dass alleweile auf zwei Söldner ein Bauer
komme. Also will und befehle ich es. Zu Urkunde dessen habe ich
hierunter mein Handzeichen und Insiegel angebracht. Gegeben im Lager
der Bauern vor Wiesneck am 12. Julius im Jahre des Heils 1525.”
Der Burgvogt hatte sich in einer höchst mißlichen Lage befunden. Die
Burg dem Feind öffnen, hieß das nicht, trotz aller Vorsichsmaßregeln
sie demselben preisgeben? Andererseits lag aber doch des Freiherrn
ausdrücklicher Befehl vor. Durfte der Vogt da säumen zu gehorchen, wo
es galt, seinen teuren Herrn unwürdiger Gefangenschaft oder gar dem
drohenden Tode zu entreißen? Er hatte sich Bedenkzeit ausbedungen sowie
um die Erlaubnis gebeten, einen Boten gen Wiesneck zu entsenden, um von
Kuno Verhaltungsvorschriften einzuholen.
Darauf ging man jedoch nicht ein, sondern gestattete nur Bedenkzeit bis
zum nächsten Morgen. Zwei vertraute Leute, die der Vogt gleichwohl
heimlich aussandte, konnten ihren Auftrag nicht ausrichten, denn als
der Vogt nach einer schlaflosen Nacht zum Fenster hinausblickte, sah er
die beiden dem Eingange gegenüber an einer hohen Tanne baumeln. Da
entfiel ihm der Mut, denn er musste sich sagen, dass eine Horde roher
Gesellen, die so wenig Umstände mit Menschenleben machte, auch seinen
geliebten Herrn kaum schonen möchten, wenn man ihren Forderungen nicht
Genüge leiste. Wieder und wieder durchlas er den Brief. Dieser ließ
keine andere Deutung zwischen den Zeilen erblicken, klar und bündig
lautete der Befehl. Da entschloß er sich endlich schweren Herzens Udos
Weisung nachzukommen, und dem Schock Bauern, an ihrer Spitze Jost
Fritz, Einlass in die Burg zu gewähren, nachdem er den eigenen Truppen
wiederholt größte Wachsamkeit ihnen gegenüber eingeschärft hatte.
Männiglich erstaunte über die gute Manneszucht der Bauern und ihre
Unterordnung unter seine Befehle, ganz entgegen den seitherigen
Schilderungen. Wer hätte geahnt, dass dies auf eitel Trug und List
beruhe, um die Burginsassen in Sicherheit zu wiegen und über der Bauern
wahre Absichten zu täuschen. Diese verstanden es, einen Teil der
jüngeren Mannschaft zu beschwatzen ihrer Sache beizutreten, dann die
Torwachen zu überwältigen, die Zugbrücke herab und einige weitere
Fähnlein der Ihren in die Burg hereinzulassen, deren Überzahl gegenüber
die Besatzung sich genötigt sah, nach kurzem Kampf die Waffen zu
strecken. Auf das Verhalten des Vogtes, dass man wider all’ Treu und
Glauben gehandelt, bemerkte Jost Fritz höhnisch, die Besatzung gehorche
ja dem Befehl des Vogts, denn er habe nun dessen Stellung übernommen,
das entspreche ganz Ritter Udos Weisung. Man mute dem seitherigen
Vertreter garnicht zu, zu verweilen, um die veränderten Dinge mit
anzusehen, im Gegenteil, man wünsche sogar, dass er gen Wiesneck eile,
um zu berichten, dass Thurmeck in Händen der Bauern sei. Man denke,
daraufhin werde Junker Kuno die Haltlosigkeit seiner Lage einsehen
lernen und auf die Vorschläge der Bauernführer eingehen.
Dieses unliebsamen Auftrages entledigte der Vogt sich jetzt; er
unterwarf sich willig jeder Strafe, die ihm der Junker seiner törichten
Leichtgläubigkeit halber auferlegen würde.
Kuno, von dieser Schreckensbotschaft ganz niedergeschmettert, verharrte
einige Minuten in dumpfem Schweigen; dann sich ermannend, stieß er
heraus: “Das war der schwerste Schlag, der uns treffen konnte; nun gebe
ich unsere Sache völlig verloren. Doch bleibt uns keine andere Wahl,
als zu kämpfen und kämpfend zu fallen. Weit besser ein rühmliches Ende,
als gemeinsame Sache mit dergleichen Schandbuben zu machen; meine
einzige schwere Sorge bleibt das Los meines Vaters und der Damen. Was
dich betrifft,” so wendete er sich an den Vogt, “so hast du unklug
gehandelt, doch verkenne ich nicht deine Zwangslage, eine Strafe
erlasse ich dir.”
Dass Kuno richtig vermutete, wenn er das Schicksal der Belagerten als
besiegelt betrachtete, bestätigte sich nur zu bald. In der gleichen
Nacht hörte man ein merkwürdiges Hacken, Schürfen, Klopfen und Schlagen
an dem der Zugbrücke gegenüberliegenden, durch die Pallisadenwand
gedeckten, aber wegen Mangels an Leuten unbesetzten Bergeshange.
Wiederholte Ausfälle, welche die Besatzung unternahm, um der Sache auf
die Spur zu kommen und allenfallsige Nachteile zu verhindern, wurden
durch die große Überzahl der Bauern mit bedeutenden Verlusten
zurückgeschlagen. In größter Spannung sah man der Entwicklung der Dinge
bei Tageslicht entgegen, und welch traurige Überraschung mußte man da
erleben! Die Bauern hatten die Pallisaden niedergerissen, einen rauhen
Weg an der Berglehne hergestellt und gerade der Zugbrücke gegenüber,
hoch oben regelrechte Schanzkörbe aufgepflanzt, zwischen denen vier
Geschütze hervorblickten. Diese, von Sachkundigen bedient, begannen
alsbald ihr Feuer gegen die Burg spielen zu lassen. Was man für
unmöglich gehalten, das war der gewaltigen Menge der Gegner, ihrer
Ausdauer und Übung in Erdarbeiten gelungen, nicht nur die Herstellung
jenes Wegs war vollbracht, sondern auch die beschwerliche
Herbeschaffung der Geschütze, keiner anderen als derjenigen, welche
seither zu Thurnecks Verteidigung dienten.
Diese Wahrnehmung konnte nicht ermangeln, die größte Bestürzung unter
der Besatzung hervorzurufen, ja, manche Stimmen wurden laut, die von
Übergabe redeten, zumal als ein Herold Kuno nochmals aufforderte, sich
in Güte zu ergeben, und gleichzeitig denjenigen Söldnern, welche schon
jetzt freiwillig die Burg verlassen wollten, ungehinderten Abzug
zusagte. Da man jedoch irgendwelche Zusicherungen betreffs des
Schicksals der Damen verweigerte, so lehnte Kuno jede weitere
Verhandlung kurz ab, stellte es indes seiner Mannschaft frei, von dem
angebotenen Freipaß Gebrauch zu machen. Nur einige wenige jüngere
Knechte benützten diese Gelegenheit zu entkommen, die übrigen
versprachen auszuharren.
Eine ungeahnte Wirkung hatte das Feuern aus den Thurnecker Kanonen auf
Ritter Udo ausgeübt. Als die ersten Schüsse erschollen, fuhr er aus
seinem Halbschlafe empor, richtete sich im Bette auf, und während die
bleichen Wangen fieberhaft erglühten, brach er in die Worte aus:
“Hussa! ich erkenne den Klang meiner Thurnecker Feldschlangen; bald
werden diese die Feinde verscheuchen und seien’s ihrer noch so viele.
Hie gut Thurneck allweg!”
Damit sank er tot auf sein Lager zurück, einen letzten freudigen Blick
aus den gerade ins Zimmer tretenden Kuno werfend. Tiefbewegt kniete
dieser mit Kilian und den Damen zum Gebete am Sterbelager des Vaters
nieder. Dann aber sich aus seinem Kummer aufraffend, traf er die der
Lage entsprechenden weiteren Maßnahmen. Vor allem gebot er, den leicht
als schlimmes Anzeichen deutbaren Todesfall einstweilen gegen jedermann
zu verheimlichen. Unbemerkt trugen die beiden Männer den in seinen
Mantel gehüllten Leichnam hinab in die Höhle unter dem Turme; sie
schaufelten in deren Sandboden ein Grab, und nachdem sie den Toten mit
seinem Schwerte darein versenkt hatten, bedeckten sie es mit schweren
Steinen. Kilian waltete dann seines geistlichen Amtes, während Kuno und
die Damen betend und weinend die schmucklose Ruhestätte umstanden.
Es kann nicht unsere Sache sein, die Einzelheiten der noch eine Reihe
von Tagen dauernden Belagerung zu schildern; wir müssen uns auf
Mitteilung des Ausganges beschränken. Die Landsknechtkanoniere der
Bauern hatten sich als gute Schützen bewährt; manche Bresche war in die
Mauern gelegt und dadurch der Weg zur Unternehmung eines Sturmes
vorbereitet worden; mancher in den Gebäuden ausbrechende Brand konnte
nur mit Mühe gelöscht werden. Auch der Turm hatte erheblich gelitten;
ihn zu erhalten, machten die Belagerten verzweifelte Anstrengungen,
barg er doch außer dem Notausgange auch das Hauptpulvermagazin.
Letzterer Umstand sollte sich als verhängnisvoll erweisen, denn eines
Tages schlug eine Brandkugel in den Turm und entzündete das
Pulvermagazin. Mit ohrenbetäubendem Knalle stürzte der größte Teil der
Obergeschosse zusammen, einen verderbenbringenden Steinregen ringsum
ergießend, nur die Quadern des Unterstocks hielten auch diesmal stand,
wenngleich sie klaffende Risse zeigten. Schreck und Verzweiflung auf
Seiten der Besatzung folgten dem Ereignisse. Eine große Anzahl Leute,
unter ihnen Bruder Kilian, war ihm zum Opfer gefallen. Als aber nun gar
eines der Wohngebäude nach dem anderen in hellem Brande aufloderte, da
vermochte Kuno den Mut seiner Mannschaft nicht länger aufrecht zu
erhalten. Sie zogen eine weiße Fahne auf, warfen die Waffen weg und
ließen die Zugbrücke nieder, über welche sich die Bauernscharen wie ein
Strom ergossen. Allen voran in gewaltigen Sätzen, einen wuchtigen Spieß
schwingend, stürzte der rote Kaspar auf das Gebäude zu, worin er die
Damen vermutete. Kuno, der ihn heraneilen sah und seine Absichten
erriet, stach ihn auf der Schwelle nieder; dann riß er die Damen mit
sich fort, zu eiliger Flucht durch die Höhle.
Kaum vermochte man hier zu atmen. Eine schwere Stickluft, verursacht
durch eingedrungenen Pulverdampf, Rauch und eigentümliche dem Boden
entsteigende Dünste herrschte in dem Raume. Trotzdem gelang es Kuno,
die eichene Pforte zu öffnen und die betäubt schwankenden Frauen in den
engen Gang zu ziehen. Gleich darauf prasselte der stehengebliebene
obere Teil des Turmes nieder, unter Schutt und Staub altes ringsum
bedeckend . . . .
Von den Flüchtlingen verlautete nie mehr etwas.
Im 19. und 20. Jahrhundert.
Die erbitterten Bauern, besonders erbost durch das unerklärliche
Entkommen der Herren von Thurner sowie der Schnewliner Damen, ließen
ihre Wut an den Gebäulichkeiten aus, nachdem sie alles Niet- und
Nagellose weggeschleppt hatten. Trotz eifrigster Durchstöberung
sämtlicher Keller und Winkel vermochten sie keine Spur der Flüchtlinge
zu entdecken. Ebenso entging ihnen das Vorhandensein der Höhle und des
Notausgangs, weil beim Einstürzen des Turmes die geheime Zugangstreppe
und ein großer Teil der Höhle verschüttet und vollständig unzugänglich
geworden war. Auch der Spürsinn solcher, die in späteren Zeiten nach
verborgenen Schätzen gruben, ward an der gewaltigen Trümmermasse zu
schanden. Was von Mauerwerk der Einwirkung des Feuers widerstand, wurde
seitens der Zerstörer mit Pulver gesprengt und in den Graben
geschleudert. Dadurch gewann die ganze Örtlichkeit ein völlig
verändertes Gepräge; nur der Stumpf des alten Römerturmes, dessen
gewaltigen Quadern auch die Zerstörungskraft des Pulvers nicht hatte
beikommen können, erinnerte noch einigermaßen an frühere Zeiten. Aber
niemand von den kommenden Geschlechtern dachte an Wiederaufbau der
Burg. Ihr Bestehen erwies sich als keine Notwendigkeit, und der
Aberglaube bezeichnete die Stätte so vieler blutiger Ereignisse als
eine verrufene.
