Die Wilde Schneeburg
Historische Erzählung von Max Ortmann
Ausgelassen und mutwillig wie ein junger Bursch, den auf seiner
Wanderfahrt nur ein leichtes Ränzel und noch keine Sorgen des Lebens
beschweren, tritt der Bruggabach seinen Weg aus dem Napf am Westhange
des Feldbergs hinab zur Dreisam an. Manch kantiger Felsblock und manch
griesgrämige, verknorrte Tannenwurzel, die dem Lebenslustigen die Fahrt
vom Schwarzwald ins Weite neiden, versuchen sich ihm entgegenzustellen
und seinen Lauf durch das langgestreckte Tal von St. Wilhelm zu hemmen.
Doch vergeblich. Mit ungestümer Kraft bricht der Bach über Stock und
Stein sich Bahn, nimmt bei der „üblen Brücke“ den vom Schauinsland
herabkommenden Haselbach als willkommenen Fahrt- und Kampfgenossen auf
und jauchzt dann noch einmal so laut und wild sein rauschend
Wanderlied. Unbekümmert um das tiefe Schweigen, das es durchbricht,
erfüllt das Brausen und Rauschen der Brugga vorlaut die enge Schlucht
des unteren Wilhelmstales‚ das zum oberen beinahe im rechten Winkel
verläuft. So lärmt ein Kind munter weiter, wenn auch die Erwachsenen in
tiefem Ernste schweigen.
Düstere Tannen in feierlich dunkeln Gewändern tragen stolzen Sinnes
ihre hocherhobenen Häupter. Schweigsam und unnahbar starren zerklüftete
Felsen empor. Sie scheinen über dem Wald die zerzausten Formen der
Tannen in gewaltiger Vergrößerung nachzuahmen. Am Ostabhange des Tales
tragen die senkrechten Schroffenabstürze der Gefällfelsen ihr
verwittertes Antlitz näher dem Himmel denn der Erde. Sie lehnen sich an
den Hochfahrn, der durch den Toten Mann mit dem Feldberg, dem König des
Schwarzwaldes, verbunden ist.
Keines Menschen Schritte, glaubt man, haben sich jemals in diese Fels-
und Waldwildnis verirrt, kein anderer Laut habe jemals diese Stille
durchdrungen, als das Wanderlied des Baches, das geheimnisvolle Raunen
des Waldes und das wütende Heulen des Sturmes.
Doch einmal übertönten andere Laute das Rauschen der Brugga. Es war im
Jahre des Heils dreizehnhundertundsiebzehn, am 29. Tage des Septembers.
Waffen klirrten, Rosse schnaubten im engen Tal. Reisige Kriegsknechte
der nahen Stadt Freiburg und mit dieser verbündete Ritter, ihre Rosse
am Zügel, brachen sich mühsam Bahn durch das verwachsene Waldgestrüpp,
durch das nur ängstlich ein dornüberwucherter Saumpfad sich schlich.
Sonst betraten ihn nur Hirten, Bauern oder Bergleute aus den Erzgruben
von Hofsgrund, oder einer der Brüder von St.Wilhelm, der aus seiner
Klostereinsamkeit nach Oberried und in die Welt der Menschen strebte.
Jetzt war es eine kriegerische Schar.
Ein Raubvogelnest galt es auszuheben, ein Raubvogelnest, das kühn und
verwegen - wie selten eines - auf hochragender, grobgestalteter
Felsklippe, vom Tale unsichtbar, unter der Gefällmatte hing: die Wilde
Schneeburg!
Lange genug hatten Rat und Bürgerschaft der Stadt Freiburg dem
ungezügelten Treiben der zu Todfeinden der Stadt gewordenen Bewohner
der Burg zugesehen.
Dort oben hausten die Junker Heinrich und Wilhelm, die Söhne des alten
Ritters Kolmann. Dieser war ein Verwandter des alteingesessenen,
reichbegüterten Freiburger Geschlechts der Schnewelin gewesen und war
von diesem als Vogt und Lehensmann auf die Wilde Schneeburg eingesetzt
worden. Im Vertrauen auf die Uneinnehmbarkeit ihres Felsennestes
erblickten die beiden Brüder ihren wenig christlichen Lebenszweck im
Ausüben ihrer ungezähmten Rauf- und Raublust, und sie genossen den
zweifelhaften Ruhm, zu den berüchtigtsten Raubrittern ihrer Zeit zu
gehören.
