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DIE MARTINSKAPELLE BEIM BALDENWEGERHOF

Hausarbeit vorgelegt von
Adelheid Fiedler

1.Semester Theologie 1992
Katholisch- Theologische Fakultät Tübingen
Grundkurs
Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten mit besonderer Berücksichtigung der historischen Disziplinen
Prof. Dr. J. Köhler





INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG
2. DAS GEBÄUDE
3. DAS ALTER DER MARTINSKAPELLE
4. DIE BEDEUTUNG DER KAPELLE

4.1 Das Martinspatrozinium

4.2 Der Stellenwert der Kapelle

4.2.1 Die Baldenweger Kapelle und das Wittental 

4.2.2 Das Verhältnis der Inkorporation

4.2.3 Die Martinskapelle in Rechnungen der Pfarrei Kirchzarten 

4.2.4 Die Bruderschaft

4.2.5 Die Urkunde von 1765
5. DER UNTERGANG DER KAPELLE
6. DER RECHTSSTREIT VON 1810 UM DAS EIGENTUM AN DER KAPELLE

6.1. Die Situation der Pfarrei Kirchzarten 

6.2 Der Briefwechsel
7. ZUSAMMENFASSUNG
8. ANHANG

8.1 Quellenverzeichnis

8.2 Literaturverzeichnis

8.3 Xerokopien der 


QUELLEN

1. EINLEITUNG 

"Una hora ab ecclesia materna sita est Capella in Baldenweg ad st´m Martinum Epe'm”1 -eine Stunde von der Mutterkirche [in Kirchzarten] entfernt gelegen ist die Kapelle in Baldenweg zum Ill. Bischof Martin - so ein Visitationsbericht vom 28.1.1735. 

Kirchzarten befindet sich in der Mitte des Dreisamtales, das im Osten von Freiburg im Breisgau gelegen ist. Im nördlichen Teil dieses Talbeckens liegt Baklenweg. Dieser Platz heißt heute "Baldenwegerhof”, ein landwirtschaftlicher Betrieb, der dem Land Baden-Württemberg gehört und von einer Pächterfamilie bewirtschaftet wird. Er liegt auf der Gemarkung des Stegener Ortsteiles Wittental und ist mit diesem kirchlich der Pfarrei Herz-Jesu in Stegen zugeordnet. 

Die eingangs genannte Martinskapelle besteht seit etwa 180 Jahren nicht mehr. Es existieren nur wenige schriftliche Darstellungen zu ihr. Insbesondere Max Weber hat sich in zwei Jubiläumsbänden2 der Gemeinde Kirchzarten mit den Quellen zu dieser Kapelle befaßt. Für ihn konnte dabei aber die Baldenweger Martinskapelle nur ein Gegenstand von vielen sein. Die vorliegende Arbeit versucht, Erkenntnisse zusammenzufassen, aber auch, unter Zuhilfenahme weiterer Literatur und Quellen, eigene  Ergebnisse zu entwickeln. 

Die verwendeten Quellen sind folgenden Archiven entnommen: 
Pfarrarchiv Kirchzarten (PAK) (im Original vorliegend); Generallandesarchiv in Karlsruhe (GLA) und Erzbischöfliches Ordinariatsarchiv Freiburg (EOA) (letztere beide als Xerox-Kopien). Sie bieten weniger einen lückenlosen geschichtlichen Bericht als vielmehr fragmentarische Einblicke in Augenblicke der Geschichte. Die älteste gefundene Quelle ist eine Urkunde aus dem Jahre 1344; die jüngste verwendete Quelle wurde 1810 verfaßt. Mit Ausnahme einer Urkunde vom 31. August 1765 (GLA 21/33) und eines Schreibens von 1735 (GLA 229/53202) sind alle Quellen in deutscher Sprache geschrieben. 
Die unterschiedlichen Quellen wurden gesichtet, chronologisch und thematisch geordnet und kombiniert. Es mußten außerdem Informationen über den (kirchen-)geschichtlichen Kontext für den Zeitraum, in dem die Kapelle existierte, eingeholt werden.    

Mit Hilfe der Quellen und der im Anhang verzeichneten Literatur wurde versucht, zur Klärung folgender Fragen beizutragen: 
- In welcher Zeit ist die Martinskapelle entstanden? 
- Welche Bedeutung hatte sie während ihres Bestehens? 
- Warum ist sie untergegangen? 

