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Frau Gerda Hormes geb. 1932 erzählt

Freiburg, den 5.6.2005

Sehr geehrter Herr Kiesel;

von ganzem Herzen danke ich Ihnen für die lieben Zeilen. Jeder Moment, jede Stunde im Attental ist gegenwärtig. Meine Familie war beim Angriff auf Freiburg am 24.11.1944 vor meinen Augen getötet worden. Danach habe ich 14 Tage bis zum 10.12.1944 auf der Straße gelebt zwischen Bunker und Keller, ein Zuhause gab es nicht mehr, verwahrlost und vollkommen entwurzelt. Es gab niemand der mich aufnehmen wollte. So bin ich am 10.12.1944 beim Bauer Josef Vogt im Attental gelandet. Ich kannte die Fam. Vogt. Sie behielten mich gleich da. Meine Kindheit war vorbei, nach Kräften musste ich hart arbeiten. Es gäbe viel zu berichten. - Alles habe ich ertragen. Die intakte Familie meiner Eltern und uns zwei Kindern hat mit im überleben viel geholfen. Dankbar bin ich jedem im Attental der ein gutes Wort für mich hatte.

Ihre Frage kann ich leider nicht beantworten, bedenken Sie, ich war erst 12 Jahre alt. Haben Sie Verständnis für meine Lage. Die Sorgen der Erwachsenen waren nicht meine Welt. Ich hatte in all meiner Not andere Sorgen. Ich sollte und mußte mich als Erwachsener benehmen und hatte doch noch die Seele eines Kindes.

Nochmals zu Ihrer Frage: In der Villa waren Kinder die Tbc hatten, so viel ich weiß aus Mannheim. Immer wieder andere, in Abständen.

Lehrer Eigeldinger hat sich dort im Wald mit seiner Frau versteckt gehalten vor Angst, was er sich als Nazi hat zu Schulden kommen lassen. Es gab aber Menschen, die ihm in seiner Not zu essen brachten. Mit seiner Frau hat er sich das Leben genommen. Geächtet wurde er an einer Mauer im Kirchzarten-Friedhof verscharrt. So habe ich es als Kind verstanden. Wer war damals nicht ohne Schuld? Ich bin ein Kriegskind, was bedeutet das schon. Es ist modern geworden darüber zu reden. Wir waren und sind die Verlierer von damals. Kinder die nie gehört wurden, mal hat uns alle mit unseren Schmerzen alleine gelassen. - Mit 12 Jahren den Erwachsenen zu spielen war sehr hart. 

Anbei überlasse ich Ihnen eine Original Abschrift meiner Aufzeichnungen an die Badische Zeitung vom 7. 2. 2005. Wieder einmal nicht genau abgedruckt.


Mit Grüßen Gerda Hormes


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Sehr geehrte Frau Hormes,


vielen Dank für Ihren schönen Brief. Ich habe mich sehr darüber gefreut. 

Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Sie diese Erinnerungen noch stark beschäftigen, zumal Sie sicher die Artikelserie im Rahmen der Zeitungs-Aktion gelesen haben und fast vergessenes wieder auftauchte.

Ich selbst wurde erst 1947 geboren, im Schwäbischen, habe nur noch Erinnerungen an die Amerikaner. An Tauschgeschäfte Most gegen Kaugummi. Also nichts schlimmes.


Ihren Brief habe ich beim letzten Treffen des „Heimatkundlichen Arbeitskreises Stegen“, am vergangenen Dienstag, dem Herrn Oskar Steinhart aus Wittental gezeigt. Herr Steinhart war gleich ganz aufgeregt. Er erzählte, dass er zu der Zeit als Sie in Attental waren, 1944, 5 Jahre alt war. Der Bauer Josef Vogt mit ihm verwandt sei, er in dieser Zeit oft mit seiner Oma von Wittental ins Attental gegangen sein. 

Herr Steinhart sagt, dass es sehr gut möglich sein kann, dass Sie beiden sich damals getroffen hätten. Er erinnert sich auch an einen zweiten Hund des Bauern mit dem Namen „Mohrle“. Herr Steinhart kannte auch die Tochter des Bauern Vogt, Maria,. Sie starb wohl schon mit 40 Jahren.


Ich habe Herrn Steinhart eine Fotokopie Ihres Briefes gegeben und er bat mich seine Adresse an Sie weiterzugeben, damit sie, wenn Sie mögen, vielleicht noch gemeinsame Erinnerungen entdecken können. 