Während der mancherlei Deutschland durchtobenden schweren Kämpfe der
folgenden Jahrhunderte spielte Wiesneck keine Rolle, außer daß ab und
zu Marodeure ihren Raub hinaufschleppten, wobei sie sich in den
Trümmern des Turmes und in den zerfallenen Kellergewölben vorübergehend
aufhielten. Letztmals vollzog sich dies während der napoleonischen
Kriege. In der diesen folgenden Friedenszeit baute sich ein
Buchenbacher Bauer seinen Hof in die Nähe der Ruine und bediente sich
der herrenlos umherliegenden Steine für seine friedlichen Zwecke.
Mit der zunehmenden Sicherheit des Landes, wie sie der Gesittung des
Zeitalters entsprach, entwickelte sich etwas, was frühere Zeiten nicht
empfunden zu haben schienen oder dem zu willfahren die Verhältnisse
nicht recht gestatteten das Verlangen, die Natur durch eigene
Anschauung kennen zu lernen. Man kam zu der Überzeugung, daß es nicht
nur in fernen Ländern, auf klassischem Boden landschaftliche
Schönheiten gäbe, welche eines längeren oder kürzeren Besuches wert
seien, sondern daß auch unsre Wälder, unsere aussichtsreichen Höhen die
Anstrengungen des Marschs reichlich entgalten, dass Körper und Geist
sich durch die Bewegung in freier Luft, wie durch die gewonnene
Anregung erfrischt und gehoben fühlten. In schwungvollen Liedern
feierten unsre Dichter die Herrlichkeiten der Schöpfung, die Wonne des
Wanderns in derselben, und der stets wanderlustige Germane bedurfte nur
noch dieser Aufmunterung von berufener Seite, um sich seiner
angeborenen Neigung schwärmerisch hinzugeben. Es äußerte sich darin ein
unbewusster Freiheitsdrang. Da draußen im Schatten uralter deutscher
Eichen, da droben auf luftiger Bergeshöh fühlte man sich erhaben über
die kleinlichen Einschränkungen, welche sich die persönliche Freiheit
gefallen lassen musste, und in deren Eindämmung ein Machthaber den
anderen zu überbieten trachtete. Das war der Dank für das Blut, welches
das deutsche Volk in Strömen geopfert hatte, um die wankenden, morschen
Throne auf ’s neue zu befestigen! Gern unterstützte man von seiten der
Regierungen den sich äußernden ungestümen Drang, welcher zu seiner
Betätigung solch’ ungefährliche Gebiete erkor. Man machte die in
Betracht kommenden Landstriche leichter zugänglich - wobei ja auch das
liebe fiskalische Interesse gedieh - man erlaubte den Ausflüglern sich
abseits der Pfade herumzutreiben, sich mit Blumen und grünen Zweigen zu
schmücken, ja man gestattete sogar das Absingen sogenannter
patriotischer Lieder, welche die Taten der angestammten Herrscher in
Krieg und Frieden verherrlichten.
Allein, so fein auch die Diplomaten der alten Schule alles einzufädeln
glaubten, wenn sie die Bürger in Ausübung solch harmloser Tätigkeit
begünstigten, so hatten sie doch nicht mit dem Geiste des Jahrhunderts
gerechnet, nicht mit den Empfindungen der Volksseele, welche sich wohl
zeitweise knebeln, aber dadurch nicht beseitigen läßt. Wohl kann man
einen Wildbach in ein kunstgerecht vertieftes schnurgerades Bett
einzwängen; gefahrlos fließt er darin zur Freude seines Schöpfers, des
genialen Wasserbautechnikers, auch bei heftigen Gewitterregen, ja
selbst zu Zeiten der Schneeschmelze, solange diese sich in
herkömmlicher Ordnung vollzieht. Hat aber der Winter ungewohnt hohe
Schneemaßen aufgehäuft und durch strenge Kälte erhalten, und braust
dann im Frühlinge der Tauwind tagelang darüber hin, dann schwellen die
Wasser in einem Maße und mit solcher Plötzlichkeit, dass sie auch die
höchsten und festesten Dämme überfluten oder durchbrechen.
Ganz ebenso im Völkerfrühlinge: Die wahren deutschen Dichter hatten von
Deutschlands großer Vergangenheit gesungen, doch beschränkten sich ihre
Lobpreisungen nicht lediglich auf die Taten der Fürsten, nein, sie
erinnerten auch das Volk an seine Leistungen, an seine getreulich
erfüllten Pflichten und an die ihm dafür gebührenden unveräußerlichen
Rechte. Mit der Erkenntnis dieser Seite ihres kraft höherer Eingebung
ausgenbten Berufs war über die Sänger auch warme Begeisterung für ihn
gekommen. Und wie wahrhafte Begeisterung, die Hörer mitreißend,
kräftigen Widerhall erweckt, so fielen der Barden Worte befruchtend auf
den schlummernden Keim im innersten Herzen des Volks. Ehe noch die
verknöcherten Schergen der Gewalt hinter ihren grauen Brillen das
Herannahen des Völkerfrühlings ahnten, war er schon blühend und
strahlend eingezogen und hatte mit Windeseile das aus seinem Traum
erwachende ganze Vaterland erhellt. Zündend wie ein elektrischer Funke
flammte der Freiheitsgedanke an den Hochschulen auf. Das verpönte
Schwarz-Rot-Gold der treuesten Hüter jenes Gedankens, der
Burschenschafter, gelangte zu neuer einigender Bedeutung. „Gut und Blut
für´s Vaterland“ lautete ihr Wahlspruch, und viele haben durch ihren
Heldentod bewiesen, daß es ihnen ernst war mit dessen Erfüllung.
Das waren allerdings Kraftnaturen, deren wallende Haare und Bärte ihre
Kommilitonen von heutzutage verlachen mögen. Unter diesen Haarwäldern
waltete jedoch geistige Regsamkeit, Verständnis für die Erfordernisse
ihrer Zeit sowie Mut und Kraft zur Erreichung der gesteckten Ziele.
Diese umfassten allerdings andere Gedanken als solche, wie man das Geld
des „Alten“ am schnellsten verjubelt, welcher Sekt, welche
Bowlenmischung vorzuziehen, mit welcher albernen Handbewegung der
mißgeformte „Stürmer“ abgenommen und aufgesetzt werden müsse; zu ihren
Beratungen bedurfte es auch keines mit aller Verfeinerung
eingerichteten Korpshauses und dergleichen mehr! Unter denjenigen
Freiburger Studenten, welche der freiheitlichen Entwicklung des
Vaterlandes mit Leib und Seele zustrebten, zeichnete sich Ottmar Lanz
vor allen aus. Er stammte aus guter dortiger Familie, hatte die
Abgangsprüfung des Lyceums glänzend bestanden und oblag nun dem
Rechtsstudium mit regem Eifer und bestem Erfolge. Den Grundzug seines
Charakters bildete eine schrankenlose Begeisterung für alles, was
Deutschlands Vergangenheit und Zukunft betraf. Wie aus seiner Seele
gesprochen lauteten ihm Arndt´ s Worte „Sein Vaterland muß größer
sein!“ Mit allen Mitteln wollte er dessen Größe, Einheit und Freiheit
erstreben und verlorne Gebiete dem Reiche wiedergewinnen, vor allem das
Elsaß. Bei allen damals wie heute durch die Welt ziehenden Redensarten
von Verbrüderung der freien Völker, wurmte ihn doch immer der Gedanke,
daß jener urdeutsche Landstrich, der Wasgau unwiderbringlich Frankreich
einverleibt bleiben sollte.
Urdeutsch, wie das fruchtbare Elsaß war, hatte es sich sein deutsches
Wesen bewahrt, trotz aller „Segnungen“ der französischen Kultur. Diese
Beobachtung hatte sich Ottmarn in reiferen Jahren bei verschiedenen
Anlässen aufgedrängt. Einmal gelegentlich einer Wanderschaft, als die
bezeichnende Antwort eines auf französisch nach dem Wege Befragten
lautete: „I redd nit welsch!“ Noch deutlicher aber trat dieser Zug bei
einer anderen Gelegenheit zutage, bei der Fahnenweihe der
Nationalgarden des Wasgaues in Thann, als das Städtchen einschließlich
seines ehrwürdigen Münsters in Blau-weiß-rot förmlich schwamm. Zur
Erhöhung der nationalen Begeisterung war auf Regierungskosten Freibier
gespendet worden, welchem die zu hunderten herbeigeströmten jungen
Burschen, sämtlich in blauen Kitteln (offiziell Blousen benannt) und
kantonweise an der verschiedenen Farbe der Kragen kenntlich, eifrig
zusprachen. Jedenfalls wussten sie dem heimatlichen Getränke mehr
Geschmack abzugewinnen als den französischen Reden der eigens mit den
Fahnen aus Paris entsandten Offiziere. Auch bei den von diesen
angestimmten patriotischen Liedern, selbst bei der Marseillaise fiel
keiner ein. Als aber von Ungefähr ein frischer Münstertäler, rittlings
auf hoher Faßpyramide sitzend, „Im Wald und auf der Haide“ begann, da
schien von allen der Bann des Fremdländischen gewichen, und jubelnd
schloß sich die ganze Volksmenge an, dass es brausend über den
Festplatz scholl.
Ottmars glückliche Jugendzeit hatte sich ganz im Dreisamtale
abgespielt. Alle dasselbe umkränzenden Berge hatte er häufig erstiegen,
ihre Pflanzen- und Tierwelt kannte er genau. Mit besonderer Liebhaberei
betrieb er dabei die Durchforschung der Trümmer zerfallener Burgen auf
jenen Gipfeln. So der Kybburg, von deren schier unzugänglicher Höhe aus
einst der sagenhafte Herzog Ernst von Schwaben seinem kaiserlichen
Vater getrotzt hatte; der Schnewburg, mit deren Zerstörung der
Bauernkrieg begonnen; des Zähringer Schlosses, wo einst die Wiege des
badischen Herrscherhauses stand; vor allem aber der Burg Wiesneck. In
unmittelbarer Nähe der Trümmerstätte hatte, wie eingangs dieses
Abschnitts erwähnt, der „Burgbauer“ seinen geräumigen Hof erbaut, der
Vater des jetzigen Inhabers. Zwischen jenem, ja sogar schon zwischen
dem Großvater des Bauern und der Familie Lanz hatten stets rege
Beziehungen bestanden, und mit echt bäuerlicher Zähigkeit wurde diese
geheiligte Ueberlieferung festgehalten, sorgsam gepflegt und auf die
beiderseitigen Nachfolger übertragen. Auch zwischen Ottmar und des
Burgbauern, einige Jahre älterem Sohn Vinzenz bestand treue
Freundschaft, welche sich auf dessen Seite umsomehr in unbegrenzte
Hochachtung und Bewunderung wandelte, als Ottmar es verstand, der
Ueberlegenheit seines Verstandes und Wissens jeden herben Beigeschmack
fernzuhalten. Die Stellung der beiden zu einander entsprach ganz dem
Verhältnisse wie es Vinzenzens noch lebende hochbetagte Großmutter von
einem Junker v. Thurner und seinem mit ihm aufgewachsenen Leibknappen
und Vertrauten erzählte, der seinem Herrn das Leben gerettet hatte,
indem er die diesem geltenden Streiche mit seinem eignen Leibe auffing.
Wie glänzten Vinzenzens Augen bei diesem Berichte: würde er doch in
gleicher Lage dasselbe für seinen Freund tun! Fühlte er sich doch
umsomehr dazu berufen, weil die Großmutter als gewandte Erzählerin
jenem getreuen Knappen die etwas verwachsene Gestalt Vinzenzens
anzudichten wußte.
Vinzenzens Großmutter und ihre spannend vorgetragenen eignen Erlebnisse
aus den Kriegszeiten, ihre Märlein und Sagen, zumal diejenigen über
Burg Wiesneck übten eine besondere Anziehungskraft auf Ottmar aus, und
gerne lauschte er ihr, wenn er so manchen Sonntag oder gar einige
Wochen während der Ferien auf dem gastfreien Hofe zubrachte, bei
welchen Gelegenheiten er mit Lust und Geschick an den bäuerlichen
Arbeiten teilnahm. Von Wiesnecks Erbauung in grauer Vorzeit wußte die
Alte zu berichten; freilich hatten nach ihrer Auslegung nicht die ihr
unbekannten Römer den festen Turm errichtet, sondern Satan in
höchsteigener Person mit seinen höllischen Scharen. Daß dem so sei,
hatte man bei den öfteren Zerstörungen der Burg erprobt: die
Quadermauern des Turmsockels hatten der Gewalt des Feuers, ja des alles
sonst bezwingenden Pulvers widerstanden. Auch als die Bauern die Burg
erstürmten, mußte der Teufel wohl seine Hand mit im Spiel gehabt haben,
denn als man die Burginsassen, die man noch eben an einem Fenster des
Hauptbaues gesehen hatte, ergreifen wollte, waren sie in einer
Schwefelwolke entschwunden. Den roten Kaspar aber, den riesigen
Anführer der Uffhäufer, der allen voran geeilt war, um den Junker,
seinen grimmig gehassten Feind, zu fassen, fand man mit grässlich
entstellten Zügen, das Gesicht im Nacken, tot am Boden liegen...