2. DAS GEBÄUDE 
Die Kapelle, mit der wir uns befassen, ist an keiner Stelle ausdrücklich beschrieben. Wir können nur aus einigen Quellen verschiedene Auskünfte aneinanderfügen: um 1600 besaß sie ein "St. Martinsbildt"3, welches aber sonst nicht erwähnt wird. Im Jahre 1765 wird ihr Altar zu Ehren des Hl. Martin genannt4. Sie stand "unstrittig auf dem Eigenthum des Hofgutes zunächst bei dem Hause”5. Über die Größe der Kapelle finden sich keine Angaben. 

3. DAS ALTER DER MARTINSKAPELLE 
Das Alter der Martinskapelle auf dem Baldenwegerhof läßt sich nicht eindeutig angeben, da keine Gründungsurkunde oder dergleichen existiert. Eine urkundliche Erwähnung der "Kapelle zue Baldenwegg“ finden wir im Jahre 1501°6. "Gegeben zu Baldenweg”7 wurde ein Brief am "Sankt Martinstage” 1344, was im Zusammenhang mit der Martinskapelle stehen dürfte, wie wir noch sehen werden. 
Wenn geklärt werden soll, ob diese Kapelle noch älter war, stellt sich die Frage, ob das Gebiet, in dem sie stand, überhaupt vor dieser Zeit besiedelt war, was für ein Tal am Fuße des Schwarzwaldes keineswegs selbstverständlich ist. Nun liegt das Wittental, zu dem auch der Baldenweger Hof mit seiner abgegangenen Kapelle gehört, im nördlichen Teil des Dreisamtales, für den mit besonders großer Sicherheit eine durchgehende Besiedlung seit der Keltenzeit angenommen werden kann.8 Die Bevölkerung dieses Gebietes war heidnisch, bis nach dem Sieg des Frankenführers Chlodwig in der Schlacht von 496 ein Teil der Alamannen unter fränkische Herrschaft kam, und damit eine erste Voraussetzung für die Missionierung des südwestdeutschen Germanenstammes geschaffen wurde. "Es bildeten sich (...) christliche Zellen dort, wo Franken zwischen den Alemannen siedelten. Das war vor allem auf den Königshöfen der Fall und bei allen Niederlassungen von fränkischen Adligen. Nach dem System der sogenannten Eigenkirchen bauten diese Herren bei ihrem Hof eine Kapelle, für die sie aufkamen und auch den Geistlichen besoldeten. Mit Vorliebe wurden solche Kapellen dem fränkischen Nationalheiligen Martinus geweiht. Und so können wir geradezu aus diesem Patrozinium einer Kirche auf deren Gründung in fränkischer Zeit schließen.”9 "Dem Kirchenheiligen kommt nämlich in der Frühzeit neben der religiösen eine ebenso wichtige rechtssymbolische Bedeutung zu10. Denn "ein bestimmter Heiliger, etwa (...) der heilige Martin, [kann] wie eine Eigentumsmarke oder ein Hoheitszeichen’ sinnfällig zum Ausdruck bringen, daß die betreffende Kirche den fränkischen Königen [gehört], deren Nationalheiliger Martin von Tours ist"11. Auch Bernoulli bestätigt: "Martin ist der Standardheilige der Merowinger".12 
So kann gesagt werden, daß die Martinskapelle beim Baldenwegerhof mit größter Wahrscheinlichkeit mindestens in das achte Jahrhundert zurückreicht, gerade weil man eben "aus einem alten Martinspatrozinium schließen [darf], daß sich dieses in Anlehnung an einen fränkischen Herrensitz entwickelt hat”.13 Das System der Eigenkirchen aber fällt in die merowingische Zeit des Frankenreiches, die mit dem Beginn der karolingischen im 8.Jh. zu Ende ging".14 
Die Kapelle existierte bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, hat also mehr als ein Jahrtausend überdauert. 
Doch welche Bedeutung hatte die Kapelle im Lauf der Jahrhunderte?    