Vielleicht haben Sie ja Lust sich bei ihm zu melden


Frau Hormes, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihren Brief und Ihren Bericht in unsere Sammlung im Internet aufnehmen würde. Es ist doch ein wichtiger Zeitabschnitt der Heimatgeschichte, der nicht vergessen werden darf.


Frau Hormes, hätten Sie Lust mal zu uns nach Wittental zu unserem Treffen zu kommen. Sie erzählen uns und wir hören Ihnen zu.

Ich würde Sie in Freiburg abholen und wieder nach Hause bringen. Was denken Sie darüber?

Wir könnten einen Termin vereinbaren, wann immer es Ihnen recht ist.


Für heute ist es genug.

Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen

KK


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Gerda Hormes


An die Badische Zeitung

Zu Hd. Herrn Bernd Serger


Zum Einmarsch der Franzosen in Freiburg 1945.


Am 27.11.1944 habe ich meine ganze Familie durch den Bombenangriff verloren.

Zu lesen in:“ Zeitzeugen berichten“, Wiederkehr 50. Jahrestag, Promo Verlag 1994.

Bomben auf Freiburg: 60. Jahrestag 2004.


Als die Franzosen einmarschierten hat mich der Bauer, welcher mich am 10.12.1944 als Schweinehirt aufgenommen hat mit 5 Schafen ‚die ich immer hüten musste, ohne jeden Schutz eines Erwachsenen hinauf auf den Berg zwischen Attental und Wittental geschickt. Ich musste höllisch aufpassen, dass mir keines verloren ging. Einen Zaun hatte man damals noch nicht für die Tiere. Im Wald war eine Lichtung und ich konnte weit hinunter ins Dreisamtal sehen. Von da sah ich die Panzer, ich hörte das Donnern der Kanonen. Immer wieder schlugen Granaten ein oder was es war. Das Feuer davon spritzte in die Höhe. Wo Mütter mit Kinder und alten Leuten im Keller oder Bunker Schutz fanden, war der Wald mein Zuhause, die Tiere meine einzigen Begleiter. So ist es, wenn man Waisenkind ist, heimatlos, rechtlos, ohne jeglichen Schutz. Ich wusste zu sehr was mir am 27. 11. 1944 angetan wurde. Ein paar Tage später kamen auf einem Lastwagen ca 4 Franzosensoldaten ins Attental gefahren. Ich war mit Kinder aus Freiburg, die der Bauer aufgenommen hatte, gegenüber über dem Weg vom Bauernhaus im Schopf . Der Hund bellte laut. Es war der Fips, wir hatten ihn alle lieb, weil er das Gehöft wachsam beschützte. Die Franzosen fuhren zum nächsten Hof, kehrten zurück, zwei Soldaten sprangen mit Gewehren vom Auto zu uns Kinder, dort sahen sie die Hasen. Sie wollten stehlen oder plündern. Ich stellte mich ihnen in den Weg. Keiner der Kinder traute sich. Ich riss ihm den Hasen weg. Der Hund bellte entsetzlich, er war an der Kette, also keine Gefahr für die Franzosen. Da nahm der zweite Franzose sein Gewehr voll in Anschlag, richtete es gegen mich und in diesem Moment pfiff die Kugel an meinem rechten Ohr eng vorbei. Der wehrlose Hund war bald darauf tot. Wieder war es ein grausames, sinnloses Töten. Den Hund haben wir dort im Berg, wo ich die Schafe hüten musste, begraben. Die Kinder weinten bitterlich, mir war das Weinen vergangen. Besonders die 16-jährige Tochter des Bauern, Maria, war ein verschlossenes Mädchen hing sehr an dem

Hund. Er war in all ihrer persönlichen Not ihr einziger Freund. Die Franzosen habe ich damals als Zwölfjährige für mich nicht als Befreier empfunden.

Es blieb mir verschlossen noch ein Kind zu sein.