Dass die durch derartige Erzählungen lebhaft erregte Phantasie der
Knaben sich in entsprechenden kriegerischen Spielen äußerte, darf nicht
befremden Ottmar übernahm dabei die dankbare Rolle des letzten
Thurners, der, nur von seinem Leibknappen Vinzenz unterstützt, sich und
die Seinen zu retten suchte und im Turminnern barg, während ein Dutzend
Buchenbacher Knaben - in deren Schar der rote Kaspar natürlich nicht
fehlte - seine Absicht zu vereiteln trachtete.
Jene schönen Tage waren allerdings längst dahingeschwunden. Der Ernst
des Lebens, den Geboten der aufgeregten Zeit folgend, trat ungewöhnlich
früh an die beiden Freunde heran, wie denn weltbewegende Ereignisse den
denkenden Menschen frühzeitig reifen. Das erprobte selbst Vinzenz in
seiner vergleichsweisen Abgeschiedenheit, während es bei Ottmar in der
geistig regsamen Universitätsstadt, im ständigen Verkehre mit
gleichgesinnten Genossen nicht wundernehmen konnte.
In allen Leibesübungen bewundert und für den Soldatenstand ganz
hervorragend veranlagt, hatte er lange geschwankt, ob er nicht diesen
als Beruf ergreifen sollte; allein sein Hang für Unabhängigkeit
bestimmte ihn, um letztere zu bewahren, ihr jene Neigung zu Opfern.
Jetzt kam ihm jene Veranlagung trefflich zu statten. Mit der
mißglückten Erhebung vom Jahre 1848 war nur das Vorspiel der großen
Umwälzung zu Ende gegangen, welche sich allenthaIben vorbereitete, und
welcher durch zeitgemäße Zugeständnisse vorzubeugen die Regierungen
sich nicht entschließen mochten, oder doch in einer Form, die sie kaum
als ernstgemeint erscheinen ließ. Die herrschenden Kreise begünstigten
die Ausgestaltung der altertümlichen Bürgerwehren - im Gegensatz zu den
verpönten und bemißtrauten Turnern -, wähnten sie doch in ihrer
Kurzsichtigkeit darin einen Schutzwall gegen die Umstürzler zu
schaffen, als welche man sich nur die Hefe des Volkes vorstellen
konnte. Freilich rekrutierte sich die Bürgerwehr nur aus angesessenen
Leuten, welche nach Erfüllung mancherlei zopfiger Vorschriften und
Zahlung eines Bürgergeldes der Aufnahme als Bürger würdig befunden
worden waren. Zur Vervollständigung der Reihen hatte man in der
neuesten Zeit auch Bürgersöhne aus „zuverlässig“ erachteten Familien
herangezogen. Ein alter Erfahrungssatz lehrte ja, daß Leute, welche
etwas zu verlieren haben, keine Umstürzler sind, weil sie eben beim
Drunter- und Drübergehen selbst mit herhalten müssen. Hier erwies sich
diese Wahrnehmung als trügerisch, denn der Freiheitsgedanke war in alle
Bevölkerungsschichten eingedrungen, und die Bürgerwehren betrachteten
es als ihre Aufgabe, nächst dem äußeren auch den inneren Feind, die
Gegner der Volksrechte zu bekämpfen.
Ottmars Befähigung hatte ihm, trotz seiner Jugend, die Aufnahme und
bald eine Leutnantstelle in der Bürgerwehr oder Volkswehr, wie sie
jetzt hieß, gesichert, und er wußte seiner Abteilung eine ganz
besonders gute Ausbildung zu geben. Die Abende wurden meist der
Erörterung politischer Fragen gewidmet, wobei die „Grundrechte“ ein
unerschöpfliches Thema bildeten, und wobei des jungen Leutnants
scharfsinnige Auseinandersetzungen allgemeines Aufsehen erregten. Auf
vielseitigen Wunsch mußte er auch Vorträge über die Zeitfragen in
Vereinen der Stadt und Umgegend halten.
Er war das Urbild eines Volksredners. Seine männlich-schöne
Erscheinung, das edel geschnittene Profil, die feurigen Augen, das
blonde Lockenhaar, das wohlklingende Organ sicherten ihm ebenso wie die
von wahrer Begeisterung getragenen Darlegungen allseitige Zuneigung,
allseitige Zustimmung. Als das erste deutsche Parlament zusammentrat,
regten sich viele Stimmen für seine Entsendung dahin. Allein er lehnte
bescheiden ab zugunsten älterer, seiner Äußerung nach berufenerer
Vertreter der Volkssache in jener Versammlung, während er es als seine
Aufgabe bezeichnete, die Massen an Ort und Stelle weiter aufzuklären
und auf alle Möglichkeiten vorzubereiten. Schon bei dem 1848er
Aufstande hatte er sehnlichst gewünscht, sich den Heckerschen Scharen
anzuschließen, um mit den Waffen in der Hand die Rechte des Volkes zu
vertreten. Eine heftige Erkrankung hatte ihn verhindert teilzunehmen,
aber am Tage des Gefechts bei Staufen hatte er sich mit Aufbietung
aller Kräfte auf den Schloßberg geschleppt, um wenigstens zu hören, wie
man kämpfte. Jetzt wollte er unter keinen Umständen mehr fehlen seine
Pflicht zu erfüllen, und er ahnte bereits, dass wiederum die Waffen
mitreden müßten.
Die Verhältnisse spitzten sich zu, die Gegensätze verschärften sich,
das Militär meuterte. Da flohen der Großherzog und mit ihm seine
Anhänger. Eine provisorische Regierung für Baden wurde eingesetzt. Die
Pfalz ahmte das Beispiel des Nachbarstaates nach und es schien, als ob
die Sache der Revolution triumphieren solle. Allein der Erfolg
scheiterte an dem alten Uebel der Kleinstaaterei, der Zersplitterung
und der Sonderwünsche, welche jedes Land für sich hegte.
Trotz der in allen Reden und Liedern gepriesenen Einheit und Einigkeit
des deutschen Vaterlandes erwiesen sich doch nur wenige als wirklich
gute Deutsche, bereit ihre Einzelinteressen für die Allgemeinheit
preiszugeben. Nach wie vor traten Hessen, Baiern, Württemberger und wie
sie alle hießen, mit ihren besonderen Forderungen hervor. Da wollte
keiner seine Lieblingswünsche Opfern, wenn er auch eine gründliche
Änderung der bestehenden Dinge erhoffte. Vorab ließ man die mutigen
Badener die Kastanien aus dem Feuer holen, sich vorbehaltend, je nach
dem Ausfall des Versuches mitzutun oder nicht. Die Bevölkerung mancher
Staaten stand der Bewegung sogar geradezu feindlich gegenüber, und die
Badener sahen sich deshalb auf ihre eigenen Hilfsquellen und auf
Mitwirkung solch’ abenteuerlustiger Elemente angewiesen, wie sie sich
namentlich in den sogenannten Legionen aus In- und Ausland breit
machten. Diese Genossen, welche ihre zumteil mehr als zweifelhafte
Beschaffenheit unter dem weiten Deckmantel des Begriffes „Freiheit“ zu
verbergen suchten, sowie die Übertragung des Oberbefehls über das Heer
an einen des Deutschen völlig unkundigen Polen Mieroslawski, trugen
dazu bei, dem badischen Aufstande viele wertvolle Sympathien von
vornherein zu entziehen.
Als die Nachricht vom Abfalle der Karlsruher Garnison - worunter doch
die Erlesenen der Garde - nach Freiburg gelangte, gährte es bedenklich
unter den daselbst liegenden Truppen, deren Verkehr mit den
verschrieenen „Wehren“ schon vorher die Offiziere beängstigt hatte. Der
in Freiburg kommandierende General von Gayling hoffte trotzdem seine
Soldaten dem Großherzog erhalten zu können, wenn er sie nur rasch und
dauernd der revolutionären Sache entzöge. Wie seinerzeit Moses die
Israeliten wollte er seine ebenso disziplinlose Schar, wenn auch nicht
durch´s balkenlose Rote Meer, so doch durchs Höllental in’s gelobte
Land Württemberg entführen. Dort war es trotz mancherlei aufreizender
Reden, trotz verschiedener Putsche doch zu keiner eigentlichen
Umwälzung gekommen, wenn der König auch ein gut Teil Zugeständnisse
machen mußte. Das Heer aber war ihm vollkommen treu geblieben, wie denn
dem am Hergebrachten hängenden Schwaben die schwarzroten Landesfarben
alles, die deutschen blitzwenig galten.
Mit diesen Mustersoldaten wollte General von Gayling seine Truppen
zusammenbringen, um durch deren lobenswertes Beispiel seine schwarzen
Schafe wieder in unschuldsvolle Lämmer umzuwandeln. In Ausführung
dieses schönen Planes marschierte denn in der Frühe des 7. Juni die
gesamte Garnison, einige tausend Mann Infanterie und Artillerie das
Dreisamtal hinauf, angeblich zur Vornahme von Manövern auf der
Schwarzwald-Hochebene. Die Führer der Umsturzpartei hatten aber von der
eigentlichen Absicht Kenntnis erhalten und setzten darum alles zu ihrer
Verhinderung in Bewegung; der Verlust einer so stattlichen Schar
genbter Streiter erschien ihnen doch gar zu bedenklich für die Sache
der Freiheit. Gewandte, den Truppen nachgesandte Sendboten wussten also
die Nachricht zu verbreiten, man beabsichtige die Ahnungslosen im
Höllental-Engpaß von vorn und im Rücken durch Württemberger, namentlich
Artillerie, angreifen und niedermachen oder gefangen nehmen zu lassen.
Nach Lage der Dinge an sich, wie hauptsächlich der Örtlichkeit erschien
eine solche Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Die Badener machten daher
unweit der alten Römerstadt Tarodunum Halt und erklärten ihrem General,
sie hätten seinen feinen Schachzug wohl durchschaut; sie wollten
deshalb lieber im hübsch breiten Dreisamtale bleiben und nach Freiburg
zurückkehren, es ihren Offizieren überlassend mitzuziehen oder den
Württembergern zu folgen. Vergeblich erwiesen sich Gaylings und anderer
Befehlshaber Bemühungen, ihnen solch’ irrige Meinung auszureden. Sie
blieben fest und machten kehrt. Nur wenige, meist jüngere Offiziere,
aber nahezu alle Unteroffiziere schlossen sich ihnen an, die übrigen
zogen nach Württemberg.
So marschierten denn die der deutschen Reichsverfassung treuen Badener
in größeren und kleineren Trupps in ihren langen, weiten, gelbgrauen
Mänteln mit den gekreuzten weißen Bandelieren in strömendem Regen
singend und jauchzend die Schiff- und Kartäuserstraße herunter. Überall
wurden sie angehalten, nach den Vorgängen befragt, belobt und bestens
bewirtet. Noch in der Nacht wählten sie ihre Führer, und mancher, der
als bescheidener Subalterner schlafen ging, erwachte als Leutnant oder
gar als Hauptmann, während man zu den höheren Posten vorwiegend die der
Volkssache anhängenden Offiziere erkor. Da konnte man sie mit breiten
schwarz-rot-goldenen Schärpen, als Abzeichen ihrer neuen Würden, über
die festlich geschmückte Kaiserstraße einherstolzieren sehen. Aus allen
Fenstern wehten dreifarbige Fahnen, selbst der alte Münsterturm ward
von einer riesigen Fahne umflattert. Und wie prächtig nahm er sich erst
am Abende aus, als er gleich wie die ganze Stadt in einem Meere von
Illuminationslämpchen erstrahlte, während patriotische Lieder überall
erschollen und Jubelrufe zum Himmel jauchzten, stimmungsvoll begleitet
durch das Läuten aller Glocken.