4. DIE BEDEUTUNG DER MARTINSKAPELLE

4.1 Das Marlinspatrozinium 

Die Urkunde des Werner und des jungen Konrad von Falkenstein aus dem Jahre 1344 wurde "gegeben zu Baldenweg (...) an Sankt Martinstage".15 Mit dieser Urkunde errichteten sie die erste Kaplaneistiftung der Kirchzartener Pfarrei. Sie ist sicher nicht zufällig vom damaligen Besitzer Baldenwegs am Martinstag ausgestellt worden, so daß man bereits für das Jahr 1344 eine Bedeutung des Martinspatroziniums für Baldenweg - durch die Kaplaneistiftung auch für Kirchzarten - feststellen kann. Da die Martinskapelle von der Kirche in Kirchzarten verwaltet wurde, finden sich schriftliche Zeugnisse zu einem großen Teil in Dokumenten dieser Pfarrei: Im Pfarrbuch von 1463 ist die Patroziniumsfeier an St. Martin auf dem Baldenweg verzeichnet16. Um 1600 wird ein Martinsfest gefeiert, für Weber ein Zeugnis für die früher größere Bedeutung der Martinskapelle in Baldenweg17
Die Rechnung der Kirchenpfleger zeigt, daß in Baldenweg ein Gottesdienst gehalten wurde. Das bezeugen die Opfergaben: "Uf St. Martinstag ist zue Baldenweg an Opfern gefallen 1 Pfund 4 Schilling 9 Pfennig18. Außerdem haben die Pfleger den Inhalt des Opferstockes "zue Baldenweg zum halben theil empfangen”(= drei Schilling und zehn Pfennig) sowie 15 Schilling und 10 Pfennig" auß 13 jung und alten Huener erlößt”, die ebenfalls "zu Baldenweg an St. Marlinstag zue Opfer gefallen" sind. Das Patroziniumsfest ist in einer weltlichen Feier im benachbarten Zarten ausgeklungen, was die in den Rechnungen auftauchenden Verzehrgelder belegen: fünf Personen haben ein Pfund fünf Schilling verbraucht.19 Das Rechnungsbuch von 1681 verzeichnet stattliche Einnahmen, die "in Festo S. Martini” in "der Kapellen zu Baldenweg ahn Opfer gefallen”20 sind: drei Gulden, zehn Batzen und zwei Pfennig. Auch an diesem Patroziniumsfest  wurden "Güller" (Hühner) geopfert, für die fünf Batzen und vier Pfennig erlöst wurden.     

4.2 Der Stellenwert der Kapelle
 
Wenn nun das Patroziniumsfest zu St. Martin über Jahrhunderte gefeiert wurde und Bedeutung hatte, welche Funktion und welchen Stellenwert hatte dann die Kapelle selbst? 

4.2.1 Die Baldenweger Kapelle und das Wittental 

Die Tatsache, daß die Lage des Ortes Wittental mehrmals in Bezug auf Baldenweg angegeben wird21, "spricht (...) für die frühere Bedeutung dieses Platzes, der offenbar auch durch seine Martinskapelle einen gewissen Mittelpunkt bildete”22. Weber ist der Meinung, daß "vor allem (...) die Bewohner des Wittentals in Baldenweg ihre Kirche gesehen”23 haben. In Tabellen der Pfarrgemeinde Kirchzarten jedenfalls werden die Bewohner des Wittentals und Baldenwegs gemeinsam aufgeführt (Tabelle von 178024, Verzeichnis der Pfarrei von 179925), wogegen die beiden Orte auf Landkarten-Skizzen der damaligen Zeit (1796/1799)26 eindeutig getrennt aufgeführt sind. 

4.22 Das Verhältnis der Inkorporation 

Baldenweg ist als einzige alte Filiale Kirchzarten inkorporiert27. In einer “Tabelle über die Pfarrkirch zum hl. Gallus in Kirchzarten, des ganzen Kirchzartenerthals mit zugehörigen Filialen"28 ist "ein filial zum hl. Martin” aufgeführt, die der "Pfarrkirch ein Corporiert” ist. Neben dieser sind elf weitere Filialen aufgelistet, von denen aber sonst nur noch die Kapelle auf dem Giersberg diesen Status hat, die erst 1709 gegründet29 und 1737 inkorporiert30 wurde. Daß die Martinskapelle bereits viel früher zu Kirchzarten gehörte, haben wir anhand der Eintragungen in den Büchern der Mutterpfarrei gesehen. "Für Baldenweg (...) bedeutet das Verhältnis der  Inkorporation einen Beweis für frühere Selbständigkeit und eine erhöhte Bedeutung.”31   

4.2.3 Die Martinskapelle in Rechnungen der Pfarrei Kırchzarten 

In den Rechnungsbüchern der Kirchzartener Kirchenpfleger findet man einige interessante Details aus der Geschichte der inkorporierten Kapelle : in dem Dokument "Corpus und Rechnungen über die Einkünfte und Gefälle der Kirche zu Kirchzarten von 1600 u. 1601”32 sehen wir: Für Renovationen wurden dem Maurer Hans Walser 16 Schilling und acht Pfennig und dem Glaser Bastian Fär ein Pfund, 17 Schilling und sechs Pfennig bezahlt. Als "Herr Matthis. Pfarrherr und Thalvogt zue Baldenweg gewesen weg. St. Martinsbildt”, verzehrte er zwölf Schilling und sechs Batzen. 
Im Rechnungsbuch der Kirchenpfleger von 168132 lesen wir wieder davon, daß ein Glaser verdingt wurde (S43), vermutlich, um Kriegsschäden zu beheben. 

