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Die Wiesneck — ein mittelalterliches Lehen des Klosters St.Gallen?
von Werner Vogler
aus: Kelten und Alemannen im Dreisamtal - Beiträge zur Geschichte des Zartener Beckns
Konkordia Verlag Bühl 1983

In einem in Band 114 des Stiftsarchivs St.Gallen aus der Zeit um 1500 kopial überlieferten Verzeichnis der Ministerialen, Burglehen und Burgen des Klosters St.Gallen1 finden sich als Lehen des Gallusstiftes auch die Festen Möggingen2, Wiesneck bei Freiburgim Breisgau3, Schneeburg4 sowie Gutenburg bei Tiengen5, letztere als halbes Lehen. Die im Gebiet nördlich des Rheines im heutigen Baden-Württemberg gelegenen Burgen stehen in dieser Reihenfolge:

Dis nachgeschribne vestinen sind lehen vom gotzhus
....
die vesti Meckingen,
die vesti Wissnegk bi Friburg,
die vesti Schneburg vorm Schwartzwald,
die vesti Gütenburg bi Tüngen, halb
....
Das Verzeichnis, das mehrere Dutzend Namen umfaßt, ist im großen und ganzen geographisch aufgebaut, wobei im allgemeinen vom st.gallischen Rheintal ausgehend nach Westen fortgeschritten wird. Den Ministerialen folgen die Lehensburgen, schließlich des Klosters eigene Burgen. Ohne Zweifel ist es möglich, daß sich beim Abschreiben gewisse Unkorrektheiten eingeschlichen haben könnten. Auch ist die rein geographische Reihenfolge nicht immer ganz folgerichtig. Einzelne Ministerialengeschlechter eindeutig zu identifizieren, bereitet einige Mühe. Doch ein Vergleich mit ähnlichen Verzeichnissen des 15. und 16. Jahrhunderts spricht zugunsten der Qualität und Zuverlässigkeit des vorliegenden Kataloges, auch wenn in manchen Fällen, wie z. B. bei Regensberg (heute Kt. Zürich) oder Rapperswil (heute Kt. St.Gallen), die formalen Eigentumsverhältnisse im Laufe des Mittelalters in Vergessenheit geraten waren oder zumindest kaum noch eine wirkliche Bedeutung, hatten. Im allgemeinen entspricht die Liste indes den aus anderen Quellen gewonnenen Ergebnissen moderner kritischer Geschichtsforschung.

Der Kopist der Liste ist gleich wie die ungefähre Zeit des Eintrags bekannt. JOHANNES HÄNE6 und PLACID BÜTLER
7 haben übereinstimmend bereits kurz nach der Jahrhundertwende den als Wiler Kanzleivorsteher und Klosterbeamten gut faßbaren Ulrich Huber, genannt Rüegger, als Schreiber dieses interessanten Verzeichnisses identifizieren können. Als äbtlicher Beamter war er im st.gallischen Residenzstädtchen Wil im Thurgau auch während des Schwaben bzw. Schweizerkriegs von 1499 administrativ und organisatorisch tätig.

Eine eindeutige Datierung des Verzeichnisses fällt indes nicht leicht. Aus den sprachlichen Formen, die im allgemeinen der Zeit um 1500 entsprechen, kann keine genauere Datierung gewagt werden. Hingegen führt uns glücklicherweise eine von mir entdeckte Stelle einer Urkunde des Stiftsarchivs aus dem Jahre 1506 weiter, welche das im Zürcher Oberland beheimatete bekannte Geschlecht der Landenberg als St.Galler Ministerialen nachzuweisen versucht8. In dem vom bedeutenden Stadtsanktgaller Juristen und Notar Augustin Fechter9 beglaubigten Instrument sind nicht nur zwei Urkunden über die St.Galler Ministerialität der Landenberg aus dem Jahre 1443 inseriert, sondern es wird darin auch unser Verzeichnis unmißverständlich genannt als Beweis dafür, daß die Landenberg St.Galler Ministerialen seien. Was für unseren Zusammenhang von Bedeutung werden kann, ist der Hinweis darauf, daß die Liste der Ministerialen und Burgen in einem mehr als zweihundert Jahre alten Buch eingetragen sei. Wir dürfen die quellenkritischen Kenntnisse eines bestens ausgewiesenen und ausgebildeten Notars des 16. Jahrhunderts, der sich zudem täglich mit ähnlichen Problemen herumzuschlagen hatte, nicht unterschätzen, auch wenn die genaue Altersangabe vielleicht nicht wörtlich zu nehmen ist.