Freiburg, 7. Februar 2005 Gerda Hormes




Neujahr 1943/44 2005


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Gerda Hormes: “Meine Kindheit war vorbei”
Die 70-jährige Gerda Hormes erinnert sich an den Angriff auf Freiburg am 27. November 1944.


freiburg1944-nussmannstrasse    Die Nussmannstrasse nach der Bombardierung 27.11.1944

Der Abend des 27. November 1944 begann. Es war eine Woche vor dem 1. Advent. Meine Eltern betrieben in der Nussmannstraße 6 das Blumengeschäft Hundt-Guteche. Vater war für zwei Tage zu Hause, um der Mutter beim Vorbereiten auf die Weihnachtszeit zu helfen. An jenem Abend sollte er wieder im Lazarett St. Agnes sein. Vater war seit dem 1. September 1939 eingezogen. Angestellte waren am Westwall schippen.
Wir hörten den Voralarm, Vater war schon bereit. Er kam nicht mehr fort. Flieger warfen Bomben über die Stadt. Mutter war schon voller Angst in den unteren, tiefen Keller gerannt. Wir, mein Bruder und ich, hinterher. Mutter rief laut nach Vater. Er war noch oben. Von den Schreien meiner Mutter aufgeschreckt, lief ich wieder die Treppe vom Keller hinauf, um ihn zu holen. Die Gefahr, in der ich mich befand, war mit nicht bewusst. Seltsamerweise hatte ich keine Angst. Vater zog mich schnell die Treppe wieder hinunter. Mein Bruder Karl, er ist dreieinhalb Jahre älter als ich, stand wie versteinert da. Mutter kauerte am Boden, hob die Hände gefaltet zum Gebet und schrie das “Vater Unser” zum Himmel. Schnell gab sie mir ihre Pelzstola und rief “Binde sie dir über den Kopf”. Die Seitenwand stürzte ein und begrub meine Mutter. Sie ist unter den Steinmassen erstickt. Ihre Schreie beim Sterben waren furchtbar. In meinem ganzen Leben haben sie mich begleitet.

Das Licht brannte noch, oder war es schon der Feuerschein? Noch immer habe ich das Entsetzen im Gesicht meines Vaters vor Augen, als er mich von den Trümmern befreien wollte, die mir bis über die Schultern reichten. Er sprach kein Wort. Ein letzter Händedruck. Mit seinem Gesicht fiel er an meine Brust. Noch immer habe ich seine Hände gehalten, die er fest hielt, um mich aus den Trümmern zu ziehen.

Ich konnte nicht begreifen, dass er tot war. Wie nach außen hin still hat sich sein Tod vollzogen. Ich schrie und schrie. Mein Bruder irrte im Keller herum. Ich sagte zu ihm, dass Papa und Mama tot seien, er antwortete “Sie stehen neben mir und sprechen zu mir.” Er muss wohl irre geworden sein. Er ist verbrannt, man fand seinen Körper bei Ausgrabungen im Haus 45. Ich war in den Trümmern eingeschlossen, konnte mich selbst nicht befreien. Das Wasser ergoss sich aus den zertrümmerten Rohren. Ich merkte, dass ich nass wurde. Auf meine Schreie hin kam ein Mann in den Keller.

“Mutters Schreie beim Sterben waren furchtbar. Mein Leben lang haben sie mich begleitet.” Gerda Hormes

