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Stegen - wie ein Dorf sich verändert
Einheimische und Neubürger erzählen der Fernsehjournalistin Tamara Spitzing, wie sie den Strukturwandel in der Gemeinde erlebten.
Badische Zeitung 29 August 2008

STEGEN. Die Dörfer in Baden-Württemberg befinden sich seit den 1970er ‚Jahren in einem tief greifenden Wandlungsprozess. Die Veränderungen im Alltag der Menschen, in ihren Wirtschaftsweisen und in ihrer Kultur am Beispiel eines südbadischen Ortes darzustellen, war das Anliegen der Freiburger Journalistin Tamara Spitzing. Sie wählte aus einer Reihe von Orten Stegen aus, weil sich hier insbesondere durch die Nähe zu Freiburg der Wandel wegen der intensiven Stadt-Land-Beziehungen am deutlichsten niederschlug.    

Der Fernsehfilm, der in der SWR-Reihe „Landesschau unterwegs“ gezeigt wird, Träge den Titel „Stadtflucht und Dorf nähe", Die Vorpremiere, die Bürgermeisterstellvertreter Siegfried Thiel, mit Dank an die Filmemacherin und an die SWR. Redaktion, vertreten durch Sarah Palmer, einleitete, fand im Stegener Vereinshaus vor zahlreich. vertretenem Publikum statt. Die Filmaufnahmen hatten drei Monate gedauert; sie erbrachten nach zehn Drehtagen Dokumentarmaterial für sieben Stunden, aus dem der 30 minütige Beitrag schließlich entstand. Es gab Beifall für eine gelungene Lokalstudie über die Frage „Was ist aus unseren Dörfern in den letzten Jahrzehnten geworden?“

Seit 1974 bilden Stegen und Wittental eine Gemeinde, bevor sich Stegen und Eschbach (Anfang 1975) unter dem Einfluss der Baden-württembergischen Gemeindereform zusammenschlossen. Es war keine kommunalpolitische Liebesheirat, aber inzwischen sind die gegen seitigen Vorbehalte verschwunden. Im Mittelpunkt des Film stehen Menschen, die In Stegen, Eschbach oder Wittental aufgewachsen sind, und Menschen, die aus der nahen Stadt, aus der Region oder aus einem anderen Bundesland dorthin gezogen sind. Der Film stellt immer wieder die Alteingesessenen und die Neubürger gegenüber, fragt nach dem Wandel ihrer Lebensbedingungen und nach den Problemen, die sich zwangsläufig aus dem neuen Miteinander ergaben. Aus den zahlreichen Interviews im Film und den Haus- und Hofbegehungen mit der Kamera wird gezeigt, wie der Kreis der einheimischen Bevölkerung aus traditionellen Berufen (Landwirtschaft, Handwerk, Gewerbe und Handel) durch den Zuzug Auswärtiger von nah und fern, tätig in neuen Berufszweigen wie der Computerbranche, erweitert wurde. 

Es wird auch gezeigt, wie es zu einer verändernden Kettenreaktion kam: In Stegen entstand mit dem Dorfplatz ein neues Ortszentrum; asphaltierte Zufahrten erleichterten den Bauern den täglichen Arbeitsweg; Menschen aus unterschiedlichen Berufen, Regionen und mit unterschiedlichen Mentalitäten kamen sich als Grundstücksnachbarn und Mitbürger näher. Die Landwirtschaft erlebte einen tiefgehenden Strukturwandel, der innerhalb von drei Jahrzehnten von den zahlreichen Vollerwerbshöfen nur noch wenige Nebenerwerbswirtschaften übrig ließ.

Bauern fanden im nahen Freiburg eine neue Arbeit in anderen Berufszweigen. Traditionelle Einrichtungen wie Gasthäuser und Tante-Emma-Läden gingen der einheimischen Bevölkerung verloren, bevor sie sich an Neugründungen im neuen Stil und an anderer Stelle gewöhnt hatten.  Der Wandel zur Großgemeinde brachte den alten wie den neuen Einwohnern nicht nur gewöhnungsbedürftige Umstände, sondern auch willkommene Vorteile: Junge Familien bekamen Wohn-und Lebensraum fern vom „Trubel der Stadt“. In der Schule fand die Integration der zu gezogenen Kinder in die jugendliche Dorfgemeinschaft schnell und reibungslos statt 

Das Leben auf den Höfen wurde vor allem für die Frauen leichter, speziell durch die Unterstützung der „Dorfhelferinnen“ in besonderen Familiensituationen. Nebenerwerbsbauern öffneten ihre Höfe für Erholungssuchende durch die Einrichtung von Pensionswirtschaften („Urlaub auf dem Bauernhof‘). Zahlreiche neue Vereine entstanden. Und nicht zuletzt: Die katholische und die evangelische Pfarrei begannen, ein ökumenisches Gemeindeleben aufzubauen. 

Was den Film sehenswert macht, sind die Menschen, die in Ihren unterschiedlichen Lebenslagen dargestellt werden. Tamara Spitzing kommt ihnen in jeder Szene mit deutlichem Einfühlungsvermögen nahe, so dass sie ohne Scheu vor der Kamera authentisch wirken und ungekünstelt ihre Meinung pro und contra Eingemeindung und neuem Gemeinschaftsleben sagen. Aufs Ganze gesehen entstand In Stegen aus ganz verschiedenen Bevölkerungsgruppen eine neue Gemeinschaft. Der Verlust an Traditionellem und der Gewinn an Modernität halten sich die Waage. 

Die Frage nach den Zukunftsaussichten des mitunter mühevoll und gewiss auch kontrovers erreichten Zustands von heute lässt sich nicht zweifelsfrei beantworten. Sicher ist nur, dass der dörfliche Wandel weitergeht und sich unter die Zufriedenheit mit dem Erreichten zuweilen die Sehnsucht nach früheren Zeiten mischt, wie sie Nebenerwerbsbauer Thomas Rombach aus Eschbach ausdrückte: „Es war auch eine schöne Zeit“.       

Film: Das SWR-Fernsehen strahlt den Film am Samstag, 30. August, von 19.15 bis 19.45 Uhr aus; Wiederholung am 1. September  um 12.30 Uhr. 


Badische Zeitung
Ulrich Kluge