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SICKINGEN

1.
1495 hatte man, um den ewigen Kleinkrieg aus der Welt zu schaffen, auf dem Reichstag zu Worms den ewigen Landfrieden eingesetzt und als sein Organ das Reichskammergericht gegründet. Der Kleinkrieg währte länger. Man kurierte auf Symptome hin; das Übel saß tiefer, war konstitutionell und überhaupt nicht mehr zu beseitigen.
Die Territorialfürsten stießen bei dem Bestreben, ihr Gebiet abzurunden, die volle Regierungsgewalt zu erlangen, auf die Städte und die Ritter. Die Stadt verlor mit der Freiheit nicht die Möglichkeit der materiellen Blüte. Der kleine Ritter mußte parieren, wenn er sich halten wollte. Er mußte zu Hofe gehn, wo Pfründen und Ämter zu haben waren; die Umstände brachen seinen Trotz. Der Pachtzins ernährte ihn nicht mehr, seitdem seine Ansprüche an die Lebenshaltung stiegen. Auch der Krieg ernährte ihn nicht mehr, der gepanzerte Ritter trat hinter den Landsknecht zurück.
Sickingen suchte sich in einer anderen Weise anzupassen. Er begriff mit dem Instinkt eines Unternehmers sein Jahrhundert, und eine Zeitlang nahm er einen verblüffenden Aufstieg, bis ihm die Fürsten wie einer Schlange den Kopf zertraten.
Er verwirtschaftlichte den Krieg. Wenn man vor Gericht gehn wollte, war ein Advokat da - warum nicht für andere, die eine Fehde auszutragen hatten, ein Fachmann, der Knechte, Waffen, Geschütz, Erfahrung und Energie verkaufte? Er schuf geradezu ein künstliches Angebot und erhöhte so die Nachfrage. Natürlich ist das bewußter, moderner gesagt, als er es empfinden mochte; aber der Sache nach richtig.
Subjektiv spann er um den höchst materiellen Kern idealistische Vorstellungen, ehrgeizige Träume, wie jeder lebende Mensch. Er war ein Ritter, der zwei großartige Festen und Anteile an einigen anderen Burgen besaß: er konnte am Ende selber Territorialfürst werden oder gar noch mehr. Aber es war zuviel System, zuviel Mechanik in seinem Unternehmen, und er hatte es zu eilig. Das organische Wachstum solcher Gebilde verläuft anders.
Es war ein Spieler mit einem gelassenen, zuversichtlichen Temperament. Man könnte ihn sich in einem Direktorzimmer denken, ewig die halberloschene Zigarre im Mund. Sicher hatte er eine gewisse Jovialität und war immer bereit, sich etwas auseinandersetzen zu lassen. Leuchtete es ihm ein, so machte er mit, warum nicht, ohne darüber das kalte Blut zu verlieren.

2.
Die Stammburg der Sickingen liegt im Kraichgau unweit von Bretten in Baden. Durch Heiraten und pfälzische Belehnung kam die Familie in den Besitz der Burg Landstuhl bei Kaiserslautern und der Ebernburg bei Kreuznach. Auf der Ebernburg wurde Franz von Sickingen 1481 geboren, als einziger Sohn; seine Schwestern gingen ins Kloster.
Sickingen Man erzog ihn rittermäßig, nicht gelehrt. Ob er wie sein Vetter Götz von Berlichingen Lehrling bei einem Ritter, ››Bub”, war, wird nicht berichtet. 1495 zeigte der Vater dem Sohn den Reichstag zu Worms, dann machte er allein eine Pilgerfahrt nach Jerusalem. 1503 brach wegen des Erbes des Herzogs von Bayern-Landshut Krieg zwischen Bayern-München und Kurpfalz aus. Das Land büßte es, die Sickingen waren auch dabei.