Stiftsarchiv St.Gallen Bd. 114, fol. 152r.

Immerhin scheint es möglich, den Beweis zu erbringen, daß es sich bei diesem Verzeichnis nicht um die Abschrift Rüeggers, sondern um dessen Vorlage handelt. Denn nur gerade zehn Jahre nach dem Eintrag der Kopie eines Textes hätte wohl auch ein Notar des 16. Jahrhunderts von der Kopie nicht behaupten können, es handle sich um einen mehr als 200 Jahre alten Eintrag. Und dies ist um so weniger wahrscheinlich, als der Notar, der später Stadtschreiber und enger Mitarbeiter Vadians wurde, auf Grundseiner Funktion in der Stadt St.Gallen wohl nicht primär darauf aus gewesen sein wird, die Interessen der mit der Stadt in starken Spannungen lebenden Abtei zu vertreten. Im übrigen steht am Ende von Rüeggers Kopie ausdrücklich, er habe den Text aus einem „alten büch“ abgeschrieben.

Daher muß ernsthaft mit der Möglichkeit gerechnet werden, die Liste sei tatsächlich nicht erst um 1500 entstanden, sondern damals schon etwa 200 Jahre alt gewesen. Eine Analyse der einzelnen Namen, wie sie an anderer Stelle unternommen wird10, weist dennauch in die Zeit um 1300, in die Regierungszeit des tatkräftigen Abtes Wilhelm von Montfort (1281 - 1301). Einige der im Katalog aufgeführten Geschlechter starben bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts aus. Sie lassen sich aber noch mehrfach in Urkunden des 13. Jahrhunderts nachweisen.Vielleicht hatte Fechter aus Urkunden, die datiert waren und im gleichen Band standen, das Alter der Liste erschlossen. Gewiß gibt sie einige schwierige Identifizierungsprobleme auf, die sich nicht mehr in allen Fällen eindeutig lösen lassen. Es ist auch nicht auszuschließen, daß beim Kopieren Ergänzungen und Veränderungen vorgenommen worden sind.

Was nun die st.gallischen Burgen nördlich des Hochrheins angeht, so können ihre Schicksale als st.gallische Lehen an Hand der Urkunden wenigstens teilweise verfolgt werden11. Im Breisgau zumal hatte St.Gallen seit früher Zeit und bis zur Aufhebung des Klosters Besitz und Rechte. Während es über die st.gallischen Rechte an der Schneeburg im Bereich des Schönbergs Nachrichten gibt12, ist dies, soweit bisher bekannt, bei der Wiesneck am Eingang ins Wagensteigtal nicht der Fall. Gleichwohl muß damitgerechnet werden, daß die Grafen von Haigerloch die Burg Wiesneck vom Kloster St.Gallen zu Lehen hatten. Dafür sprechen nicht zuletzt auch die St.Galler Rechte im Wagensteigtal, über die in der Urkunde von 1125 Bestimmungen getroffen wurden13.


1 Stiftsarchiv St.Gallen, Bd. 114, fol. 15lr bis 152r. — Eine Edition mit Einleitung und Identifizierungsversuchen der einzelnen Namen erscheint in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 76, 1982 (im Druck). Vgl. auch die dort zitierte Literatur.