Der Kaplan erhielt für seine Tätigkeit in Baldenweg zusätzlich zu seinem Gehalt 10 Batzen Präsenzgeld (S.35). "Baldenweg spielt auch hier eine Sonderrolle, da in diesem Register keine weitere Kapelle genannt wird; diese zehn Batzen stehen allein hinter der 'Jahresbesoldung' von Pfarrer und Kaplan.34 Mehr als hundert Jahre später, bis zum Juni 1798, gab es noch oder zumindest wieder diese zusätzliche Zahlung für den Kaplan: das geht aus dem "Plan zur näheren Bestimmung. und Erläuterung eines jeweiligen Kaplans in Kirchzarten35 hervor. Der Kaplan hat durch ”k. k. Anordnung” (da das Dreisamtal seit dem 14. Jh. bis 1805 zu Österreich gehörte36, sind in diesem Gebiet derlei "kaiserlich - königliche Anordnungen” aus Wien relevant) eine jährliche Predigt, bisher "in der Kapelle Baldenweg” gehalten, nun in der Pfarrkirche zu halten. Die Gebühr dafür soll er weiterhin erhalten, was heißt, daß sie ihm mindestens bis zum Jahre 1798 bezahlt worden ist. Diese Tatsache wird später noch einmal  erwähnt werden.    

4.2.4 Die Bruderschaft 

Was der Kapelle ebenfalls ein besonderes Gewicht verleih37, ist die Eintragung im Pfarrbuch von 1463 von einer etwas jüngeren Hand: unter dem 11. November ist neben dem Martinspatrozinium in Baldenweg auch die Anmerkung zu finden: "et est fraternilas ibi"38 - und es gibt dort eine Bruderschaft39. Sonst findet sich nur in Kirchzarten eine Rosenkranzbruderschaft, die 1585 gegründet40 wurde. Die Bruderschaft bei der Baldenweger Kapelle wird weiter nicht erwähnt, jedoch zeugt ihre Existenz ebenso wie "die reichen Opfer am Festtag" (St. Martinstag) von  "regem kirchlichem Leben'41

4.2.5 Die Urkunde von 176542

Ein besonders interessanter Gesichtspunkt ist die Einweihung der Kapelle im Jahre 1765 durch Bischof Franz Karl Joseph Fugger. Aus der Urkunde vom 31. August 1765 geht eindeutig hervor, daß es sich um die Martinskapelle beim Baldenwegerhof gehandelt hat:
"Notum facimus (...), quod Anno Domini MDCCLXV die 31ma Mensis Augusti (...) Consecraverimus in baldenweg Capellam ei Altare in honorem S, Martini Episcopi Turonen. et Confess.” -Wir geben bekannt (...). daß wir im Jahre 1765 am 31. des Monats August (...) eingeweiht haben in Baldenweg die Kapelle und den Altar zu Ehren des HI. Martin, Bischof v. Tours und Bekenner43...-. Die Urkunde lautet -übersetzt- weiter: ...wobei wir festsetzen den jährlichen Gedenktag der Einweihung der besagten Kapelle am Sonntag nach der Geburt der seligen Jungfrau Maria. Wir wünschen daher, daß vorgenannte Kapelle und Altar mit der geziemenden Ehrfurcht zahlreich aufgesucht wird und von den Gläubigen Christi regelmäßig und andächtig besucht wird: wir gewähren im Herrn allen, die heule vorbesagte Kapelle besucht haben, ein Jahr, und denen, die am Jahrtag dieses Einweihungsfestes der genannten Kapelle zu dieser aus Demut zusammenströmen,
um ihre Gelübde zu erfüllen, im Vertrauen auf das Erbarmen des allmächtigen Gottes 40 Tage des Ablasses in der in der Kirche üblichen Form. Für den Glauben dieser diesen Brief mit eigener Hand unterschrieben und mit unserem bischöflichen Siegel gesichert gegeben ım Jahr, Monat und Tag wıe oben (= 31. August 1765)