Der Vater hinterließ sieben Rosse, ein paar Rüstungen, Bücher, Schmuckstücke, nicht viel. Sickingen war nun dreiundzwanzig. Bis 1515 mehrte er das Erbe bescheiden. Er ließ bei der Ebernburg Erz schürfen, erwarb auch anderswo mit gutem Rechenverstand Konzessionen, betrieb zum Beispiel ein Quecksilberbergwerk. Den Überschuß steckte er in seine Burgen; dieses Kapital sollte sich ungemein verzinsen. Aus der Ebernburg machte er eine stattliche Feste mit drei Wällen und Vorwerken. Die Bauarbeiten überwachte seine Frau, Hedwig von Flersheim, deren Bruder, später Bischof von Speyer, in der nach ihm benannten Chronik die Taten des Schwagers beschrieben hat. Sickingen pflegte die Beziehungen zum Fürsten in Heidelberg, war auch mehrfacher kurpfälzischer Amtmann - ein Ausgleich für Darlehen, die mit zehn Prozent hätten verzinst werden müssen. Der Amtmann durfte mit seinen Reisigen durchs Land ziehn. Mainz zahlte ihm ebenfalls für Waffendienst eine Pension. Wir kennen das alles vom Vater Huttens her. Sickingen war als Ganerbe an mehreren Burgen beteiligt, bis hinunter nach Zabern. Noch 1514 schlossen 32 Ganerben einen Vertrag über Steinkallenfels.
Man erzog ihn rittermäßig, nicht gelehrt. Ob er wie sein Vetter Götz von Berlichingen Lehrling bei einem Ritter, ››Bub”, war, wird nicht berichtet. 1495 zeigte der Vater dem Sohn den Reichstag zu Worms, dann machte er allein eine Pilgerfahrt nach Jerusalem. 1503 brach wegen des Erbes des Herzogs von Bayern-Landshut Krieg zwischen Bayern-München und Kurpfalz aus. Das Land büßte es, die Sickingen waren auch dabei.
Der Vater hinterließ sieben Rosse, ein paar Rüstungen, Bücher, Schmuckstücke, nicht viel. Sickingen war nun dreiundzwanzig. Bis 1515 mehrte er das Erbe bescheiden. Er ließ bei der Ebernburg Erz schürfen, erwarb auch anderswo mit gutem Rechenverstand Konzessionen, betrieb zum Beispiel ein Quecksilberbergwerk. Den Überschuß steckte er in seine Burgen; dieses Kapital sollte sich ungemein verzinsen. Aus der Ebernburg machte er eine stattliche Feste mit drei Wällen und Vorwerken. Die Bauarbeiten überwachte seine Frau, Hedwig von Flersheim, deren Bruder, später Bischof von Speyer, in der nach ihm benannten Chronik die Taten des Schwagers beschrieben hat. Sickingen pflegte die Beziehungen zum Fürsten in Heidelberg, war auch mehrfacher kurpfälzischer Amtmann - ein Ausgleich für Darlehen, die mit zehn Prozent hätten verzinst werden müssen. Der Amtmann durfte mit seinen Reisigen durchs Land ziehn. Mainz zahlte ihm ebenfalls für Waffendienst eine Pension. Wir kennen das alles vom Vater Huttens her. Sickingen war als Ganerbe an mehreren Burgen beteiligt, bis hinunter nach Zabern. Noch 1514 schlossen 32 Ganerben einen Vertrag über Steinkallenfels.
1515 starb seine Frau im siebten Wochenbett. Der Schwager wollte ihn sofort wieder verheiraten, Sickingen lehnte ab. Er hatte zwar glücklich mit der Frau gelebt; aber ihr Tod gab ihm freie Bahn. “Schwager”, sagte er nach jener Chronik, “man muß zugeben, daß das ein tapferer Bau ist. Sollte ich aber nicht mehr getan haben, als einen festen Bau aufrichten, das würde mir verächtlich sein”. Er begann mit den Städten anzubinden, den Pfeffersäcken. Er hatte sich das überlegt, und die Frau war wohl nicht einverstanden gewesen. An Vorwänden fehlt es dem nicht, der will, siehe Ulrich und Reutlingen.