Die neue Regierung berief nun alle waffenfähigen Männer vom 18. bis zum
30. Jahre zu den Fahnen, die sogenannten Freischarer. Die Stimmung
unter diesen war sehr verschieden: während manche nur missmutig dem
Rufe folgten, flossen andere über vor Heiterkeit, sangen und sprangen
und tanzten abends beim Klange einer Ziehharmonika ausgelassen mit den
Arbeiterinnen im Hofe der Fabriken, wo sie einquartiert waren. Ihre
Kleidung bestand aus schwarzem breitrandigem „Heckerhute“ mit
dreifarbiger Kokarde und aus blauem Kittel mit Leibgurt, die Bewaffnung
bildete Flinte und Säbel, bei manchen eine aufrecht am Stiele
befestigte Sense, eine den Polenkriegen entlehnte, sich aber hier wenig
bewährende Waffe. Auf dem Karlsplatz zu Freiburg wurde Musterung
gehalten und die taugliche Mannschaft nach Kompagnien, dann zu
Bataillonen und Regimentern zusammengestellt. Aus gedienten Soldaten
und Teilen der Volkswehr wurde ein als ziemlich kriegstüchtig zu
betrachtendes Regiment geschaffen und zu dessen Oberst Ottmar Lanz
ernannt. Schon nach wenigen Tagen rückte dieses Regiment auf Befehl des
Obergenerals Sigel nach dem vermutlichen Kriegsschauplatze ab, in die
Gegend von Mannheim, wo man den Einmarsch der vom vertriebenen
Großherzog zu Hilfe gerufenen Preußen usw. erwartete. Diesen
Bestimmungsort erreichte aber Ottmars Schar nicht, weil die oberste
Heeresleitung in ihrer Unzulänglichkeit und Zerfahrenheit es nicht
verstand, dem Feinde Widerstand zu leisten, sondern nach kurzen Kämpfen
auf der ganzen Linie zurückwich und ihre Truppen, soweit diese, von der
Erfolglosigkeit ihrer Mühe angeekelt, sich nicht verlaufen hatten, in
die Festung Rastatt warf.
Der jugendliche Oberst war den sich ständig widersprechenden Befehlen
folgend erst nach Heidelberg marschiert, dann nach der
württembergischen Grenze ausgebogen und schließlich wieder in
westlicher Richtung gerückt, ohne weder mit dem Feinde, noch mit dem
eigenen Heere Fühlung zu bekommen. Der letzte Befehl wies ihn an, die
Besatzung von Rastatt zu verstärken und so geriet auch er in diese für
die Badener so verhängnisvolle Mausefalle. Bei einem Ausfalle wurde er
verwundet und gefangen genommen. Es gelang ihm jedoch, nach seiner
Wiederherstellung zu entkommen. Sich wieder in die Festung zurück zu
begeben, wollte ihm jedoch nicht glücken, und um nicht abermals in die
Hände der Preußen zu fallen, versuchte er es, sich nach Freiburg
durchzuschleichen, welches er noch in Händen der Aufständischen wähnte.
Die Absicht, in seine Heimatstadt zu gelangen, erreichte er zwar,
allein in wesentlich anderer als der gewünschten Weise, nämlich als
Gefangener der Preußen, welche Freiburg erobert, das noch vorhandene
Insurgentenheer geschlagen, zersprengt und, soweit nicht gefangen, samt
den Mitgliedern der provisorischen Regierung über die Grenze getrieben
hatten. Nach einigen Wochen strenger Haft in dem überfüllten
Gefängnisse entfloh Ottmar abermals, dank seiner Bekanntschaft mit
einem sich besonders bärbeißig anstellenden Wärter und dank seiner
turnerischen Gelenkigkeit. Zunächst verbarg er sich in der Wohnung
einer ehemaligen Lanzschen Dienstmagd, welche sich mit Vinzenz ins
Einvernehmen setzte, der seiner Körperbeschaffenheit wegen nicht unter
die Freischaren aufgenommen worden war und deshalb nach wie vor häufig
in die Stadt kam, um unter anderem die Lanzsche Familie mit allerhand
Haushaltungsbedarf zu versehen. Eines Morgens, als noch die Sterne am
Himmel blinkten, lenkte ein sogenanntes Berner Wägelein in flottem
Trabe von der rechts ins Höllental führenden Heerstraße links ab und
hinauf zum Burgbauern. Heraus sprangen zwei junge Burschen in der
damals noch allgemein getragenen schmucken Tracht der Talbauern,
breitrandigem Hute, schwarzer Jacke mit Münzenknöpfen, roter Weste und
Kniehosen, der verwachsene Vinzenz und sein Vetter Joseph, in
Wirklichkeit Ottmar, den die Entfernung seiner Locken und seines
Flaumbarts nahezu unkenntlich machte. Noch vor Sonnenaufgang siedelte
unser Freund in Gesellschaft eines an ihn sehr anhänglichen wachsamen
Spitzhundes in die Trümmerstätte Wiesneck über, deren einen
unterirdischen Raum der treue Vinzenz so sicher und so behaglich, als
es die Umstände gestatte1en, für die Aufnahme des Flüchtlinge
hergerichtet hatte. Dieser wollte von seinem sicheren Schlupfwinkel aus
die Weiterentwicklung der Dinge abwarten und seine Entschlüsse davon
abhängig machen, d. h. je nachdem sich den Behörden stellen oder seine
Flucht über die Grenze fortsetzen.
Diesen letzteren Weg schlug bei weitem die Mehrzahl derjenigen ein,
welche Ursache zu haben meinte, sich dem Bereiche der die Ordnung in
Baden gewaltsam Wiederherstellenden zu entziehen, deren
Gerechtigkeitssinn und Milde kein guter Ruf vorausging. Für eine Flucht
kamen Frankreich und die Schweiz in Betracht. In beiden Fällen
erschwerte der mächtige, mit reißenden Geschwindigkeit dahinbrausende
Grenzstrom das Entkommen. Dem Flüchtlinge mußte da, wenn es ihm
überhaupt gelang, der Aufmerksamkeit der Wachen zu entgehen, vor allem
ein Kahn zur Verfügung stehen, denn das Durchschwimmen war undenkbar,
ebenso die Benützung einer der wenigen Brücken, weil niemand ohne einen
genauen Ausweis oder Paß oder ausdrückliche Erlaubnis sie überschreiten
durfte.
Die leichteste Gelegenheit zur Flucht boten die auf dem rechten
Rheinufer liegenden Gebiete der Kantone Basel und Schaffhausen, allein
man kann sich denken, mit welch’ väterlicher Fürsorge deren Grenzen bei
Tag und Nacht abpatrouilliert wurden. Einige Schiffer, welche
Unkenntnis des Verbots und Verlockung durch das gebotene hohe Fährgeld
vorschützend, Flüchtlinge über den Rhein gesetzt hatten, wurden schwer
bestraft und im Wiederholungsfalle mit standrechtlicher Behandlung
bedroht. Das schien die erwartete Wirkung zu haben, denn niemand wollte
mit den verrufenen Standgerichten in Berührung kommen.
Aber auch die straffste Bogensehne erschlafft mit der Zeit. Die
scharfen Bewachungsvorschriften wurden nach Verlauf einiger Wochen, -
als die Annahme berechtigt erschien, daß kaum noch einer der
wichtigeren Aufständischen sich innerhalb Badens auf freiem Fuße
befinde, oder dass einer noch jetzt Veranlassung, nähme das Weite zu
suchen - zwar nicht zurückgezogen, wohl aber von den ausführenden
Organen weit weniger strenge beobachtet. Im Schutze der Dunkelheit
überschritt dann noch mancher die Grenzen, mochte ihn nun Besorgnis
wegen seiner Teilnahme am Aufstande oder Widerwille gegen die sich
breitmachende Gewaltherrschaft vertreiben.
Diesem Beispiele wollte auch der Wiesnecker Einsiedler folgen, wenn die
Verhältnisse es bedingen würden, das heißt je nachdem die über seine
gefangenen Genossen gefällten Urteile ausfallen und eine Beurteilung
des auch seiner wartenden Schicksals ermöglichen würden. Erweise sich
die Strafe als keine zu harte, namentlich als keine entehrende, so
würde Ottmar vorgezogen haben sich zu stellen, anstatt in die
Selbstverbannung zu wandern. Er verfolgte deshalb mit regster
Aufmerksamkeit die Verhandlungen der Standgerichte in Freiburg und in
Rastatt aus Berichten öffentlicher Blätter, welche Vinzenz ihm
verschaffte. Immer düsterer gestaltete dieser trübselige Lesestoff
unseres Helden Stimmung, denn so genau er forschte, bis jetzt war er
auf keinen Freispruch gestoßen, auch bei den am geringsten Beteiligten,
wohl aber auf Verurteilungen zu zehn, zwanzig und mehr Jahren Haft, und
zwar im Zuchthause abzubüßen, also als Genosse gemeiner Verbrecher! Und
nun gar die mit unheimlicher Schnelligkeit erfolgenden und vollzogenen
Todesurteile an Dortu und Neff in Freiburg! Jetzt wußte er sich den
scharfen Knall zu erklären, den er unlängst kurz nach Tagesanbruch
vernommen, als starker Westwind jeden stärkeren Laut durch die
Morgenstille herauftrug: Schüsse hatten dem Leben eines seiner braven
Kameraden ein jähes Ende bereitet.
Die nähere Aufklärung brachte ihm am folgenden Tage Vinzenz, der es
sich angelegen sein ließ, so oft als irgend möglich nach Freiburg zu
wandern, um seinem Schützlinge neben Nachrichten allgemeiner Natur,
namentlich solche von seinen Angehörigen zu bringen. Da man dem
entflohen gewähnten Sohne nichts anhaben konnte, suchte man sich
einstweilen einigermaßen an den Eltern schadlos zu halten, obwohl
dieselben in keiner Weise größeren Anteil an der Revolution genommen
hatten, als die übrigen, der Mehrzahl nach freidenkenden Einwohner. Man
belegte sie mit einer bedeutenden Anzahl Mannschaften, sogenannter
„Strafeinquartierung“. Nun traf es sich aber, daß diese nicht aus
eigentlichen Altpreußen, sondern aus Wetzlarer Schützen bestand, deren
Wesen sie den Süddeutschen näher brachte, die auch aus ihrer freien
Richtung kein Hehl machten und sich bitter beschwerten über die
Henkerrolle, die man ihnen zumutete. „Denkt Euch,“ erzählte der
Wortführer, „wir mußten gestern in aller Herrgottsfrühe ausrücken, 9
Mann, l1Unteroffizier und ein 1 Leutnant. Vom Gefängnis aus begleiteten
wir einen geschlossenen Wagen, worin gefesselt und bewacht der
Freischarenführer Dortu saß, der so brav für seine Sache gefochten
hatte und den wir nun standrechtlich erschießen sollten. Wir sind
Soldaten, und in ehrlichem Kampf gehen wir drauf, wenn’s befohlen wird,
wenn’s auch manchmal hart genug ankommt. Aber was geht es uns an, was
der Dortu mit dem Großherzog von Baden für Streitigkeiten hatte, und
weshalb sollen wir Wetzlarer die Henkersknechte für diesen spielen?
Unser drei hatten sich das Versprechen gegeben, über des Verurteilten
Kopf wegzuschießen, denn es widerstrebte uns, das Blut eines Wehrlosen
zu vergießen. Die anderen sechs mögen ähnlich gedacht oder bei der
ungewohnten Arbeit gezittert haben, denn der arme Mensch obwohl von
drei bis vier Kugeln durchbohrt lebte noch, und wir hatten keine
zweiten Patronen mit. Da trat auf Befehl der Unteroffizier dicht an
jenen heran und gab ihm, wie einem angeschossenen Stück Wild, den
Fangschuß. Den Augenblick werde ich mein Lebtag nicht vergessen!“ Nach
einer kleinen Pause fuhr der Sprecher fort: „Als braver Soldat, voller
Mut ist der Mann gestorben, und da sollte man doch denken, daß er sich
nichts Böses bewusst war. Aufrecht stand er vor seinem offenen Grabe
auf dem Friedhofe in der Wiehre da drüben, nahm die Binde von den Augen
und schaute uns furchtlos an, die wir in drei Gliedern mit angelegten
Büchsen nur wenige Schritte entfernt von ihm standen, d. h. das
vorderste Glied kniete. Dieses sollte auf den Leib, das zweite auf die
Brust und wir drei hinten auf den Kopf zielen. Als der Sergeant sein
Werk vollbracht hatte, untersuchte der Arzt den Gefallenen und stellte
dessen Tod fest. Darauf ward er ohne weiteres in die Grube geworfen und
diese ausgefüllt, während wir abmarschierten. Der Friedhof wird Tag und
Nacht streng bewacht, und dennoch verlautet, dass heute Morgen Dortus
Grabhügel über und über mit frischen Blumen bedeckt gewesen sei.“
Vinzenz der gerade im Lanzschen Hause verweilte, hatte diese Erzählung,
an allen Gliedern bebend, mit angehört und sie seinem Schützlinge
wortgetreu wieder berichtet. Er erzählte noch eine andere Begebenheit,
die er von einem Augen- und Ohrenzeugen vernommen hatte, die den Geist
der „Eroberer“, denn als solche spielten sich die Preußen auf, recht
anschaulich schilderte. Wie schon erwähnt, stand die Mehrzahl der
Gebildeten in Baden auf dem Boden der unterdrückten Reichsverfassung.