2 Nordöstlich von Radolfzell. Zur Lokalisierung vgl. Burgenkarte der Schweiz, Blatt 2, Wabern1978, S. 110.

3 Zur Lokalisierung: Burgenkarte der Schweiz, Blatt 1, Wabern 1976, S. 96.

4 Zur Lokalisierung: Burgenkarte der Schweiz, Blatt 1, Wabern 1976. S. 94. Die Burg war einst Sitz der Herrschaft Ebringen. Sie liegt unmittelbar östlich von Ebringen. Vgl. des P. ILDE—PHONS VON ARX Geschichte der Herrschaft Ebringen im Jahre 1792 aus alten Urkundengezogen, dem Drucke übergeben von JOSEPH BOOZ, derzeitigem Pfarrer zu Ebringen, Freiburg i. Br. 1860.

5 Zur Lokalisierung: Burgenkarte der Schweiz, Blatt 2, Wabern 1978, S. 102. Vgl. auch HELMUT MAURER, Die Rolle der Burg in der hochmittelalterlichen Verfassungsgeschichte der Landschaften zwischen Bodensee und Schwarzwald, in: Die Burgen im deutschen Sprachraum, Bd. 2, Sigmaringen 1976, S. 191 —228, bes. S. 210, 223 —226.

6 J. H., Zur Geschichte des Schwabenkriegs, in: Schriften des Vereins zur Geschichte desBodensees 27, 1898, S. 7 19. Vgl. auch Historischbiographisches Lexikon der Schweiz,Bd. 5, S. 739.

7 P. B., Zur Wiler Chronik des Schwabenkriegs, in Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte Bd. 34, 1914, S. 258-270.

8 Der Text der Urkunde ist im Anhang meiner in Anm. 1 zitierten Arbeit erstmals ediert.

9 Zu FECHTER vgl. PAUL STAERKLE, Beiträge zur spätmittelalterlichen Bildungsgeschichte St.Gallens, St.Gallen 1939 (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte Bd. 40), Nr. 413,S. 234. Vgl. auch HBLS Bd. 3, S. 127.

10 Vgl. Anm. 1. Diese Datierung trifft sich auch mit der von I. v. ARX, Geschichten des Kantons St.Gallen, Bd. 1, St.Gallen 1810, S. 482.

11 So etwa im Fall von Möggingen; vgl. Möggingen 860 - 1960, hrsg. von HERBERT BERNER,Singen 1960, S. 82 (Joseph Schippe). Ähnliches gilt für die Gutenburg (H. MAURER, wieAnm. 5). — st.gallische Rechte gingen übrigens von den Herzögen von Teck an die Grafenvon Hohenberg über, die nach jenen das st.gallische Schenkenamt innehatten. (Über die st.gallischen Erzämter vgl. I. v. ARX, wie Anm. 10, S. 320 f. sowie ERWIN POESCHEL, Die Kunstdenkmäler des Kantons St.Gallen, Bd. III, Basel 1961, S. 340 f. Vgl. außerdem auch den Beitrag St.Gallen von WERNER VOGLER zur Helvetia Sacra, Bd.  Benediktinerklöster [Manuskript]). An dieses st.gallische Schenkenamt gehörte nach dem Zeugnis unserer Liste die Feste Wasseneck nördlich von Rottweil mit Kirchensätzen und Dörfern. Auch die Stadt Obernberg wird darin als st.gallisches Eigen genannt. Es ergibt sich aus dem Zusammenhang, daß diese Rechtsansprüche, die IRENE GRÜNDER bestätigt, nicht unumstritten waren und im Spätmittelalter vielleicht kaum noch reale Bedeutung hatten. (Vgl. IRENE GRÜNDER, Studien zur Geschichte der Herrschaft Teck, Stuttgart 1963 [Schriften zur südwestdeutschenLandeskunde Bd. 1], bes. S. 1821).

12 Vgl. dazu den Beitrag von O. P. CLAVADETSCHER, in diesem Band, mit Nachweisen.

13 Vgl. im Anhang Urkunde Nr. 3 und die Beiträge von K. SCHMID und H. OTT, in diesem Band.