Er nahm sich Worms aufs Korn, eine bedeutende Stadt, die sogar ihren Bischof gezwungen hatte, außerhalb zu residieren. Daß das Reichskammergericht gerade darin tagte, störte ihn nicht. Ein Hader zwischen Patriziern und Anhängern des Bischofs hatte mit einigen Aufknüpfungen und Konfiskationen geendet. So hatte auch der bischöfliche Notar Schlör die Habe verloren. Sickingen übernahm seine Ansprüche, sagte die Fehde nachher an und handelte vorher. Ein Schiff mit Wormser Kaufleuten, die zur Ostermesse nach Frankfurt fuhren, sah plötzlich Geschütze auf sich gerichtet, mußte sich ergeben, plündern lassen; Abtransport der Herren auf die Ebernburg, Lösegeld. Nicht genug damit, entbot Sickingen seine Ganerben, warb Söldner, rückte mit 1900 Reitern und 6000 Fußknechten - erstaunliche Zahlen, wenn sie wahr sind - vor Worms, wirklich ein Fachmann. Worms hielt die Belagerung aus, aber das Land wurde erbarmungslos verwüstet.
Das Reichsgericht und der Kaiser verhängten jeder die Acht. Es liest sich ungemein scharf: Abspruch des Adels und Androhung der Armut noch den Enkeln. Aber schon die oberrheinischen Städte erklärten, die Sache sei ihnen “zu schwer” Drei Jahre lang schatzten Sickingen und seine Helfer die Bürger; die Wormser Messe fiel aus, das Kaufhaus schloß die Tore. Aber draußen kam Sickingen in den Ruf eines tapferen, kühnen Ritters. Wie Maximilian verstand er es, den gemeinen Soldaten zu gewinnen.
Inzwischen gab es, 1516, in Lothringen etwas zu holen. Die Geroldsecker waren mit dem Herzog wegen einer Silbermine in Streit geraten und riefen Sickingen. Als ihnen das Geld ausging, verständigte er sich mit dem Herzog, erhielt seine Kosten und eine Pension. Sein Ruhm wuchs, der Adel horchte auf; da war einer, der es mit den Fürsten aufnahm. Franz I., der an die Kaiserkrone dachte, lud ihn nach Amboise ein, nahm ihn ehrenvoll auf, vermied aber, von Politik zu reden. Sickingen war unzufrieden und knüpfte mit dem Kaiser an. Als seine Bedingung, Worms müsse den Notar entschädigen, nicht angenommen wurde, schaute er wieder zu Franz hinüber. Auch Ulrich von Württemberg suchte Anschluß an Frankreich, gegen den Kaiser.
Anno 17 überfiel Sickingen neuerdings Wormser Kaufleute, dazu die Stadt Landau. Sogar Maximilian, der aus den Niederlanden zurückkehrte, mußte sich in der Pfälzer Gegend vorsehen und geriet nicht wenig in Zorn. Er schickte seinen Landvogt vom Unterelsaß gegen ihn, aber der französische König erklärte nun, er werde Sickingen nichts geschehen lassen. Um wenigstens Ulrich zu treffen, ließ der Kaiser Sickingen laufen, verhandelte mit ihm und hob 1518 in Augsburg die Acht auf. Statt der französischen Pension bezog Sickingen jetzt die kaiserliche.
Metz hatte einen Preis auf den Kopf eines Straßenräubers gesetzt und gezahlt. Unglücklicherweise war der Räuber in einer Burg getötet worden, in der sich Sickingen gerade aufhielt, 1518. Vorwands genug, vor Metz zu rücken und sich den Abzug mit 25000 Gulden bezahlen zu lassen.

3.