Bei dieser Consecration muß es sich um eine Wiedereinweihung der Kapelle gehandelt haben, die schon seit mindestens einem Jahrtausend existierte. Über den Anlaß dieser Neueinweihung können wir nur Vermutungen anstellen. Womöglich wurde ein Gelübde erfüllt. Vermutlich wurde eine Renovation der Kapelle mit der Einweihung verbunden. Die letzte bekannte Erneuerung davor war im Jahr 1727, für die die Pfarrei Kirchzarten über hundert Gulden ausgeben mußte44. Wichtig ist der Ablaß, mit dem die Kapelle ausgestattet wurde. Gerade auch diese Auszeichnung der Kapelle zeigt, daß sie - vor allen anderen Nebenkapellen des Dreisamtales - eine herausragende Bedeutung gehabt haben muß und durch die Einweihung im Jahre 1765 nochmals emporgehoben wurde. 

5. DER UNTERGANG DER KAPELLE 

Daß aber die Kapelle am Anfang des 19. Jahrhunderts - keine fünfzig Jahre später! - völlig zerfallen ist, wirft wiederum neue Fragen auf: 
- Warum sank die Bedeutung der Kapelle ab? 
- Warum wurde sie dem Ruin preisgegeben? 
Bei der Untersuchung dieser Fragen weisen die Archive auf einen zeitgeschichtlichen Zusammenhang bin, auf den sogenannten Josephinismus: im Zuge der Kirchenpolitik Josephs Il. von Österreich, die u. a. beabsichtigte, die staatliche Oberaufsicht über die Kirche zu erlangen, wurde auch die Schließung möglichst vieler Nebenkapellen angestrebt. In diesem Sinne wurde auch die bereits erwähnte kaiserlich - königliche Anordnung45 (s. Kap.4.2.3) gegeben, die jährliche Predigt in Baldenweg nun in die Pfarrkirche zu verlegen. Die Dekrete aus Wien haben offensichtlich auch den Untergang von St. Martin besiegelt. 1798 wird von der "nun geschlossenen Kapelle Baldenweg” geschrieben. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Baldenweg haben diesen josephinistischen Bestrebungen vermutlich nicht viel Widerstand entgegen gesetzt, da sie Wiedertäufer46 waren, also keine Katholiken, denen die Kapelle vielleicht eher ein  schützenswertes Heiligtum gewesen wäre.   
Die Martinskapelle ist im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gänzlich verfallen und wurde vollständig abgetragen. Kolb kennt 1813 "eine alte baufällige Kapelle” bei Baldenweg47. "Nur noch in 4 elenden Mauern & einem ganz ruinösen Dach" besteht die Kapelle nach dem "Oberamtmann”49 der Gräfe von Sickingen, der ehemaligen Besitzer des Hofes, im Jahre 1810. 

6. DER RECHTSSTREIT VON 1810 UM DAS EIGENTUM AN DER KAPELLE 

6.1 Die Situation der Pfarrei Kirchzarten 

Wie stellte sich die Pfarrei Kirchzarten zur Schließung der Kapelle? Warum hat sie nicht verhindert, daß die Kapelle gänzlich verfällt? 

Die Pfarrei hatte sich zunächst den kaiserlich-königlichen Anweisungen aus Wien zu beugen, die bestimmten, daß die Kapelle geschlossen wird. In einem "Bericht über die in der Gemeinde Kirchzarten befindlichen Nebenkapellen”50 aus dem Jahre 1807 wird die Martinskapelle nicht mehr aufgeführt. Jedoch erinnert sich das Pfarramt Kirchzarten im Jahr 1810 der Kapelle und erhebt Eigentumsansprüche darauf, als das Hofgut vom Großherzogtum Baden zur Versteigerung ausgeschrieben wird.51 Der Grund für diesen Gesinnungswandel ist vermutlich im Herrscherwechsel zu finden: !80852 ging das Hofgut von den Freiherren zu Sickingen an das Land Baden durch Kauf53 über. Möglicherweise sah die bis dahin vom josephinistischen Eifer bedrängte Pfarrei Kirchzarten erst unter der neuen Herrschaft eine Möglichkeit, die Martinskapelle wıederzubeieben. 