Murrend erzählt man im Lande ihre Untaten. Erst kürzlich hatten sie das
zur Weide auf den Matten oberhalb Oberrieds bestimmte Vieh der Stadt
Freiburg in der Hütte mitsamt dem Hirtenhäuschen verbrannt. Am liebsten
hätten die Raubritter gleich die ganze Stadt angesteckt und -
eingesteckt. Doch diese war doch etwas zu groß für ihre Taschen. Auch
schien es den beiden Brüdern kurzweiliger, die Bürger und ihre Habe in
fröhlicher Treibjagd auf freiem Felde abzufangen, als an den festen
Mauern und Toren Freiburgs die Köpfe sich blutig zu rennen.
Da gegen dieses Unwesen vom Reich kein Schutz und keine Hilfe zu
erwarten war, so beschloß der Rat der Stadt Freiburg, durch eigenes
Einschreiten diesem unhaltbaren Zustand ein Ende zu machen.
Mächtige Verbündete hatte die Stadt für diesen Zug gewonnen.
Benachbarte Grafen und Herren des Breisgaues nahmen selbst daran teil,
teils hatten sie Unterstützung durch ihre Knechte zugesagt. In dem
Bannbrief, in dem unter dem 24.September 1314 das Bündnis geschlossen
wurde, werden zahlreiche Namen genannt: darunter Graf Ulrich von Pfirt,
Markgraf Heinrich von Hachberg, Graf Konrad von Freiburg, die Herren
von Schwarzenberg und Hornberg und andere Edle. Sie alle gelobten in
diesem Briefe „den burgern und der gemeinde gemeinliche oder stette zu
Freiburg in Brisgöwe“ feierlich ihre Mithilfe gegen „Heinrich Colmann
oder Willehelm‚ sin bruoder“, da diese „inen iemer schaden getetin,
lüzzel oder vil“.
Frohlockend saßen die beiden Burgherren der Wilden Schneeburg in ihrem
Felsenschlupfwinkel, der hinter den schützenden Tannen schier
unauffindbar war. Hier fühlten sie sich sicher. Wohl wußten die Brüder
von dem Gewitter, das sich um sie zusammenzog. Doch sie lachten der
Gefahr. Mochten die Feinde selbst die Burg entdecken, ja, sie sogar
erreichen, um so jäher war dann ihr Fall in die Tiefe!
So saßen in dem Burggemach‚ in das durch zwei Rundbogenfenster von der
Hofseite der Burg das Tageslicht hereinfiel, unbesorgt die beiden
Junker Heinrich und Wilhelm. Um sie her befanden sich ihre Getreuen.
Zunächst vor ihnen standen auf dem alten Eichenholztisch zwei mächtige
Humpen, des Brüderpaares Lieblingsgefährten. Dazwischen führte der
Würfelbecher ein bewegtes Dasein. Unter dem Tische lag der alte Wolf,
ein struppiger Hund, nicht minder tollkühn als seine Herren, wenn es
einen Wagenzug zu überfallen galt.
„Prosit‚ Bruderherz!“ rief Heinrich seinem Gegenüber zu, „hab’ Dank für deine Hilfe!“
Er hob den gefüllten Humpen zum Munde und setzte ihn erst nach langem,
durstigem Zuge wieder ab. Dann strich er sich mit Behagen den
struppigen Bart und fuhr in seiner Rede fort: „Das Rebenblut hier oben
in freier Schwarzwaldluft zu trinken, bekommt mir altem Raubgesellen
doch besser als drunten die Wassersuppen im Martinsturm zu Freiburg!“
Nochmals nahm er einen tiefen Schluck, um fortzufahren: „Pfui! - Das
war ein schlechter Streich, daß mich die verdammten Pfeffersäcke
aufgriffen, als mir das Roß unter dem Leibe zusammenbrach.“
„Aber kein schlechter Scherz war es“, unterbrach lachend Wilhelm seinen
Bruder, „daß ich gleich deren zwei als Gegengäste hier oben in unserem
gastfreien Haus in unfreiwillig Quartier nahm. Der ehrenwerte Bürger
Walther und der Jude Süßkind schimpften nicht schlecht über meine
Aufmerksamkeit. Und die Freiburger Stadtherren mußten sich bequemen, um
ihre Kindlein wieder vollzählig beisammen zu haben, mein Brüderlein
herauszugeben, um diese beiden zurückzuerhalten. Also zwei Pfeffersäcke
bist du immerhin noch wert, Bruderherz!“
Aus der Tiefe des Tales spähten die heranziehenden Bundesgenossen und
Stadtknechte vergeblich nach dem Raubnest aus. Felsgeklüft und
Tannendickicht sperrten Weg und Blick. Unmöglich schien es, im Gewirr
der Felsen und zwischen dem schützenden Grün das durch Natur und
Menschenhand mit gleicher Geschicklichkeit verborgene Mauerwerk der
Burg zu entdecken.