Billigten sie auch nicht alle Schritte der revolutionären Partei, so
konnten sie doch nur in Durchführung jener Verfassung Aussicht auf die
erstrebte freiheitliche Entwicklung erblicken. Aus dieser ihrer
Anschauung machten die Mutigeren unter ihnen auch jetzt kein Hehl, da
ein Mann seine Ansichten nicht wie einen Handschuh wendet. Einen als
freisinnig bekannten Fabrikanten, in dessen Hause Ottmar viel zu
verkehren pflegte, hatte man mit 70 Mann Strafeinquartierung belegt,
diesen jedoch keinen Offizier, sondern nur Unteroffiziere und einen
freiwilligen Vizefeldwebel beigegeben. Dieser, der schon die Epauletten
wachsen fühlte, spielte sich als Leutnant auf und verlangte demgemäße
Unterkunft und Verpflegung. Der Fabrikant wand dem Vizefeldwebel ein,
dass er nicht mehr anzusprechen habe als jemand von der Mannschaft,
denn es sei dem Quartiergeber schon weit über Gebühr zugemutet, fast
eine ganze Kompagnie unterzubringen und zu verköstigen, wolle er nun
ihn begünstigen, der doch keinen Offiziersrang bekleide, so würde dies
auch die Ansprüche seiner Kameraden ins Ungemessene steigern, und
dagegen rnüsse er sich verwahren. Der Vizefeldwebel ließ trotzdem mit
Drängen nicht nach und um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, rief
er: „Ich bin aus gutem Hause.“ woraus der Fabrikant erwiderte: „Das
merkt man Ihrem Benehmen nicht an.“ Eine Entgegnung wurde abgeschnitten
durch das Herankommen eines mit Besichtigung der Quartiere beauftragten
Leutnants. Bei diesem beklagte sich der Fabrikant über die Ungebühr des
Vizefeldwebels. Als er jedoch bei Schilderung des Hergangs seine diesem
erteilte Zurechtweisung nicht verschwieg, herrschte der Offizier seinen
Untergebenen an: „Hättest Sie diesen Mann doch niederjestochen!“
Begreiflicherweise übten solche Schilderungen auf den jetzigen Bewohner
Wiesnecks einen sehr niederschlagenden Eindruck aus. Schlimmeres als
Ottmar hatte ja auch Dortu nicht verbrochen. Ganz wie er war dieser dem
Gebote der zu Recht bestehenden „Provisorischen Regierung“ und seiner
eignen Überzeugung gefolgt, indem er mit den Waffen in der Hand den
Feinden der bedrohten guten Sache entgegentrat. Diese Überzeugungstreue
mußte Dortu mit dem Tode büßen, wobei die eingenommene führende
Stellung als erschwerend galt. Milderungsgründe kannten die
Standgerichte nicht. Unter solchen Umständen konnte das Ottmars
harrende Los nicht zweifelhaft erscheinen. Dies bestimmte seinen
Entschluß, und er lauerte auf eine unauffällige Gelegenheit zur
Bewerkstelligung seiner Flucht über die schweizer Grenze.
Dem Burgbauern Mathias Gremelsbacher galt es als selbstverständliche
Pflicht und keines Dankes wert, daß er und die Seinen sich dem in’s
Ungemach geratenen jungen Manne in jeder Weise nützlich und hilfreich
erwiesen. Ebenso erachtete der biedere Burgbauer es als ausgemachte
Sache, daß er auch zur Flucht Ottmars die Hand bieten müsse. Es steckte
darin noch ein gut Teil uralter alemannischer Anschauung, wonach der
auf eines freien Bauern Hof Geflüchtete sozusagen als geheiligte Person
galt.
Das wußte männiglich auf dem Hofe, daß es mit Vetter Josef, der wegen
des Leutemangels (lagen doch an die sechstausend rüstiger Männer in den
Rastatter Kasematten gefangen) während der Erntezeit „von dem Walde“
gekommen war, eine besondere Bedeutung hatte. Er verstand zwar die
Arbeit ganz gut und erwies sich als fleißig, allein er fasste doch
alles anders an als die Knechte, war feiner im Wesen und aß mit den
Bauersleuten zusammen, anstatt unter Vorsitz des Oberknechts am
Gesindetisch. Auch munkelte man, daß er nicht, wie es hieß, mit Vinzenz
zusammen schlafe, und es fiel ferner auf, daß er manchmal tagelang
abwesend blieb. Dies geschah namentlich, wenn das zwischen dem
Burgbauern und seinem Schwager auf dem Rainhofe verabredete, nur ihnen
bekannte Zeichen (ungewöhnlich stark qualmender Rauch aus dem
Schornsteine) zu erhöhter Vorsicht mahnte. Allein niemand unter dem
Gesinde hätte sich unterstanden den „Josef“ betreffenden Umständen
nachzuforschen, noch weniger einem Fremden gegenüber das geringste
davon zu erwähnen und nun gar einem in der verhassten Eroberer Auftrag
kommenden Schnüffler. Die allezeit freigesinnten Talbauern fühlten sich
durch die gegenwärtige Gewaltherrschaft wohl etwas eingeschüchtert,
anderseits jedoch stillschweigend solidarisch gegen dieselben
verbunden. Nach damaligem löblich-patriarchalischen Brauche ziemte es
sich für das Gesinde nicht, über die Beweggründe ihres „Bauern“ in
irgend einer Ungelegenheit zu grübeln. Sie fügten sich stillschweigend
seinen stets als wohlerwogen zu betrachtenden Anordnungen, wie einem
Naturgesetze, und wehe demjenigen, der gewagt hätte, sich dagegen
aufzulehnen!
Inmitten der nach Süden abfallenden Kuppe des Wiesnecker Burgberges
erhob sich eine riesige Edeltanne. Kaum vermochte man sich zu erklären,
wie ihre mächtigen Wurzeln aus dem den Fels nur spärlich bedeckenden
Boden Nahrung ziehen konnte. Einem schärferen Beobachter durfte es
freilich nicht entgehen, dass der Wipfel vertrocknet war, dass auch
trotz des Vorherrschens einer Fülle frischgrüner Zweige hier und da
einer der mächtigen Äste zu verdorren begann - Zeichen allmählichen
Absterbens. Allein wenn einer der vorlauten Söhne des Aeolus im
Vorbeistreifen dem Riesen sein bevorstehendes Ende höhnisch hätte
zuraunen wollen, würde dieser wohl unwirsch und trotzig sein mächtiges
Haupt geschüttelt und erwidert haben: „Wohl mag dein heftiges Blasen
mir manche Nadel vorzeitig entreißen, wohl fühle ich die Kraft, weiter
emporzustreben, erlahmen, allein ich dehne mich weiter seitlich aus und
denke noch des Burgbauern Urenkel zu beschatten, wie meine starken Äste
seinen Urahnen stützten, als er hoch oben das Nest des räuberischen
Habichts aushob. Ein Weiser fügt sich in die Umstände und sucht sie für
sich wie für andere zu nutze zu machen.“
Da lag der mächtige Baum aber eines Morgens entwurzelt und mehrfach
gebrochen lang dahingestreckt, im Falle hatte er das Pigmäenvolk jungen
Anwuchses weit ringsum zerschmettert. Ein tückischer Wirbelsturm hatte
seinem Dasein ein rasches Ende bereitet. Ottmar, aus seinem
Schlupfwinkel tretend, betrachtete erschüttert das Opfer der ungestüm
waltenden unbändigen Naturkraft. So fiel auch schon mancher Große im
Menschengeschlechte, im Sturze diejenigen mitreißend und begrabend, die
an die Beständigkeit seiner Macht geglaubt hatten.
Viele Klafter hoch ragten die mastbaumdicken zerrissenen Wurzeln empor,
gleichsam als reckten sie ebensoviele Arme klagend gen Himmel.
Dazwischen zeigten sich neben moos-und tannennadel-bedecktem Erdreich
kleinere und größere Felsbrocken eingezwängt, einige von gewaltigem
Umfange und Gewicht, doch nicht ausreichend, der Gewalt der Windsbraut
Widerstand zu leisten. Als Ottmar in dem Wurzelwerk umherkletterte,
lösten sich Erdteile und Steine und rollten in die im Boden entstandene
weite Höhlung. Dies vollzog sich mit eigentümlich hohl klingendem
Geräusche und jedem Aufschlagen der Steine folgte einem Echo gleich ein
nochmaliger dumpfer Laut, der aus dem Berginnern zu dringen schien. War
es nun Wirklichkeit oder Täuschung, daß die niederrutschenden
Schuttmaßen, anstatt sich in der tiefen Mulde nach und nach anzuhäufen,
darin verschwanden? Nein, diese Wahrnehmung beruhte auf keiner
Täuschung. Die gewaltigen Tannenwurzeln hatten, durch Felsspalten
eindringend, einen mächtigen Block umklammert und diesen beim
Niederstürzen des Baumes einem riesigen Stöpsel gleich emporgehoben,
und unterhalb des Lagers dieses Blocks erblickte man einen ausgedehnten
Hohlraum. Nun, da Ottmars Forschungstrieb erwacht war, ließ es ihn
nicht ruhen, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit Hilfe Vinzenzens
schritt er an’s Werk. Dem freundlichen Leser, der unseren Schilderungen
bis hierher gefolgt ist, brauchen wir keine Beschreibung der häufig
erwähnten Höhle zu geben. Nur soviel sei gesagt, dass ihr Zustand im
Schoße der Erde sich unverändert erhalten hatte, seitdem der Zugang vom
Turme aus durch das hereinfallende Gemäuer verschüttet worden war.
Dass die von der Natur geschaffene Höhle mit den ehemaligen
Befestigungen zusammengehangen haben müsse, schien Ottmar nach seinen
anderwärts gemachten Erfahrungen unzweifelhaft; auf einstmalige
Bewohnung deutete die rauchgeschwärzte Decke. Allein von wo aus mochte
sie zugänglich gewesen sein, und wo hatte der Rauch seinen Abzug
gefunden? Da das spärliche Licht der benutzten Stalllaterne zur Lösung
der Fragen nicht ausreichte, so zündeten die Freunde ein kräftiges
Feuer an und bemerkten durch dessen hellen Schein bald, daß die sonst
überall eine kräftige Wölbung und dabei die natürliche Unebenheit des
Felsens zeigende Wand in einer nischenartigen Vertiefung der Südseite
vom Boden bis etwa zur Manneshöhe auffallend glatt und senkrecht
aufstieg. Da hatte sicherlich menschliche Kunst das Werk der Natur zu
ergänzen und in irgend einer Weise sich nutzbar zu machen gesucht. Und
in der Tat, diese senkrechte Fläche erwies sich bei genauer
Untersuchung als eine Holztüre, wenn auch mit einer dicken Kruste von
feuchtem Moose und Sinter überzogen, die sie vom Gesteine nicht
unterscheiden ließ und mit diesem auch so innig verband, daß ein Öffnen
der Türe nur durch Anwendung von Axt und Brecheisen möglich wurde.
Zugleich aber drang unseren Pionieren eine dichte Dunstwolke von
widerlich scharfem, betäubendem Geruche entgegen, welche nur ganz
allmälig den Einwirkungen des heller angefachten Feuers und der von
oben eindringenden frischen Luft wich und einen Einblick in den
verschlossen gewesenen Raum gestatten. Vinzenz leuchtete mit einem
brennenden Spane hinein, prallte jedoch mit dem lauten Angstrufe:
„Jesus Maria und Josef!“ zurück; auch der furchtlose Ottmar konnte sich
nicht enthalten, einen Schritt zurückzutreten. Der sich bietende
Anblick übertraf an Schaurigkeit die kühnste Phantasiegebilde. Dicht
bei der Türe in aufrechter Stellung gegen die Wand gelehnt, den Kopf
der niederen Decke halber vorgebeugt, ragte eine regungslose hohe
dunkle Gestalt, eine andere lag ausgestreckt am Boden. Der grausige
Eindruck steigerte sich noch durch die fast vollständige Erhaltung der
Gesichtszüge, welche in dem flackernden Lichte den Anschein des Lebens
gewannen, in argem Widerspruche zu den erloschenen Augen. Auch die
Kleidung erwies sich als wohl erhalten. In der liegenden Gestalt mußte
man eine junge Edeldame aus der ersten Hälfte des sechzehnten
Jahrhunderts vermuten, in ihrem Begleiter einen wenig älteren Ritter.
Dicker Rost bedeckte dessen Helm und Brustharnisch, den langen Haudegen
in der Rechten, den breiten Dolch in der Linken.
Waren diese unverwesten Leichen wirklich Zeitgenossen des Bauernkriegs?