6.2 Der Briefwechsel 

Die Auseinandersetzung, die im Jahre 1810 um die Kapelle geführt wurde, soll im Folgenden näher betrachtet werden: am 2. Juni 181054 bittet das Pfarramt in Kirchzarten, namentlich Herr Schmid, das "wohllöblich Landamt”, "die Kirche in ihrem Eigenthum zu schützen”, denn die Großherzogliche Oberverwaltung hat in ihrem "Ausschreiben des zum Verkauf bestimmten herrschaftlichen Meierhofs zu Baldenweg und Falkenbühl unter die zum Hof gehörende Gebäude auch die dortige Kapelle genennt”, wogegen Schmid behauptet, daß die "gedachte Kapelle im Eigenthum der Pfarrkirche in Kirchzarten ist". So wird also "gegen jenes Ausschreiben Protestation eingelegt”. Der Beamte der großherzoglichen Oberverwaltung, der vom zweiten Landamt Freiburg, zu dem der Hof gehört, aufgefordert wird, "sich über den Inhalt in Zeit 8 Tagen zu erklären”55, holt zunächst eine Erkundigung ein bei den letzten Besitzern des Hofgutes, den Herren zu Sickingen. Der schon einmal erwähnte Amtmann der Gräfe von Sickingen erwidert, "daß diese Kapelle wirklich samt den übrigen Gebäuden mit käuflich überlassen worden seyn’56. Von einem "Eigenthum derselben an die Pfarrkirche zu Kirchzarten” sei ihm nichts bekannt, und ebenso wenig seien in dieser Sache "Verträge oder andere Documenten unter den (...) Akten vorfindig”. Die Kapelle sei "schon über 30 Jahre lang (...) zu Haltung eines Gottesdienstes nicht mehr verwendet worden. Von einer allenfalligen Stiftung weißt man ebenfalls nichts.” 

Diese Antwort aus der Sickingischen Verwaltung ist in verschiedener Hinsicht wichtig. Die Angabe, daß spätestens bis zum Jahr 1780 der letzte Gottesdienst in der Kapelle gefeiert wurde, deckt sich nicht mit anderen Zeugnissen57, Wie wir gesehen haben. wurde bis 1798 Gottesdienst in der Kapelle gehalten (vgl. Kap. 4.2.3.). Auch die Versicherung, daß von einem Eigentum der Kapelle seitens der Mutterkirche in Kirchzarten nichts bekannt sei, zeugt von Unkundigkeit, denn die Kapelle war seit Jahrhunderten der Mutterkirche in Kirchzarten inkorporiert und von dieser - wie wir in den Kassenbüchern der Kirchenpfleger gesehen haben - auch finanziell, nıcht nur seelsorgerlich also, unterhalten wurde. Somit muß diese Auskunft als unseriös beurteilt werden. 

Dennoch stützt sich der Oberverwalter der Oberverwaltung Freiburg auf diese Darstellung, als er am 10. Juni 1810 dem großherzoglichen zweiten Landamt die geforderte Erklärung abliefert. Dabei übernimmt er Angaben über den baulichen Zustand der Kapelle, über ihre Zugehörigkeit zum Hofgut und über das Eigentumsrecht der Pfarrei Kirchzarten. Er wertet die Auskunft aus dem Hause Sickingen als "süchere Erkundigung58.  Beachtenswert ist ferner, daß dieser hohe Beamte der Oberverwaltung zwar "in jeder Hinsicht sehr befremdet”59 war über die Klage Kirchzartens, daß er aber - gleichsam als Schlichtungsversuch - den Vorschlug macht, der klagenden Kirche das Recht, "den Gottesdienst in der befragten Kapelle zu versehen”60, bei der vorgesehenen Versteigerung vorzubehalten. Wie mit diesem Vorschlag verfahren wurde, ist nicht bekannt61
In einem Beschluß vom 17. Dezember 1810 wurde die Klage abgewiesen, da "man bey den eingezogenen Berichten und (...) Untersuchungen auch nicht die geringste Spur entdeckt habe, daß diese Kapelle je ein Eigenthum der Pfarrkirche zu Kirchzarten gewesen sey"62
Der Baldenwegerhof wurde am 23.Juli 1810 mit der Kapelle versteigert. In der Versteigerungsakte steht nichts von einem Recht Kirchzartens, Gottesdienst ın der Kapelle zu halten63. Vom neuen Besitzer des Hofes wurde die Kapelle nicht mehr aufgebaut. 