Nicht die geringste Bewegung oder ein auffallendes Zeichen ließen in
dieser unwirtlichen Umgebung auf die Nähe einer menschlichen Behausung
schließen. Nur aus der Ferne trug der Talwind einen verlorenen
Glockenton zu den Kriegern, die sich am steinigen Ufer der Brugga zu
kurzer Rast versammelt hatten. Der Ton kam vom oberen Tale herab, wo
das Läuten des Klosterkirchleins die frommen Mönche von St.Wilhelm zum
Gebete rief. Mit Standhaftigkeit ertrugen diese in ärmlicher Zelle die
Nöte und Entbehrungen der öden Wildnis und die gewalttätigen Überfälle
der räuberischen Kolmanns. Ein steinerner Zufluchtsturm bot nur
ungenügenden Schutz.
Oft mußten die Mönche zu der bekannten List greifen, ihren Pferden die
Eisen verkehrt aufzuschlagen, um die Schneeburger über Weg und
Reiseziel in die Irre zu führen. Lange trug ein verborgen über das
Gebirge führender Pfad im Volksmund den Namen „Pfaffenweg“.
Droben im Burggemach trat Ritter Heinrich ans Fenster und betrachtete
wohlgefällig das schwergewappnete Häuflein seiner im Hofe versammelten
Getreuen. Wilde Gesichter, wetterharte Kerle. Die Feinde sollten nur
kommen.
Einer der Mägde, die den Knechten einen Trunk reichte, rief er zu:
„Vergiß auch den Jörg auf dem Turme nicht! Bring ihm einen Humpen
hinauf, daß der Trank seine Sinne schärfe!“
Die Magd gehorchte widerwillig. Sie stammte vom obersten der drei
uralten Bauernhöfe „zum Schneeberger“, die drunten im Tale lagen und
mit Leibeigenen besetzt waren. Der Wächter auf dem hohen Auslug des
Turmes machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Die Anwesenheit
von Freiburger Stadtknechten in der Nähe der Burg war doch nicht so
leicht zu nehmen, wie das seine beiden Herren taten, als er ihnen seine
Beobachtungen mitteilte.
Da hörte er leise Schritte aus dem Innern des Turmes. So leichtfüßig
naht kein Geharnischter. Beim Anblick des gefüllten Humpens kehrte Jörg
die gute Laune wieder. Seine karfunkelrote Nase erzählte von guter
Freundschaft mit dem Kellermeister. Andächtig versank sein Antlitz in
der Rundung des Bechers, und um ihn versank die Welt.
Die Magd sah scheu nach dem Alten. Verstohlen ließ sie ihre rechte Hand
über die Mauerbrüstung hängen. Ein flatterndes Tüchlein hielt sie mit
spitzen Fingern. Ob ihr Herzallerliebster wohl bei den Knechten war,
die die Breisgaustadt gegen die Ritter ausgeschickt hatte. Ein Jahr war
nun schon vergangen, daß der schmucke Bauernsohn aus Oberried von ihr
Abschied genommen hatte und zum Dienste in die Stadt gezogen war. Nun
dachte die Einfalt der Liebe, ihm ein verstohlenes Grüßlein zu senden.
Ein jäher Windstoß entriß der Nachdenklichen das Tüchlein. Es flatterte
und flog auf und ab wie ein angeschossener Vogel und blieb endlich hoch
oben in der Krone einer Tanne hängen. Dort zerrte und riß der Wind
daran und freute sich des zarten Spielzeugs.