Dies unterlag wohl keinem Zweifel, denn seit ihrer damaligen Zerstörung
war die Burg der Überlieferung nach in Trümmern liegen und unbewohnt
geblieben. Wie aber gelangten jene Beiden in diesen unterirdischen
Raum, der weder einem Verließe, noch einer Gruft glich? Wie wäre damit
auch des Ritters Stellung mit gezücktem Schwerte zu erklären, wie der
Umstand, daß Schloss und Riegel der schweren Türe unverschlossen waren?
Sollte es sich um einen verunglückten Fluchtversuch handeln? Dann
befand sich hier wohl ein ins Freie führender Ausgang. Schien es jedoch
denkbar, dass man diesen im Laufe der verstrichenen drei Jahrhunderte
nicht hätte auffinden können, auch wenn er noch so gut verborgen
gewesen wäre? Ottmar drängte es, diese Frage wenigstens zu ergründen,
wenn er auch auf Lösung der anderen Rätsel wohl verzichten musste. Mit
der Laterne versehen, zwängte er sich an den Leichen vorbei, während
der an allen Gliedern bebende und nur seinem Freunde zu Liebe
verweilende Vinzenz mit lodernden Spähnen von der Türe aus
herüberleuchtete. Die stollenartige Abzweigung der Höhle verengte und
erniedrigte sich bei Ottmars Voranschreiten beständig; zuletzt behielt
er kaum Platz zum Kriechen. Jetzt war das Ende erreicht und damit die
Bestätigung der Vermutung, daß es sich hier um einen von der Natur
gebildeten Ausgang handle, welchen die ehemaligen Inhaber der Höhle
sich zu nutze gemacht hatten. Darauf deutete ein künstlicher Verschluss
durch einen an verrosteten und zerborstenen Eisenbändern hängenden
Steinblock von etwa einem halben Meter Durchmesser.
Trotz aller Anstrengungen vermochte Ottmar den Stein kaum merklich zu
bewegen, meinte aber doch durch eine bei seinem Ringen entstandene
winzige Ritze Tageslicht durchschimmern zu sehen. Um dieser Tatsache
auf den Grund zu gehen, mußte Vinzenz von außen her durch Rufen und
Klopfen die ungefähre Lage des Höhlenverschlusses feststellen. Allein
erst vereinigten langwierigen Bemühungen gelang es, ihn unter dicht mit
Dornengestrüpp bewachsenen Schutte zu entdecken, für Uneingeweihte
freilich nach wie vor unauffindbar.
So überwältigend auch die heute gemachte wunderbare Entdeckung der
lebendig Begrabenen war, und so sehnlich Ottmar gewünscht hätte, Licht
in dieses rätselhafte Ereignis zu bringen, so strenge geboten doch die
Umstände tiefste Verschwiegenheit gegen jedermann zur Vermeidung
jeglichen Aufsehens, welches die Sicherheit des Flüchtlings gefährden
konnte. Die Freunde, Ottmar blutenden Herzens, Vinzenz sichtlich
erleichtert, mußten sich deshalb entschließen, das Ritterpaar nicht nur
am Fundorte zu belassen, sondern auch die notdürftig zusammengeflickte
Türe wieder fest zu schließen. Das durch die Wurzeln der umgestürzten
Tanne in die Wölbung der Höhle gerissene Loch bedeckten sie einstweilen
mit Fichtenreisern und Erde, sich vorbehaltend, den Verschluß in der
Frühe des nächsten Morgens in einer Weise zu vervollständigen, dass
niemand den wahren Sachverhalt ahnen würde.
Vinzenz behauptete immer und immer wieder, die so erstaunlich
wohlerhaltenen Gestalten könnten kaum länger als einige Wochen oder
allenfalls Monate da unten gewesen sein, und auf Ottmars Einwurf, dies
sei doch aus allen möglichen Gründen undenkbar, antwortete er mit
echter Bauernhartnäckigkeit nur kopfschüttelnd: „Es ist doch so.“
Ottmar hingegen erinnerte sich, bei einem Besuche der Gruft der
Thomaskirche zu Straßburg die Leichen eines Grafen und seiner Tochter
aus dem zwölften Jahrhundert gesehen zu haben, welche ohne jegliche
Einbalsamierung nur durch die eigentümliche Luftbeschaffenheit
vollkommen erhaltene Gesichtszüge, Haare und Kleidung bewahrt hatten.
Sollten in dem Wiesnecker Höhlengange nicht ähnliche Einwirkungen
stattgefunden haben, und sollten nicht etwa die bei Offnung der Türe
wahrgenommenen atembeklemmenden Gase die erschöpften Flüchtlinge
jählings getötet, ihre Körper aber, wie zum Hohne, erhalten haben?
Dem heftigen Wirbelsturme der verflossenen Nacht war verhältnismäßige
Stille bei Tage gefolgt, wenn auch die Wolken noch immer rasch
dahintrieben. Gegen Abend frischte der Wind merklich auf, gleichwohl
herrschte eine unangenehme Schwüle, welche selbst bis in Ottmars sonst
so kühles, wenn auch dumpfes unterirdische Schlafgemach drang. Der
Einsiedler zog es deshalb vor, nicht wie sonst gegen zehn Uhr sein
Schlafgemach da unten aufzusuchen, sondern im Freien zu verweilen. Er
richtete sich mit Hilfe einer Decke, so gut es eben ging, in den
Zweigen der gestürzten Tanne ein und gedachte baldigen Schlaf zu
finden, denn die heute durchlebten Aufregungen und Anstrengungen hatten
ihn geistig wie körperlich stark ermüdet. Gegen Überraschung durch
unwillkommene Störenfriede, wenn sie überhaupt zu befürchten war,
schützte ihn das dichte Gezweige, vor allem jedoch die bewährte
Wachsamkeit des zu seinen Füßen gelagerten treuen Spitzes. Freilich
fiel Ottmar die sonderbare Unruhe des Hundes auf, welcher bald mit hoch
erhobenem Kopfe in die Luft hinaus schnupperte, bald in gleicher Weise
den Burghügel umkreiste. Und doch mußte eigentliche Gefahr als
ausgeschlossen gelten, denn deren Herannahen pflegte das kluge Tier
durch knurren und unterdrücktes Bellen kundzugeben
Die Heftigkeit des Windes nahm zu. In das gewohnte Geräusch, verursacht
durch sein Streichen durch das Baumwerk, seinen Anprall wider das
Gemäuer, mischten sich die seltsamsten andern Laute; bald schienen sie
von unten, bald aus den Lüften zu dringen. Das war ein unheimliches
Rauschen und Raunen, ein Lispeln und Flüstern, ein Wispern und Pispern,
dann wieder ein Winseln und Wimmern, ein Ächzen und Krächzen, ein
Seufzen und Klagen, ein Stöhnen und Röcheln wie die letzten bebenden
Laute Sterbender auf leichenbedecktem Schlachtfelde. Ottmar
erschauerte, der Hund winselte leise.
Über den Hang und die Schlucht gelagerter Nebel wogte auf und ab,
verdichtete sich bald, bald zerriss ihn der Wind und ballte ihn
zusammen zu Gebilden, denen das spärlich durch die Wolken dringende
Mondenlicht das Aussehen menschlicher Gestalten verlieh, welche wie im
Kampfe hin- und herdrängten. Jetzt schien es, als trennten sich die
Massen, die kleineren, nun wieder formlosem Gewölke gleichend, lagerten
sich auf dem Burghügel, die größeren jenseits der Schlucht. Indem trug
der Luftstrom leisen Glockenschall herüber: die Kirchturmuhr im Dorfe
verkündete die Mitternachtsstunde. Bei einer Umschau wollte es Ottmar
da scheinen, als sei der zerfallene Turm gewachsen; ja wahrlich, er
erhob sich zu beträchtlicher Höhe, gekrönt mit einem spitzen
Ziegeldache. Doch wie, auch da und dort, ja überall ringsum tauchten
hochgieblige Häuser auf, umkränzt von zinnenbewehrten Mauern mit
kleinen Türmchen und einem den Eingang beherrschenden starken
Brückenturme. Dazwischen liefen Gewappnete geschäftig hin und her, in
geringer Zahl, während die Anhöhen jenseits des Grabens von Angreifern
wimmelten. Doch alle Bewegungen vollzogen sich mit lautloser Stille.
Jetzt wurde diese indes jäh unterbrochen. In rasender Schnelligkeit
überzog sich der Himmel mit schweren schwarzen Wolkenmassen, alles in
tiefe Finsternis hüllend. Gleich darauf Tageshelle. Ein riesiger Blitz,
nein, hunderte auf einmal, gefolgt von nicht enden wollenden,
ohrenbetäubendem Donner. Da sinkt der Wartturm, dort der Brückenturm
vom Strahle getroffen. Ihnen nach stürzen Häuser, Mauern berstend
nieder. Hohe Staubwolken wirbeln empor. Prasselnd schlagen überall
mächtige hohe Flammen heraus. Ringsum loht, glüht, qualmt es. Das
Getöse einstürzenden Mauerwerks gesellt sich zum Rollen des Donners.
Jetzt erfolgt ein Windstoß von einer Heftigkeit, dass der Grund erbebt
. . . die Glut erlischt jählings, nur schwerer Rauch wälzt sich noch
zwischen den Trümmern. Nun verzieht er sich. Der hell durch die Wolken
brechende Mond bescheint ein wüstes Trümmerfeld, über welches eine
kleine Schar Flüchtlinge dahineilt, um sich in die kärglichen Überreste
der Gebäude zu retten. Ein zahlloser Haufen Angreifer, abenteuerliche
Gestalten in flatternden Fetzen, überklettert ameisenartig Wälle und
Ringmauern und verfolgt die Verschwundenen. Allen voran in wallendem
roten Barte, einen wuchtigen Speer schwingend, stürmt eine lange hagere
Gestalt, der rote Kaspar. Erst stürzt er auf den Wartturm zu, dann,
gleichsam als wittere er den Zufluchtsort des von ihm gesuchten edlen
Wildes anderwärts, wendet er sich rasch ab. In gewaltigen Sprüngen
nähert er sich dem unter Reisig versteckten Höhlenzugange. Ein
mächtiger Satz und er verschwindet in der Tiefe!
Ottmar hatte beim Herannahen des wüsten Gesellen seine Pistole im
Anschlage gehalten. Der Spitz kroch mit eingezogenem Schweife laut
heulend und hilfesuchend an seinen Herrn heran. Alles vollzog sich mit
Blitzesschnelle und noch war Ottmar nicht recht zum Bewußtsein
gekommen, da vernahm er deutlich unterhalb seines Lagers ein Dröhnen,
welches wie Rütteln und Poltern an einer Türe klang. Ein Augenblick
Stille, darauf sich nähernder wilder Kampfeslärm. Dann schwingt sich
der rote Kaspar mit klaffender Kopfwunde aus der Höhle und entflieht
mit Windeseile. Da krähte der Hahn auf dem benachbarten Hofe, allen
Spuk verscheuchend und Ottmar erwachte im Tagesgrauen. Er gewahrte
Vinzenz angstvoll suchend umherirren und rief ihn deshalb an. „Gott Lob
und Dank,“ scholl es freudig zurück, „mir war schon angst und bange um
Dich, weil ich Dich unten in Deiner Klause nicht fand und fürchtete,
das wilde Heer, welches die ganze Nacht um Hof und Burg gesaust war,
hätte Dir Schaden zugefügt.“
„Schaden habe ich gerade nicht genommen, obwohl es einmal nahe daran zu
sein schien,“ gab Ottmar halb ernst, halb lachend zurück; „ich habe die
ganze Zeit hier oben gesessen, weil mir’s unten zu dumpfig war. Ich
muß, ohne es zu merken, eingeschlafen sein, denn ich habe das tollste
Zeug zusammengeträunit, wobei die Erzählungen Deiner seligen Großmutter
und das Pärlein im Grunde der Höhle eine große Rolle spielten.“
„Laß mich in Ruhe mit Deinen Träumen, Du Freigeist,“ brummte Vinzenz,
“ich habe das höllische Gesindel doch mit meinen leibhaftigen Augen und
Ohren gesehen und gehört. Erst beim Hahnenschrei sind sie verschwunden.
Aber was schnuppert denn der Spitz da so ängstlich an dem verdeckten
Höhleneingang heraus, und wie kommt das kreisrunde Schlupfloch in das
Reisig mitten hinein? Bist denn Du nochmals hinuntergestiegen?“
“Das sieht allerdings seltsam aus,” erwiderte Ottmar sinnend, “als ich
gestern Abend dicht an der Stelle vorbeischritt, schien alles
unversehrt. Dann sah ich freilich in meinem Halbschlaf den roten Kaspar
ein- und ausfahren; allein, das ist doch Unsinn.”
“Alle Heiligen zu Hilft” schrie Vinzenz, “der rote Kaspar, den hab’ ich ja auch auf seinem Spieß durch die Luft reiten gesehn.”