7. ZUSAMMENFASSUNG 

Die Martinskapelle auf dem Baldenweger Hof reicht mit großer Sicherheit mindestens in das 8. Jahrhundert n. Chr. zurück. Sie wurde vermutlich als Eigenkirche eine fränkischen Adligen gegründet (vgl. Kap.3). Sie war als einzige alte Nebenkirche der Mutterkirche in Kirchzarten inkorporiert und hatte eine erhöhte Bedeutung gegenüber zahlreichen weiteren Nebenkapellen der Pfarrei (vgl Kap. 4). Sie war von regem kirchlichen Leben begleite, was u.a. die Bedeutung des Martinspatroziniums, die Zugehörigkeit einer Bruderschaft zur Kapelle und ihre Bedeutung als "Dorfkirche" für das Wittental bezeugen. Im 18. Jahrhundert - nach zahlreichen Renovationen im Lauf der Jahrhunderte - wurde sie neu eingeweiht und mit einem Ablaß ausgestattet (vgl. Kap. 4.2.5). 
Als der Baldenweger Hol 1805 versteigert wurde, erhob die Pfarrei Kirchzarten Anspruch auf das Eigentum an der baufälligen Kapelle. Die Klage wurde zurückgewiesen. Nach mehr als tausendjähriger Geschichte  verfiel die Kapelle völlig und wurde nicht mehr aufgebaut. Der Josephinismus hatte ihr das Ende gebracht. 

Das ist nicht nur zu bedauern, weil das Kirchlein wichtige Trägerin kultureller und kirchlicher (Heimat-)Geschichte war und - gäbe es sie noch - sein könnte, sondern gerade auch, weil sie über viele Jahrhunderte hinweg ungezählten Menschen auf dem Baldenwegerhof und im Dreisamtal Gotteshaus war. 
Vielleicht wird es einmal gelingen, durch eine Ausgrabung die Grundmauern freizulegen sowie durch weiteres Forschen in den verschiedenen Archiven die Geschichte der Kapelle weiter zu erhellen. 

An dieser Stelle gilt Herrn Oskar Steinhart, Stegen, der Dank der Autorin, für seine unschätzbare Hilfe beim Zusammentragen des Archivmaterials.

1
GLA 229/53202 (Visitationsbericht vom 28.1.1735); Übersetzung selbst angefertigt
2 Weber, Max , Geschichte der Pfarrei Kirchzarten und Weber, Max, Kirchzartener Geschichte
3 GLA 229/ 53199 
4 GLA 21/33 
5 GLA 229/115253 
6 EOA Ortsakten Kirchzarten (Bistum Konstanz)
7 ebd.  
8 Weber, Kirchz. Geschichte S.101
9 ebd. 5.98
10 ebd.5.124 
11 ebd. 
12 Berneulli, C, A. Die Heiligen der Merowinger S.35
13 Weber, Kirchz. Geschichte S.126 
14 vgl. Zentner, Christian, llustrierte Weltgeschichte
15 EOA Ortsakten Kirchzarten
16 Weber, Gesch. d. Pfarrei 5.162
17 Weber, Kirchz. Geschichte S.126
18 GLA 229/53199 
19 Weber, Gesch. d. Pfarrei S.162
20 PAK XIIL.223
21 vgl. Krieger, Topopr. Wörterbuch Bd. II 5.1484f.
22 Weber, Kirchz. Geschichte S. 115
23 Weber, Gesch. d. Pfarrei S.167
24 PAK XV,272 
25 PAK XV,274 
26 ebd. 
27 Weber, Gesch. d. Pfarrei S.166
28 PAK XV,272 
29 Kern, Franz, Das Dreisamtal S. 48
30 Weber, Gesch. d. Pfarrei S.159
31 Weber, Kirchz. Geschichte S.126
32 GLA 229/53199
33 PAK XIII,223 
34 Weber, Gesch. d. Pfarrei S.166 
35 PAK XV, 274 
36 Hıst. Atlas v. Baden - Württemberg, Karte VI,4
37 Weber, Gesch. d. Pfarrei S.166
38 ebd.
39 Übersetzung, selbst angefertigt
40 Weber. Kirchz. Geschichte S.224
41 Weber. Gesch. d. Pfarrei S.166 
42 GLA 21/33
43 Übersetzung selbst angefertigt
44 GLA 229/53202 In einem Schreiben vom 28.1.1735 heißt es, daß die Kapelle erst vor acht Jahren  renoviert worden sei
45 PAK XV 274, S.5 
46 PAK XV. 274 (Anmerkung im Verzeichnis der Pfarrei Kirchzarten von 1799)
47 Kolb, Hist.-stat.-topogr. Lexikon Bd.I S.98
48 GLA 229/115253 
49 ebd, 
50 PAK XIII,226 
51 ebd. 
52 Kolb, Hist.-stat.-topogr. Lexikon Bd.III S.394
53 GLA 229/115253 
54 ebd
55 ebd,
56 ebd
57 PAK XV 274
58 PAK XIII.226
59 ebd. 
60 ebd. 
61 Weber, Gesch. d. Pfarrei S.167
62 PAK XIIL, 226 
63 GLA 229/115253