Sickingen, auf dessen Ruf längst die Soldateska zusammenströmte, holte zu seinem kühnsten Streich aus. In Hessen stand das landgräfliche Haus auf den zwei Augen eines Kindes, Philipps (des Großmütigen). Die Regentschaft führte seit längerem die Mutter, sie hatte sich nicht zuletzt gegen die Ritterschaft zu wehren. Sickingen zog über den Rhein, verjagte durch den bloßen Schrecken seines Namens die hessischen Truppen, beschoß Darmstadt.
Gewinn: 35000 Gulden und Kostenersatz, 1518.
Frankfurt zahlte ihm 4000 Gulden, damit er sich nicht eines Kreuznachers gegen zwei Juden annahm. Als es hieß, daß Sickingen gegen Erfurt ziehn wolle, bemächtigte sich ganz Mitteldeutschlands Aufregung. Die Wettiner, denen jetzt Erfurt dem Wesen nach unterstand, taten alles, um ihn abzuhalten; mit Erfolg, die Kaiserwahl nahte.
Sowohl Franz wie Karl suchten Sickingen auf ihre Seite zu ziehn. Jener bot 30000 Kronen bar und eine lebenslängliche Pension von 8000; Karl nur 3000 Livres und ein Kommando. Sickingen ließ die Sache zunächst auf sich beruhen. Dann trat er in den Dienst des Schwäbischen Bundes und rückte mit 700 Reitern ins Feld. Damit war er zu Habsburg übergegangen.
Die Gewinnung der Kurstimmen war eine Geldfrage wie die Sickingens. Und doch ist es nicht ganz richtig, diese Zustände nur mit unseren Augen zu sehn. Die Naivität jener Jahrhunderte muß ja immer herhalten, wenn man sonst keine Erklärung hat. Es ist auch etwas Wahres an ihr. Der Geldbedarf war ungeheuer in einer Übergangszeit, in der die Geldwirtschaft sich rascher entwickelte als das entsprechende Wirtschaftssystem. Man nahm das Geld, wo man es bekommen konnte. Moral ist Differenzierung und folgt den Zuständen. Auch die Biographie Sickingens gerät leicht in eine Ironie, die nicht angemessen ist. Er tat wie alle, nur methodischer, daher er zuletzt die Methode ad absurdum führte, trotz seines hellen Kopfes. Daß man sich durch die Verwüstung des Landes ins eigene Fleisch schnitt, war noch kein Gesichtspunkt, so wenig wie die Bedrückung und nachher Abschlachtung der Bauern, deren Schädel sich zu Hügeln häuften.
Sickingen erregte die Phantasie derer, die nicht gerade unter seinem Zugriff litten; der beste Beweis, daß man ihm viel verzieh. Auf die Ferne sah es aus, als nehme er sich der Geschädigten an. Persönlich war er offenbar ein sympathischer Mann, unverwickelt, ungeistig, aber gar nicht dumm, ein ganzer Kerl, wie man zu sagen pflegt. Einer, der auch hätte erklären können: Ich hab's gewagt, und: ich trage meine Haut zu Markt, was wollt ihr?
Wenn er zuletzt nicht zu den Franzosen hielt, sprach doch schon die Rücksicht auf die öffentliche und nationale Meinung mit, sie wurde gerade geboren. Überhaupt was für Schicksalsjahre: die Verdeutlichung eines Bildungsideals, die Kirchenspaltung, die Kaiserwahl von 1519, um vom Aufkommen der übrigen Moderne zu schweigen. Noch empfand man, durchgehend, alles positiv. Unsere Zweifel am Wert der Entwicklung, unsere Einsichten in die Trivialität, mit der jede Verwirklichung endet, fehlten noch vollständig.
Man kann auch an Hutten beobachten, wie positiv er ist, wie unproblematisch, wie naiv. Er ist naiv und dazu weicher, als es den Anschein hat. Zweimal hat er schon um eine im besten antiken Sinn platonische Freundschaft, eine Kameraderie auf Grund gemeinsamer Ideen und Ziele geworben, bei Erasmus und Pirkheimer - beide reagierten nicht. Das Bedürfnis nach einer Frau gehört hierher und, nun als viertes, die Freundschaft mit Sickingen.