“Und doch handelt sich´s nur um Auswüchse unsrer durch das gestrige
Erlebnis aufgeregten Phantasie. Das runde Loch ist allerdings
vorhanden, indessen das allein beweist nichts. Schauen wir lieber
einmal im Innern der Höhle nach, ob wir da Spuren des vermeintlich von
mir angehörten Kampfes finden!”
Es bedurfte langen Zuredens, bis Ottmar seinen Genossen zur Einfahrt in
die Hölle - wie dieser es bezeichnete - bewegen konnte und nicht eher,
als bis er sie beide mit Weihwasser besprengt und eine geweihte Kerze
in die Hand genommen hatte. Im Zustande der Höhle fand sich nichts
verändert, nur ließ sich die Tatsache nicht ableugnen, daß die gestern
dicht verschlossene Türe zu der Leichenkammer heute handbreit offen
stand. Auch wollte Vinzenz bei dem flüchtigen Blicke, den ihm seine
Angst dahinzuwerfen gestattete, bemerkt haben, daß die Eingeschlossenen
ihre Lage verändert gehabt hätten, ja später behauptete er sogar, der
Ritter habe ihn höhnisch angegrinst. Es gereichte ihm deshalb zu
einiger Beruhigung, als sein Freund die Türe wieder fest zudrückte und
für alle Fälle einen schweren Stein davorrollte, während er selbst aus
sicherer Entfernung am Feuer zuschaute. Dann aber riss er Ottmar mit
hinaus aus der schaurigen Örtlichkeit und ruhte nicht eher, bis deren
Zugang mit Brettern, Steinen und Moos fest verschlossen, sowie mit Erde
meterhoch zugefüllt und mit einem rohen Holzkreuze versehen war, um dem
roten Kaspar oder seinem Gegner die Ein- oder Ausfahrt zu verleiden.
Auf dem Hofe trafen die Freunde den alten Gremelsbacher in einiger
Erregung, weil ihm eine versteckte Warnung wegen Ottmars Anwesenheit
zugegangen war. Man beschloß deshalb, alle seitherigen Bedenken
beseitigend, dessen schon längst vorbereitete Flucht gleich in der
kommenden Nacht zu bewerkstelligen. Nach Einbruch der Dämmerung fuhr
Vinzenz den als Hausierer verkleideten Flüchtling bis Schluchsee, von
wo dieser in der Morgenfrühe meist auf Waldpfaden bis in die Gegend von
Untereggingen wanderte, daselbst tagsüber sich in einem Gehölze verbarg
und in der Dunkelheit ungefährdet die nahegelegene schweizer Grenze
überschritt. Nach einer Zusammenkunft mit seinen Eltern folgte er der
dringenden Aufforderung verschiedener vertrauter Kampfgenossen zur
gemeinsamen Auswanderung nach den Vereinigten Staaten, wo, wie man
wisse, der Betätigung bürgerlicher Tugenden und jeglicher Art
freiheitlicher Entwicklung keine engherzigen Schranken gesteckt wären
wie in der morschen alten Welt.
Ottmars Eltern vermittelten in den ersten Jahren seiner Übersiedlung
öfters Botschaften von ihm an die Bewohner des Burghofs und von diesen
an ihn. So erfuhren sie, dass er sich in Chicago eine angesehene und
einträgliche Stellung als Rechtsanwalt errungen habe, während ihm
gemeldet wurde, dass Vinzenz in den Ehestand getreten sei. Als er dann
seinem Erstgeborenen den Namen seines unvergesslichen Abgottes Ottmar
beilegen wollte, übernahm dieser mit Freuden die Patenstelle. Später
geriet der Verkehr ins Stocken, weil Ottmars Vater nach dem
frühzeitigen Tode der Mutter in die Schweiz übersiedelte, um doch den
“Verbannten” noch zeitweilig an die Brust drücken zu können; Vinzenzens
und der Seinen Schreibkünste standen aber auf zu niederer Stufe, als
daß eine briefliche Verbindung sich erfolgreich hätte aufrecht erhalten
lassen. Doch gelangte noch die Nachricht nach Wiesneck, daß Ottmar, als
die Flamme des Bürgerkrieges zwischen den Nord- und Südstaaten
aufloderte, zur Verteidigung der guten Sache seines neuen Vaterlandes
die Waffen ergriffen habe, als wohlbestallter Oberst eines vornehmlich
aus Deutschen, zumeist gedienten Soldaten, gebildeten Regiments in den
Krieg gezogen sei, in zahlreichen siegreichen Schlachten seine
hervorragende militärische Begabung betätigt und Generalsrang errungen
habe.
Alls später die allgemeine Amnestie auch Ottmar die Rückkehr ins
Vaterland gestattete, machte er nur insofern davon Gebrauch, als er
einige norddeutsche Städte besuchte, wohin ihn Geschäfte führten. Zu
einem Besuche der engeren Heimat fehlte ihm die Neigung, weil mit dem
Wegzuge und späteren Tode seines Vaters die verwandtschaftlichen
Beziehungen daselbst erloschen, die alten Freunde aber meist in’s
extrem reaktionäre Lager übergegangen und ihm dadurch verleidet waren.
Die gewaltigen Ereignisse der 1866er und 1870er Kriege hatten überhaupt
das Interesse an den Begebenheiten der badischen Revolution, die
Erinnerung an deren Wortführer und Helden nahezu verwischt. Das jüngere
Geschlecht bezeichnete diese Geschehnisse vergleichsweise als einen
Sturm im Glase Wasser; es verstand nicht, für welche Utopien damals
unabhängige Leute Gut und Blut auf´s Spiel setzen mochten. Die älteren
Leute waren aber meist ganz froh, Mahner wie Ottmar, mit denen man
unter den neuzeitlichen Verhältnissen nichts mehr recht anzufangen
gewusst hätte, im Auslande, fern überm Weltmeere zu wissen und nichts
mehr von ihnen zu hören. Es gewährte eine gewisse Beruhigung, sie als
verschollen betrachten zu dürfen.
An einem schönen Sonntag Morgen im Sommer 1903 klomm ein bejahrter Herr
in bequemem Reiseanzuge bedächtigen Schrittes den Wiesnecker Burghügel
empor. Seine Bewegungen waren elastisch und man merkte seiner Gangart
an, daß er nicht seines Alters sondern nur der herrschenden Hitze wegen
seine Schritte verlangsamte. Diesen Eindruck ungetrübter Frische
bestätigte auch seine sonstige Erscheinung, das feurige Auge, die
lebhafte Farbe seines fein geschnittenen, von dichtem weißen Haare und
ebensolchem wohlgepflegten Barte umrahmten Gesichts. Als der Wanderer
den Gipfel erreicht hatte, hielt er kurze Umschau, dann schritt er
geradenwegs auf die Nordseite zu und verschwand in einem der
halbzerfallenen Kellergewölbe. Nach einer kleinen Weile sinnend und in
sich gekehrt zurückkommend, bemerkte er zuerst nicht die Anwesenheit
eines zweiten Besuchers. Erst als dieser, ein großer, breitschultriger
Mann in bäuerlicher Festkleidung, von ungefähr sich umwandte, gewahrte
ihn der erste Ankömmling, stutzte und rief: “Gehen denn hier die
Geister der Verstorbenen jetzt auch bei hellichtem Tage um? Das ist ja
der längst verblichene Burgbauer Mathias Gremelsbacher!“
“Nein,” scholl es schmunzelnd zurück, “der nicht, aber sein Großsohn
Ottmar. Man sagt freilich, daß ich ihm in Gestalt und Wesen gleiche.”
“Wie ein Ei dem andern, ja sogar die Stimme erinnert mich an jenen,” gab der Wanderer zurück.
“Aber, mit Verlaub, wer ist denn der Herr, der meinen Åhni so genau
kannte, der doch schon an die dreißig Jahre auf dem Kirchhof da unten
schläft?”
“Ja, ja, ich vergaß, daß die Zeiten vergehen, daß aus Kindern Leute
werden. War ich doch ein junger Springinsfeld, als ich von diesem Hügel
Abschied nahm, um mit Hilfe Ihres Vaters, meines lieben Vinzenz, mein
bedrohtes Leben über die schweizer Grenze in Sicherheit zu bringen.”
„Jesus Gott im Himmel, dann waren Sie am Ende gar der Freischarenführer . . .”
“Ottmar Lanz, Ihr Pate, der bin ich,” ergänzte dieser, tief bewegt die
ausgestreckte Hand des Bauern ergreifend und herzlich schüttelnd.
“Der Herr Ottmar, von dem der Vater selig so oft und gern erzählte und
den mich´s immer verlangt hat, kennen zu lernen. Schau, schau, wie
wunderbar, daß wir einander so begegnet sind. Aber, nichts für ungut,
es geht so langsam auf Mittag; will der Herr nicht mit einem Teller
Suppe und einem Stückle Kalbfleisch bei uns vor lieb nehmen? Ein bißle
frisch schlachten ist’s ja wohl, aber gut gemeint. Und die Bäuerin muss
noch Sträuble backen und einen guten Kaffee richten hernach. Aber erst
gibts einen braven Schluck Markgräfler 1900er. Ist´s recht so?”
“Nichts lieberes weiß ich mir ja als wieder einmal nach einem halben
Jahrhundert einzukehren im trauten alten Burghof und in früheren
Erinnerungen zu schwelgen, freudig und wehmütig zugleich, weil ich
allein übrig geblieben bin von der damaligen fröhlichen Tafelrunde.”
So einfach wie der Burgbauer sich die Sache gedacht hatte, ging es nun
freilich nicht mit dem Essen. Die Bäuerin wollte sich nicht nachsagen
lassen, daß es an etwas gefehlt habe, wenn es galt einen so
hervorragenden Gast zu bewirten und darum sollte ordentlich aufgetischt
werden. Da wurde noch ein Schinken aus dem Rauchfang geholt und zum
Glück waren auch ein paar Hühner schon geschlachtet und gerupft, weil
sie der Löwenwirt für Stadtleute auf den Abend bestellt hatte. Allein
der mochte diesmal vergeblich warten; der lief ihr nicht fort, während
der Fremde doch sobald nicht wiederkehren würde. Damit aber diesem die
Zeit nicht lange würde, hatte sie in der Laube Käse, Butter und Wecken
und eine Maßflasche vom Besten zurechtgesetzt, woran er sich mit dem
Bauern einstweilen gütlich tun sollte, während sie ihre Vorbereitungen
traf.
Otlmar Lanz war mit dieser Einleitung auch ganz zufrieden. Bald saß er
mit seinem Wirt in dem gaisblattumsponnenen Hüttchen - an sich
ebenfalls eine liebe Jugenderinnerung - und ließ sich von allen, die er
auf dem Hofe gekannt hatte und die mit diesem zusammenhingen berichten.
Die schmucke Tochter und der Sohn wurden vorgestellt, letzterer in
Urlauberuniform der Gardegrenadiere, aus die der Vater mit besonderem
Stolze und der Bemerkung hindeutete, daß er selbst den siebziger Krieg
im gleichen Regimente mitgemacht habe.
Unter vielen anderen Dingen kam Ottmar auch auf das merkwürdige
Erlebnis in der Höhle am Tage vor Bewerkstelligung seiner Flucht zu
sprechen und erkundigte sich, was dieselbe denn für einen endgütigen
Ausgang genommen habe. Da berichtete der Bauer folgendes: Bald nach
Erlass der allgemeinen Anmestie war ein neuer Pfarrer nach Buchenbach
versetzt worden, ein frischer junger Mann von vielseitigem Wissen, der
besonderes Interesse an der Vergangenheit nahm und auf Wiesneck
sozusagen jeden Stein untersuchte. Den Erzählungen vom Vater Vinzenz,
wie sie diesem von seiner Großmutter überliefert worden, lauschte der
Geistliche mit großer Aufmerksamkeit, insbesondere weil derartige
Überlieferungen, wie er erläuterte, die vorhandenen schriftlichen
Aufzeichnungen manchmal sehr glücklich ergänzten. Da meinte Vinzenz, er
sei wohl in der Lage, dem Herrn Pfarrer noch eine ganz andere, recht
augenfällige Aufklärung über ehemalige Begebenheiten auf der Burg zu
verschaffen, und unter Mitwirkung desselben getraute er sich auch
nochmals in den Höllenrachen im Burghügel schaurigen Angedenkens zu
steigen. Der verschüttete Zugang zur Höhle wurde also aufgebrochen, die
innere Türe zu der Nische geöffnet und die Leichen darin noch in
gleichem Zustande und in gleicher Lage wie im Jahre 1849 vorgefunden.