8. ANHANG
 

8.1 Quellenverzeichnis    

Pfarrarchiv Kirchzarten (PAK)
- XIII, 223 Rechnung der Kirchenpfleger 1681/1682
- XIII, 226 
+ Aufforderung zur Erhebung aller Nebenkapellen in der Pfarrei Kirchzarten, 1807 
+ Berichte über die Nebenkapellen, 1807 
+ Stellungnahme der Oberverwaltung Freiburg vom 10.6.1810 zu einer Klage Kirchzartens 
+ Beschluß zur Klage Kirchzartens (Copia), 1810
- XV, 272 Tabelle über die Pfarrkirche zu Kirchzarten und des gesamten Kirchzartenertals mit zugehörigen Filialen
- XV, 274 
+ Verzeichnis der Pfarrei 1799 
+ Zwei Karten über die Orte des Dreisamtales von 1798 und 1799 
+ Visitationsbericht vom 28.1.1735 

Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA)
- 229/115253 
+ Brief des Kirchzartener Pfarrers zur Kapelle beim Baldenwegerhof, 1810 
+ Angaben der Verwaltung der Sickinger zur Kapelle, 1810 
+ Versteigerungsvertrag vom 23.7.1810 
+ Beschluß zur Klage Kirchzartens (vgl. PAK XIII, 226)
- 229/53199 Corpus und Rechnungen der Kirchenpfleger von 1600 u. 1601
- 229/53202 Vorschlag zur Inkorporation der Rosenkranzbruderschaft (in lateinischer Sprache), 1735
- 21/33 Urkunde über die Einweihung der Kapelle zum Heiligen Martin bei Baldenweg vom 31. August 1765 (in lateinischer Sprache)    

Erzbischöfliches Ordinariatsarchiv, Ortsakten Kirchzarten (Bistum Konstanz) (EOA)
- Fundationsbrief von 1501
- Fundationsbrief von 1344

8.2 Literaturverzeichnis

K. A. Bernoulli, Die Heiligen der Merowinger, Tübingen 1900 

Historischer Atlas von Baden - Württemberg. hrsg. von d. Komm. für Geschichtl. Landeskunde in Baden Württemberg. Wiss. Gesamtleitung: Karl Heinz Schröder (Vorsitzender), Stuttgart 1972-1988 
- Kartenteil 
- Erläuterungen Bd. 2 

Franz Kern. Das Dreisamtal mit seinen Kapellen und Wallfahrten Freiburg 1986 

J. Kolb, Historisch-statistisch topographisches Lexikon von dem Großherzogtum Baden Bd. 1-3, Karlsruhe 1813-1816 

Kreutzwald, Art.: Kirchenamt, in : Wetzer / Welte (Hg.), Kirchenlexikon, Bd.7, Freiburg 1891, S. 513 - 522 

Albert Krieger, Topographisches Wörterbuch Badens Bd. 1-2 Heidelberg 1904-1905 

W. Müller, Art.: Kirchengeschichtlicher Überblick, in: Breisgau-Hochschwarzwald, Hg. Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald, Freiburg 1988, S.184f. 

J. Sauer, Die Anfänge des Christentums und der Kirsche in Baden, in: Neujahrsblätter der Badischen historischen Kommission, Heidelberg 1911 

Karl Schmid (Hg.), Kelten und Alemannen im Dreisamtal: Beitr. zur Geschichte d. Zartener Beckens, Bühl/Baden 1983 

Max Weber. Art.: Die Kirchzartener Geschichte in: Günther Haselier (Hg.). Kirchzarten. Geschichte, Geographie, Gegenwart Bd.1, Kirchzarien 1966, S.64-128 

Max Weber: Geschichte der Pfarrei Kirchzarten. Kirchzarten 1967 

Christian Zentner Illustrierte Weltgeschichte in Farbe, München 1980