Sie allein verwirklichte sich ... bis zu einem gewissen Punkt. Hutten hat keinen bestimmenden Einfluß auf die politische Haltung Sickingens gehabt, er war nicht der Geist und Sickingen die Hand, Sickingen folgte seinem eigenen Kopf. Aber zunächst war Hutten der, der dem Pfälzer den Horizont erweiterte. Hutten diente im schwäbischen Feldzug als Reiter unter Sickingen. Befehlshaber des Fußvolks war Georg von Frundsberg, der alte Kämpfer vom italienischen Schauplatz.
Der Feldzug war ein Spaziergang. Am 17. März weinte Ulrich, als die Schweizer Reisläufer, auf Verlangen und jedenfalls unter Geldopfern des Schwäbischen Bundes von ihrer Tagsatzung heimgerufen, ihn verließen. Am 28. brach das Bundesheer aus der Gegend von Ulm auf. Ulrich hatte sich in das Tübinger Schloß geworfen. Bereits am 7. April huldigte Stuttgart den Siegern. Die Helena dieses Krieges, die Frau des ermordeten Hans, wurde zu Huttens Bedauern nicht gefangen. Der Reihe nach ergaben sich die Städte und Dörfer. “Eilig, unter Trompetenschall, Pferdegewieher, Trommelschlag und Lagerlärm”, schloß Hutten einen Brief nach Mainz, wo eben Cajetan angekommen, das übersetzte ››Fieber” erschienen war. Ulrich floh aus Tübingen, Sickingen erhielt vom Bund als Pfand für seine Forderungen das Amt Neuenburg. Schon im Mai war Hutten in Wildbad, um seine Gesundheit zu stärken. Ende Monats weilte er auf einer Tagung des Bundes in Eßlingen. Anfangs Juni finden wir ihn wieder in Mainz. Von hier schrieb er an Erasmus in Löwen einen Brief, der Sickingens Charakter, Großzügigkeit, Raschheit, Energie preist.
Damals zog Sickingen schon mit Foundsberg auf Veranlassung Margaretes, der Tochter Maximilians und Regentin der Niederlande, einen Kordon um Frankfurt, um die auf den 28. Juni angesetzte Kaiserwahl zu sichern. Frundsberg stand in Mainz, Sickingen am unterem Main; den Oberbefehl führte ein Ansbacher Hohenzoller. In der Champagne hatte seinerseits Franz I. Truppen zusammengezogen.
Karl V. wurde mit allen sieben Stimmen gewählt. Man empfand diesen Ausgang nach der monatelangen Spannung im ganzen Land als Sieg der nationalen Sache. Die französischen Agenten hatten wenigstens die Wahl des Habsburgers, der ihr Land von drei Seiten umfaßte und vor allem Mailand bedrohte, verhindern wollen und zuletzt für einen deutschen Kandidaten gearbeitet, für Friedrich von Sachsen. Der Papst hatte seinen Nuntius angewiesen, ebenfalls für den Wettiner einzutreten - den Beschützer Luthers. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Hutten, der Gefolgsmann Frowins, während der Wahltage in Frankfurt war. Die Hintertreibung der Wahl Karls durch die Kurie machte ihn nach seiner Angabe (September 20, Schreiben an Karl) noch gründlicher zum Feinde Roms. Sein Verhältnis zum Kaiser, ob Maximilian oder Karl, war kategorial, an die Einrichtung, nicht an die Person gebunden.
Die Kurfürsten saßen in Frankfurt in einem Konklave, dessen Wände die böse antifranzösische Stimmung des Volkes, zumal in den Rheinlanden war: man darf zum erstenmal von einer öffentlichen deutschen nationalen Meinung und ihrem Druck sprechen. Im Grunde war Karl Ausländer wie Franz. Er sprach kein Wort Deutsch, war in Mecheln französisch erzogen, hatte Deutschland nie gesehen, ein stummer, steifer Melancholiker von neunzehn Jahren.