Schnell nahm die Erschrockene dem grauhaarigen Kriegsknecht den
inzwischen geleerten Humpen ab und eilte mit fliegenden Zöpfen davon.
Im Burggemach saßen die Burgherren noch unentwegt beim Wein und
Würfelspiel und unterhielten sich über den nächsten Streich, den sie
den Mönchen von St.Wilhelm zu spielen gedachten . . .
Drunten im Tale lugte einer der Stadtknechte besonders eifrig aus; denn
er war als Oberrieder Kind der Gegend kundig und - wußte sein Lieb
hinter den verborgenen Burgmauern eingeschlossen. Ein überraschter Ruf!
Nein! - es war keine Täuschung. Dort hoch oben in den Tannen hing ein
Weißes Tüchlein‚ das sich bewegte. Dort mußte die Burg liegen.
Dann kroch es hinan durch den Tann. Die Stille war unheimlich. Ein
Stein nur rollte polternd in die Tiefe. Hinter den Wächtern am Burgtor
schnellte es in die Höhe. Kalter Stahl blitzte auf. Ein Leib stürzte
über den Rand der Zugbrücke in den Graben. Mit leeren Augenhöhlen
grinzte das Verderben. Todesmutig warfen sich die Burgmannen den
Eindringlingen entgegen. Die Klüfte der Gefällfelsen und knorrigen
Tannenrecken sahen ein wildes Schlachten. Das Tal hallte wider von
Waffenlärm und Kampfgeschrei.
Als eine mit Gewitterdunkel vereinte Abenddämmerung rasch die Nacht
gebracht hatte, flammte eine blutrote Riesenfackel schwindelhoch über
dem Lauf der Brugga. Die hüpfenden Wellen erglühten gleich feurigen
Kohlen. Wie ein Geisterzug kamen die Schattengestalten der siegreichen
Söldner durch den Tann und strebten dem Dreisamtale zu.
In ihrer Mitte führten sie die wenigen Gefangenen, unter ihnen die
beiden Brüder. Zähneknirschend fügten sich diese der Übermacht. Jeder
Schritt brachte sie der verhaßten Stadt näher, der sie nun Urfehde zu
schwören und in einem Sühnebrief zu geloben hatten „den burgern und der
gemeinde ze Freiburg, und den iren, niemer leid noch schaden ze tünde
mit Worten noch mit werchen“.
Die anderen lagen erschlagen, begraben unter den Trümmern der Wilden
Schneeburg. Reiche Beute ward den Siegern: Waffen, Lebensmittel und so
manche köstlichen Dinge.
Doch im Besitze der reichsten Beute dünkte sich der Stadtknecht aus
Oberried. Der Wackere hatte als erster das flatternde Tüchlein entdeckt
und war als erster in die Burg eingedrungen. So hatten die Liebe und
ein flatterndes Tüchlein die Hand mit im Spiel, daß den Freiburgern ihr
Racheplan so schnell glückte.
Blutrot färbte die Brandfackel der auflodernden Burg den Nachthimmel.
Den fernen Schein sah der um die Sicherheit der Stadt treu besorgte
Wächter auf dem Münsterturm zu Freiburg, und er war ihm ein schneller
Bote des erfolgreich verlaufenen Zuges gegen die Wilde Schneeburg.
Diesen fernen Schein sah aber auch der Ritter von Falkenstein auf
seinem Wegelagererschloß im Höllental. Mit unmutig zusammengezogenen
Brauen starrte der Raubritter‚ der mit den Freiburgern schon so manchen
Strauß ausgefochten hatte, nach dem unheimlichen blutigen Mal am
Himmel, und ihn beschlich eine schicksalsbange Ahnung von der kraftvoll
erstarkenden Macht der Städte.
Hell loderten noch einmal die Flammen über der Brugga auf. Glühende
Garben schossen empor und überstrahlten das Glitzern der Sterne, die
fahl und fremd am Himmel standen. Dann ward es dunkel und die Nacht
malte unheimliche Schattenbilder . . .
FREIBURGER ALMANACH - ACHTES ILLUSTRIERTES JAHRBUCH
1957 Seite 118-122
VERLAG POPPENSLORTMANN FREIBURG I.BR.