Der geistliche Herr legte mit Hand an, um die Körper ans Tageslicht zu
befördern. Sachkundig untersuchte er die Rüstung des Ritters und
entdeckte darauf das Thurnersche Wappen. Dies ließ ihm keinen Zweifel,
daß man es mit Junker Kuno und seiner Gattin Anna zu tun habe, die seit
Zerstörung der Burg spurlos verschwunden waren, was daraus erhelle, daß
zu ihrem Gedächtnis der Bruder des Verschollenen eine Seelenmesse
gestiftet habe, welche noch jetzt alljährlich am Jahrestage jenes
Ereignisses in der Buchenbacher Kirche gelesen werde. Die Leichname
wurden unter Teilnahme der Bewohner sämtlicher umliegenden Ortschaften
auf dem Friedhofe feierlich beigesetzt. “Sie haben lange harren müssen,
bis sie in geweihter Erde ruhten; Gott sei ihren armen Seelen gnädig!”
schloß der Bauer.
Lange und gründlich wie die Vorbereitungen dauerte das Mittagsmahl
selbst, und die Sonne stand schon tief, als man die Laube wieder
aufsuchte, um den Kaffee mit unvermeidlichem Kuchen einzunehmen. Hier
erst gelangte der Gast zu einer freilich äußerst gedrängten Darlegung
seiner Erlebnisse seit der Flucht von Wiesneck. Er schloß mit einer
Schilderung seiner Eindrücke bei der Rückkehr ins Vaterland und über
die Wandlungen, welche sich in diesem vollzogen hatten und die sich in
dem veränderten Auftreten der Deutschen im Auslande wiederspiegelten.
“Seit dem 1870er Kriege,” ergänzte er, “hatte sich in dem Wesen der
deutschen Neuankömmlinge in den Vereinigten Staaten eine auffallende
Veränderung vollzogen. Sie offenbarten ein ihnen früher fremdes
Selbstbewußtsein, hervorgerufen durch ihre Mitwirkung an den großen
Erfolgen und Errungenschaften, durch die Genugtuung, dem alten
Erbfeinde endlich einmal heimgezahlt zu haben, was er uns seit des
ländergierigen Sonnenkönigs fluchwürdigen Übergriffen Böses angetan
hatte. Eine Genugtuung, um so begeisternder, als sie ihren Abschluß
fand in Wiederaufrichtung des von jenem Despoten mit Füßen getretenen
Deutschen Reichs im Schloße zu Versailles, an der Stätte, wo ehemals
über die Geschicke der Völker entschieden wurde, welche Ludwigs Gier
oder Grimm gereizt hatten. Mit den Erfolgen der deutschen Waffen, mit
der dauernden Einigung der deutschen Stämme ging Hand in Hand der nie
geahntes Aufschwung der deutschen Industrie, des Handels und der
Schiffahrt. Mit einer mehr neidischen als anerkennenden Bewunderung
schaute das Ausland auf diese Leistungen unsres Volks, welches ebenso
gut verstand das Erz seiner heimischen Hüttenwerke, da wo es die Not
gebot, zu scharfen Schwertern, zu zielsicheren Geschossen zu
verarbeiten, als es nach Friedensschluß zu Werkzeugen friedlichen
Wettkampfes auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit zu gestalten.
Wer hat wohl diesen Errungenschaften freudiger zugejauchzt als wir
Kämpfer aus der Zeit der badischen Schilderhebung? War denn nicht
nahezu alles erreicht, was wir erstrebt, wenn auch durch andere Mittel
und in vielen Beziehungen anders in der Wirkung: ein einiges, auch ohne
Zugehörigkeit Österreichs mächtiges Reich mit einem Kaiser an der
Spitze, mit einer Verfassung, aufgebaut auf der im 49er Parlament
ausgearbeiteten, mit Volksvertretung, Mitwirkung der Bürger an
Gesetzgebung und Verwaltung, mit Preßfreiheit, allgemeiner Wehrpflicht
usw? Und ist denn nicht im besonderen mein Jugendtraum in Erfüllung
gegangen, die durch jenen Sonnenkönig verräterisch geraubten Provinzen
dem alten Vaterlande wieder einzuverleiben? Die Strahlen der dort
hinter den Vogesen niedersinkenden Sonnenscheibe vergolden deutsche
Berge, hüllen eine fruchtbare deutsche Ebene in wallenden Purpurmantel!
Aber welcher Umschwung der Anschauungen hat sich auch in dem
verwichenen halben Jahrhundert vollzogen, namentlich seit den alle alte
Fesseln sprengenden, den kleinlichen Nachbarhader der einzelnen
deutschen Völkerschaften wegspülenden Wirkungen des gemeinsamen Kampfs
gegen einen übermütigen Feind! Im Reichstag, in öffentlichen
Versammlungen, in Wort und Schrift bespricht man ungeahndet Dinge,
deren auch nur andeutungsweise Erwähnung in meiner Knabenzeit (wenn sie
sich überhaupt aus dem engsten Kreise der Vertrautheit herauswagten)
als Hochverrat gebrandmarkt und bestraft worden wären.
Ein solcher Hochverräter, Karl Schurz, verkehrte freundschaftlich mit
Bismarck, meinem Kameraden, dem braven Max Dortu, den man seinerzeit
auf dem Wiehre-Friedhofe erschoß und verscharrte wie einen Hund, durfte
ebendaselbst ein ehrendes Denkmal gesetzt werden - ich sah es gestern -
mit der erschütternden Inschrift: ,Hier ruht Maximilian Dortu aus
Potsdam, 23 Jahre alt, erschossen den 14. August 1849. Mit ihm seine
Eltern, deren einzige Freude und Hoffnung er war.”
Tief ergriffen schwieg der Erzähler, um nach einigen Minuten gepreßt
fortzufahren: “Unsere Ziele waren die gleichen wie die erreichten,
allein wir rechneten nicht mit den Verhältnissen, mit der
Zersplitterung der deutschen Stämme, mit dem Fehlen eines gemeinsamen
Mittelpunktes, eines oder einiger allgemein anerkannter Führer. Darum
blieb der Erfolg aus, und mit ihm, der zumeist das Urteil der Welt
bestimmt, verloren wir die Sympathien, die uns sonst sicher gewesen
wären. Die Puritaner durften Karl I., die Franzosen Ludwig XVI.
enthaupten, die Nordamerikaner das englische, die Griechen das
türkische Joch abschütteln. Sie errangen sich Erfolg und erlangten
dadurch ihre Freiheit sowie die Anerkennung der Mächte. Die Bezeichnung
"Rebellen” verschwand gar bald; sie blieb nur an uns und denjenigen
Völkern haften, deren Erhebungen nicht siegreich vertiefen.
Doch Freund Burgbauer, es ist hohe Zeit zum Scheiden, wenn ich noch
meinen Zug erreichen will. Darum Gott befohlen und tausend Dank für
Eure treue Anhänglichkeit, für Eure vortreffliche Bewirtung. Wenn einem
von Euch die alte Heimat zu enge wird, so kommt hinüber, wo Ihr mich zu
finden wisst. Allein überlegt es Euch genau, ehe Ihr diesen Schritt
unternehmt, denn so behaglich und traulich wie hier wird es einem in
der neuen Welt niemals. Wären nicht alle Fäden zerrissen, welche mich
mit hier verbinden, während sie mich nach drüben ziehen, so bliebe ich
dauernd im lieben Dreisamtale.”
In einem “Berner Wägelein”, demjenigen täuschend ähnlich, in welchem
vor einem halben Jahrhundert Vinzenz den Flüchtling in aller
Heimlichkeit befördert hatte, fuhren ihn nun voll stolzen Bewußtseins
des Jugendfreundes Sohn und Enkel zur Station Himmelreich. Nach
nochmaligem herzlichen Abschied bestieg Ottmar Lanz den Zug, der bald
den Augen der Zurückbleibenden entschwand.
Der Reisende aber blickte rückwärts dahin, wo im blassen Mondlichte der
Wiesnecker Burghügel aufragte, gekrönt von dem düster blickenden
Stumpfe des Wartturmes.
“Unverändert, wie ich in meiner Kindheit frühesten Tagen dich kennen
lernte, wie dein Bild sich mir einprägte, als ich, ein heimatloser
Flüchtling, von dir schied, schaust du nach mehr als fünf Jahrzehnten
in die Weite, “ murmelte Ottmar vor sich hin. “Was gilt aber deinen
unverwüstlichen Quadern, deinem zu unzerstörbarem Steine gewordenen
Mörtel eine derartige Spanne Zeit, welche Menschen eine Ewigkeit dünkt!
Geschlecht auf Geschlecht hast du kommen und gehen sehen seit
Jahrhunderten. Weitere Jahrhunderte” wirst du überdauern, wenn unsere
Gebeine längst vermodert sind. Wie sich dann wohl die Dinge hier herum
gestaltet haben werden? Einst war es meine höchste Wonne, an alten
Zeugen die Vergangenheit zu erforschen; jetzt möchte ich die Zukunft
ergründen, möchte mit Chidher dem Alten ausrufen:
Und aber nach fünfhundert Jahren
Will ich desselbigen Weges fahren”
Ende.
Rezension: Karl Borromäus Heinrich
in Süddeutsche Monatshefte 1908, Jg 05-2, Seite 99-100
Es wird uns aus niederen, mittleren und höheren Schulen oft gesagt, daß die Geschichte eine große Lehrmeisterin sei.
Aber unsere jungen Leute wachsen trotzdem aus ohne jede Tradition; von
keinerlei Pietät beschwert, ergeben sie sich bedingungslos den modernen
Ideen. Alle haben sie das selbstbewußte Gefühl, als ob das eigentliche
Menschentum eben erst jetzt und mit ihnen begonnen habe.
Diese kulturlose Feindseligkeit gegen Ueberlieferung und Geschichte
verschuldet zum großen Teil der Geschichtsunterricht auf unseren
Schulen.
Leider ist dies nicht einmal ein schriftstellerisches Paradoxon, sondern ein Erlebnis, das heute viele gemeinsam haben.
Man lernt nur Daten und Zahlen; und man erfährt nichts von Zuständen, vom Pathos, das jeweils einem Jahrhundert innewohnte.
Die Methode ist arithmetisch, kulturlos, und kann nicht zur Kultur
erziehen, denn mit Zahlen kann man die Vergangenheit nicht zum Leben
erwecken.
Nun hat R. Finder etwas gefunden, wonach unsere jungen Leute auf den
Schulen umsonst suchen: nämlich das Leben der Vergangenheit.
Ein kleines Tal und ein kleiner Berg. Aber die Menschen sind noch kleiner.
Finder sagt in der Vorrede, dass ihm die Geschichte des Ganzen wichtiger war als die der einzelnen Wesen.
Jener kleine Berg und jenes kleine Tal leben noch heute und geben
Zeugnis. Aber die Pfahlbewohner, die Römer, die Burgherren und Bauern
leben nicht mehr, oder höchstens noch durch jene historische
Oertlichkeit.
Die Erzählung gibt einen lebendigen Begriff von den Zeiten, die über
den stillen Ort hingezogen sind. Manchmal glaubt man eine leise, feine
Ironie zu spüren: vielleicht liegt sie darin, daß der Erzähler, dem
hier eine individualistische Ausarbeitung der menschlichen Charaktere
sehr ferne lag, das Typische und Gesellschaftliche der beschriebenen
Menschen so lebhaft unterstrichen, dagegen das Persönliche gering
angeschlagen hat; daher diese Menschen dann bei ihren persönlichen
Erlebnissen recht harm- und hilflos dastehen, sogar wenn sie große
Uebeltäter sind. Es berührt übrigens sehr wohltuend, jetzt, wo alle von
der menschlichen Psychologie ausgehen, wieder einen Schriftsteller der
Seele ganzer Zeiten nachspüren zusehen. Die Sprache seiner
Beobachtungen ist demgemäß sehr ruhig, aber gewandt, im wahren Sinne
des Wortes, indem sie sich - ohne dabei in Sprachfexerei zu verfallen -
den einzelnen Zeitläuften anpaßt und sich mit ihnen wandelt.
Die jeweilige Handlung, die nicht durch sich selbst, sondern durch
ihren größeren geschichtlichen Zusammenhang Bedeutung erhalten dürfte,
ist bei Pfahlbewohnern, Römern und Germanen, Burgherren und Bauern fast
die gleiche. Sie ist vielleicht sogar dürftig.
Aber man muß die Absicht des Verfassers ehren, der dies selbst
zugesteht, und wohl zeigen wollte, daß bei aller Verschiedenheit der
äußeren Bedingungen das innerste Wesen der kurzlebigen Menschen während
der letzten paar Jahrtausende gleich geblieben ist. Die Verwandtschaft
mit den vergangenen Menschengeschlechtern fühlen lernen, scheint ja für
den Nachkömmling vor allem nötig, wenn er in den Kreis der Kultur
eintreten will.
Finders Buch ist für Lernende von großem Nutzen. Der Verfasser greift
auf die Tradition zurück und verzichtet auf die Arithmetik.
Wenn manches an dem Buche sehr einfach erscheinen mag, schadet dies
nicht: denn es ist besser, einfach als traditionslos zu sein.