Aber das Volk sah in ihm den Enkel Maximilians; es hielt ihn mit der wohlbekannten deutschen Ahnungslosigkeit für einen Freund seiner Sache. Auch Hutten tat das. Friedrich hätte seine Wahl durchsetzen können, er war schon so gut wie gewählt; er lehnte ab. Es wäre augenblicklich zu einem Gemetzel gekommen; die spanische Partei„hinter der Sickingen stand, hatte es an Deutlichkeiten nicht fehlen lassen.
Jedoch Sickingen welthistorisch dafür verantwortlich zu machen, daß Deutschland um einen einheimischen Kaiser kam, geht zu weit. Die Entscheidung Friedrichs hing nicht nur von einer Metzelei ab. Er war nicht mehr jung genug, und seine Hausmacht war nicht stark genug, um den unvermeidlichen Gegensatz zu Habsburg, in den er geraten wäre, durchzukämpfen. Er hätte die Franzosen zur Hilfe rufen müssen. Man hat gesagt, daß er der erste protestantische Kaiser gewesen wäre. Aber das ist nicht so sicher. Eher hätte ihn die Politik gezwungen, es nicht mit dem Papst zu verderben. Auch seine Weigerung führte, im großen Zusammenhang gesehn, nicht aus dem Labyrinth.
Wo ist in der Kette der Verknüpfungen der erste Grund, auf den man zurückgehn könnte - welcher Römerzug, welcher Charakterzug im deutschen Wesen? Es ist nutzlos, das zu versuchen. Ein Realpolitiker von damals, dem alle Zusammenhänge klar gewesen wären, hätte auch nur die Flucht in ein allgemeines, übergeordnetes, aber zu hoch schwebendes Nationalgefühl, eine idealistische Traumhaftigkeit antreten können, wie das Volk, wenn es Maximilian verehrte, wie Hutten, wenn er vom Nationalgefühl sprach.
Was aber jenen Kordon betrifft, den Sickingen und die Anhänger Karls um Frankfurt zogen, so hatte er natürlich noch eine andere Bedeutung als den Schutz. Er war eine machtpolitische Diversion, ein Wink an die Kurfürsten und um so weniger zu mißachten, als er diesmal mit der Volksstimmung zusammenfiel. Der dritte Faktor waren die Fugger, ihr Geld kaufte die Stimmen. Karl ernannte Sickingen zum Kämmerer und Rat und nahm ihn gegen eine bedeutende Pension in seine Dienste, Oktober 19. Ein Jahr später aber verlangte er von dem Ritter ein Darlehen von 20.000 Gulden und erhielt es ohne Sicherheiten auf bloße Handschrift. Doch wir haben vorgegriffen. Das Darlehen fiel in den Oktober 1520, als Karl endlich den deutschen Boden betrat, in Aachen, wo er mit der Krone Karls des Großen gekrönt wurde.

4.
Hutten teilte während des Feldzuges das Zelt Sickingens. Standesgenossen durch Herkunft, waren sie ein ungleiches Paar: der eine der, der gezeigt hatte, was ein Ritter noch aus seinen Lebensbedingungen machen konnte, der andere ein ins Geistige Verschlagener. Wir hören Hutten, wie er dem Freund seine Lieblingsklage vorträgt, daß die Ritterbürtigen ihn schief ansehn. Wie wir Hutten nun schon kennen, berauschten ihn die Möglichkeiten, die in der neuen Freundschaft lagen: Zusammenarbeit, Verwirklichung durch Macht.