Es gelang ihm nicht, mich heraus zu ziehen Er ging wieder weg. Wieder war ich alleine. Bei den Toten. Ich merkte, dass ich mich erbrechen musste. Damit ich mich nicht beschmutzte, grub ich neben mir mit den Händen ein Loch und tat es hinein, deckte den Schutt darüber. Meinem Vater schüttelte ich in Verzweiflung den Kopf, ich betastete seine Haare, seinen Mund und die Augen. Alles war leblos, ohne Kraft. Dann habe ich ihm den Ehering ausgezogen. Ich wusste, dass man das bei Toten so macht.
Wieder kam jemand auf meine Schreie hin. Ein Begriff von Zeit hatte ich nicht mehr. Der Schein einer Taschenlampe leuchtete mir ins Gesicht. Ein junger Soldat zog mich mit letzter Kraft aus den Trümmern. Nun konnte ich nicht mehr laufen. Die Trümmer haben zu sehr auf meinen Beinen gelastet. Ich fiel über die anderen Tote, die da noch waren, und nur langsam kam das Gefühl wieder. Ich sagte ihm, dass da noch die toten Eltern wären, aber er meinte: “Hauptsache wir retten ein junges Menschenleben.” Er schob mich vor sich eine brüchige Leiter in den oberen Keller hinauf und dann weiter in den Garten vom Hotel Kopf. Das Feuer kam schon ebenerdig aus dem Haus heraus. Dort oben im Kopf-Garten ließ er mich stehen und ging weg. Ich weiß nicht, wer er war. Überall lagen Trümmer herum, und es regnete Feuer vom Himmel.
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Ich war grenzenlos allein.
Eine Frau warf mir ein nasses Stück Tuch zu und rief voll Entsetzen: “Du fängst ja Feuer!” An diesen Wunden musste ich hinterher noch ein Jahr lang tragen. Der Phosphor hatte mir Brandwunden dritten Grades in die Haut gebrannt. Nun lief ich anderen, fremden Leuten hinterher. Den Ehering meines Vaters verwahrte ich an meinem Daumen. Später hab ich ihn am Kornhaus, als ich über die Trümmer hinunter gefallen bin, verloren. Jemand gab Sprudel aus, er war süß. Damit habe ich mein Gesicht nass gemacht, da war alles noch schlimmer, der Dreck an mir, die verklebten Haare. Die Flasche war nun außer dem nassen Tuch mein kostbarster Besitz. Weiter ging es über die Trümmer an brennenden Häusern vorbei zum Kornhaus auf dem Münsterplatz.
Auf dem Münsterplatz waren kaum Leute. Ich schaute zu, wie das Bettenhaus Herzog und die Volksbücherei brannten. Da sah ich jemand am Münster, der die Türe abschloss. Eine Frau, sie schickte mich in den Bunker.
Weiter ging ich in die Herrenstraße, zur Burgstraße, heutige Schoferstraße. Die Schlossbergstraße hinunter in den Bunker. Dort suchte ich meine Oma, die war im Evangelischen Stift. Ich fand sie nur mit einem Nachthemd bekleidet, keine Schuhe, keine Strümpfe an, keine Unterwäsche. Sie weinte und lachte. Sie begriff nicht mehr, dass sie tot seien. Sie sagte nur, sie möchte etwas zum Essen. Ich ging zum Roten Kreuz im Bunker und bettelte für meine Oma um Brot und Tee. Oma aß und trank. Ich selbst konnte nichts essen. Oma verlor ich aus den Augen. Ein Jahr später erfuhr ich, dass sie am 13. Dezember 1944 gestorben ist, an den Folgen des Angriffs.
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Die Kleider hingen als Fetzen an mir herunter. Jemand gab mir einen langen schwarzen Mantel. Ich musste ihn immer hoch heben, sonst wäre ich hingefallen. Aber ich habe nicht mehr so sehr in meinen nassen Kleidern gefroren.
Die Kinder vom Waisenhaus waren auch da. Eine Aufseherin wollte mich festhalten. In einem unbeobachteten Moment schlich ich mich weg. Ich wusste, dass die Kinder im Waisenhaus immer dieselben Kleider trugen, das wollte ich keinesfalls. Der Gedanke, dass ich noch viel ärmer aussah, kam mir nicht.
Menschen im Bunker gaben mir den Trost auf den Weg, dass die Eltern und der Bruder jetzt im Himmel seien und sie es dort gut hätten. Ich war ein Kind, ich habe es wirklich geglaubt!
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Die Nacht wollte nicht enden. Am anderen Morgen bin ich ins Lazarett St. Agnes gelaufen, wo mein Vater Soldat war. Unterwegs traf ich Dr. Bader, Stabsarzt. Er war der Chef vom Gefangenen-Lazarett. Er war erschüttert über meinen Bericht, wusste er doch nun, warum mein Vater nicht in den Dienst gekommen war.
Nach zwei Tagen holte mich dort ein Dienstmädchen meiner Eltern ab. Bei ihr verbrachte ich die nächsten zehn Tage zwischen Bunker, Keller und Straße und verwahrlost, total verwahrlost.