Sickingen begriff das gut, er hatte sich ja auch nicht um Literatur gekümmert. Freilich, Vorurteile gab es bei ihm nicht. Hutten verstand es ohne Zweifel, ihm auseinanderzusetzen, was Publizistik in seinem Sinn war: Nachhilfe, Vorspanndienst, Ermutigung, Bewußtmachung, Anfeuerung. Und als guter Humanist schilderte er, wie ruhmvoll Erasmus, Pirkheimer, Peutinger und der arme Reuchlin dastanden.
Reuchlin? erwiderte Sickingen, den haben meine Eltern gekannt, und ich selbst sah ihn in Heidelberg; warum arm, was ist mit ihm? Worauf Hutten den Handel mit den Dominikanern erzählte. Das interessierte Sickingen, das hieß doch Wirklichkeit. Dem Mann war unrecht geschehn, dem Mann konnte geholfen werden. Wie, Prozeßkosten hatte er gehabt, trotzdem Hochstraten in Speyer zu 111 Gulden verurteilt worden war? Schlug auf den Tisch und sagte: Eine Kleinigkeit, mein lieber Ulrich, für Sickingen. In Stuttgart sah Sickingen dann Reuchlin selbst.
So erfuhr der aufgeschobene Prozeß ein erstaunliches Nachspiel. Sickingen erließ eine Aufforderung, die auch gedruckt erschien, an den deutschen Dominikanerorden, die Ausfälle gegen Reuchlin einzustellen, es beim Speyrer Urteil bewenden zu lassen, dem Gelehrten wenigstens die 111 Gulden zu zahlen. Das deutsche Schriftchen, bei dem Hutten wohl die Hand im Spiel gehabt hat, ging Ende Juli hinaus. Da die Dominikaner nicht antworteten, sagte Sickingen Fehde an, wenn sie die Sache nicht bis zum 28. Dezember ins reine gebracht hätten.
Zwei Tage vor Ablauf der Frist erschien ein Provinzial auf Burg Landstuhl und gestand zu, den Spruch eines Schiedsgerichts anzunehmen. Sickingen verließ sich nicht auf andere; er und sein Schwager saßen unter den Richtern, die im nächsten Mai zu Frankfurt zusammentraten. Ende Monats bekam Reuchlin das Geld. Der Orden bat den Papst in einem Schreiben, den Prozeß auf ewige Zeiten zu vertagen.
Reuchlin konnte die Gulden brauchen. Hutten hatte jahrs zuvor ihn in Stuttgart gesehen und dem Schutze Sickingens unterstellt. Reuchlin grub seine Bücherschätze wieder aus. Im August fiel der Herzog noch einmal ins Land ein und legte Hand auf den Besitz Reuchlins. Nach vier Wochen rückten die Bündischen ein und sprangen zunächst nicht besser mit dem alten Mann um. Der Herzog wurde endgültig vertrieben; er ging nach Hessen und kehrte erst fünfzehn Jahre später zurück, als protestantischer Fürst.
Es gefiel Reuchlin nicht mehr in Stuttgart, er siedelte nach Ingolstadt über. Doch das Bedrohlichste kam noch. Die Dominikaner hatten wohl dem Diktat Sickingens gehorcht, arbeiteten aber in Rom und setzten durch, daß Leo, der sich von einem Ritter nicht gebieten ließ, 1520 das Speyrer Urteil aufhob, den „Augenspiegel“ verbot, Reuchlin die gesamten Kosten auferlegte und ihm ewiges Schweigen befahl. Reuchlin schwankte, ob er zu Sickingen auf die Burg flüchten sollte, blieb aber und wurde auch nicht behelligt. Er starb bald darauf, 1522. Der Ausgang des Prozesses war ein Skandal und mehrte die Verbitterung gegen Rom. Ob Sickingen Reuchlin gerade einen Dienst erwiesen hatte, kann man bezweifeln.

Aus dem Buch von Otto Flake "Ulrich von Hutten" das Kapitel  XIX "Sickingen". Erschienen in der Büchergilde Gutenberg. Seite 142-149