Am 10. Dezember 1944 machte ich mich auf den Weg zu einem Bauern im Attental bei Ebnet, um Brot und Milch zu betteln. Er behielt mich gleich da mit dem Vermerk, dass er einen Sauhirt brauche. Von da an wurde wieder einigermaßen für mich gesorgt. Dafür musste ich nach Kräften sehr hart arbeiten. Meine Kindheit war vorbei.
Badische Zeitung BZ Ticket am Mi, 27. November 2002

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Gerda Hormes (87 Jahre) aus Freiburg-Littenweiler:

"Meine Kindheit war vorbei"


"Der Abend des 27. November 1944 begann. Meine Eltern betrieben in der Nussmannstraße 6 das Blumengeschäft Hundt-Gutsche. Vater war seit dem 1. September 1939 eingezogen; er war nur für zwei Tage zuhause. Flieger warfen Bomben über die Stadt. Mutter war schon voller Angst in den unteren, tiefen Keller gerannt. Wir – mein 15-jähriger Bruder Karl und ich, 12 Jahre alt – hinterher. Mutter rief laut nach meinem Vater. Mein Bruder stand wie versteinert da. Mutter kauerte am Boden, hob die Hände gefaltet zum Gebet und schrie das Vaterunser zum Himmel. Die Seitenwand stürzte ein und begrub meine Mutter. Sie ist unter den Steinen erstickt. Ihre Schreie beim Sterben waren furchtbar. Mein Leben lang haben sie mich begleitet.


Noch immer habe ich das Entsetzen im Gesicht meines Vaters vor Augen, als er mich von den Trümmern befreien wollte, die mir bis über die Schultern reichten. Er sprach kein Wort. Ein letzter Händedruck. Mit seinem Gesicht fiel er an meine Brust. Noch immer habe ich seine Hände gehalten, mit denen er meine festgehalten hatte, um mich aus den Trümmern zu ziehen. Ich konnte nicht begreifen, dass er tot war. Wie nach außen hin still hat sich sein Tod vollzogen. Ich schrie und schrie. Mein Bruder irrte im Keller herum. Er muss wohl irre geworden sein. Er ist später verbrannt. Ich war in den Trümmern eingeschlossen, konnte mich selbst nicht befreien. Ich war völlig nass durch die zertrümmerten Rohre. Auf meine Schreie hin kam ein Mann in den Keller. Es gelang ihm nicht, mich heraus zu ziehen. Wieder war ich alleine bei den Toten. Meinem Vater schüttelte ich in Verzweiflung den Kopf, betastete seine Haare, seinen Mund und die Augen. Alles war leblos, ohne Kraft.


Wieder kam jemand auf meine Schreie hin. Ein junger Soldat zog mich mit letzter Kraft aus den Trümmern. Ich konnte nicht mehr laufen. Ich fiel über die anderen Toten, die da noch waren. Nur langsam kam das Gefühl in den Beinen wieder. Im Garten des zerstörten Kaffeehauses "Zum Kopf" ließ er mich stehen. Überall lagen Trümmer herum und es regnete Feuer vom Himmel. Ich war grenzenlos allein. Eine Frau warf mir ein nasses Tuch zu und rief voll Entsetzen: "Du fängst ja Feuer!" An diesen Wunden musste ich hinterher noch ein Jahr lang tragen. Der Phosphor hatte mir Brandwunden dritten Grades in die Haut gebrannt.


"Es vergeht kein Tag in meinem Leben ohne ein Gedenken an meine Liebsten."


Ich wollte im Münster Zuflucht finden, aber ich wurde nicht hereingelassen. So ging ich über die Schoferstraße in dieser Nacht in den Bunker. Dort traf ich meine Oma, nur mit einem Nachthemd bekleidet. Sie weinte und lachte. Sie begriff nicht mehr, dass Eltern und Bruder tot seien. Ich bettelte für meine Oma beim Roten Kreuz im Bunker um Brot und Tee. Ich selber konnte nichts essen. Oma verlor ich aus den Augen. Ein Jahr später erfuhr ich, dass sie an den Folgen des Angriffs gestorben ist. Die Nacht wollte nicht enden. Für die nächsten zehn Tage fand ich Unterschlupf bei Bekannten zwischen Bunker, Keller und Straße, war verwahrlost, total verwahrlost. Am 10. Dezember 1944 bin ich für ein Jahr als "Sauhirt" bei einem Bauern im Attental untergekommen. Meine Kindheit war vorbei.


Es vergeht kein Tag in meinem Leben ohne ein Gedenken an meine Liebsten. Zu tief sitzt der Schmerz. Nie, in meinem ganzen Leben, habe ich deshalb gehasst. Meinen guten Weg habe ich nicht verloren. Am Jahrestag gedenken wir aller beim Angriff umgekommenen Menschen und ihrer Schicksale. Krieg – das größte Verbrechen der Menschheit, sinnloses Zerstören von Menschenleben."


Badische Zeitung, Mittwoch 27. November 2002