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LEO FALLER
Aus meinem Leben
Erinnerungen
erzählt von Leo Faller
aufgeschrieben von Poldi Rombach
©: Leo Faller und Poldi Rombach St. Peter 2017

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Leo Faller 1925 - 2021


Vorwort

Wenn man Leo Faller im Dorf begegnet, sei es bei einer Veranstaltung oder einer Geselligkeit oder auch nur im Vorübergehen, dann nimmt er einen ganz schnell ein mit seinem Witz und seiner schelmischen Heiterkeit. Wenn es dann aber noch ein wenig mehr Zeit gibt und Leo aus seinem Leben erzählt, dann scheint aus seinen Geschichten immer etwas auf von Mutterwitz, Geistesgegenwart und Lebensmut. Aus vielen seiner Erlebnisse kann man etwas mitnehmen: das ist seine Grundeinstellung, auf die Menschen zuzugehen, etwas Verfahrenes wieder in Gang zu bringen und etwas Schwieriges wieder ins Gute zu wenden.
Von Leos lebensvoller Haltung zeigte sich auch immer wieder sein Nachbar Prof. Gerhard Rückert beeindruckt und schlug deshalb nachdrücklich vor, Leos Erinnerungen einmal schriftlich festzuhalten. Gerhard Rückerts Unterstützung verdanken wir es, dass hier nun eine kleine Autobiografie von Leo Faller vorgelegt werden kann. Ich selbst habe mich zu ihrer Abfassung im Frühjahr 2017 mehrmals mit Leo getroffen, um mir aus dem Schatz seiner Lebenserinnerungen erzählen zu lassen. Es versteht sich von selbst, dass diese Treffen immer vergnüglich und anregend waren und mir selber am meisten mitgaben: „Man muss sich immer zu helfen wissen“ und „Es geht immer vorwärts, nie rückwärts!“
 Poldi Rombach

LEO FALLER
Heimat im Fallerhäusle
Geboren wurde ich im Jahre 1925 und kam als siebtes von neun Geschwistern in dem Haus bei der großen unteren Kurve beim Oberbauernhof zur Welt. Mein Vater hatte das Haus 1922 auf einem vier Ar großen Grundstück erbaut, das er dem damals verschuldeten oberen Bur abgekauft hatte. Unser Haus lag an einem Abschnitt der Eschbachstraße, der etwa vom Gasthaus Kreuz in St. Peter bis zum Schwobenbur in Eschbach reichte. Dieser Abschnitt gehörte zum Zuständigkeitsbereich meines Vaters, der beamteter Straßenwärter war.
Mein Vater Julius war ein ruhiger, besonnener und umgänglicher Mann, der bisweilen auch etwas in sich gekehrt war und mit allen Menschen zurecht kam. Sein größtes Talent lag im Umgang mit Zahlen, er war ein richtiges kleines Rechengenie. Wohl stand er auch ein bisschen unter der Fuchtel meiner Mutter. Sie nämlich war ziemlich rigoros, ungeheuer katholisch und erzkonservativ. Einmal, als ich tatsächlich oder angeblich etwas angestellt hatte, hetzte sie meinen Vater gegen mich auf und hieß ihn, mir den Hintern zu versohlen. Mein Vater stürzte ins Zimmer, machte die Tür hinter sich zu und lärmte, brüllte und schalt lautstark mit mir herum. Dann zwinkerte er leise und kopfschüttelnd mir zu, winkte ab und verschwand wieder aus dem Zimmer. Die Stimmung im Haus war manchmal ziemlich angepasst und unterdrückt. Meine großen Schwestern kuschten brav vor der Mutter und luden dann auf mir ab, indem sie mich foppten und hänselten oder wenigstens nicht wirklich ernst nahmen. Vor dieser langweiligen Dumpfheit floh ich so oft wie möglich nach St. Peter. Dort, im Gasthof Kreuz bei Kritzwirts, waren meine besten Kumpels, der Gottfried und der Franz. Dort war immer was los, dort gab es eine Freilichtkegelbahn, dort hatten wir unsere Jugendabenteuer und es war fast so etwas wie meine zweite Heimat. Die Kritzwirtin war eine herzensgute Frau, die immer sehr liebevoll mit mir umging. Bevor ich als heim ging, sagte sie immer "Komm, Bub, kriegst noch was zum Essen.“
Ein anderer Ort, an den es meine Freunde und mich sehr hinzog, war der Schafhof in St. Peter. Mit der Familie vom Schafhof waren wir bekannt, weil mein Vater früher einmal dort Rosser gewesen war. Vor allem zog es mich aber dorthin, weil es beim Schafhof einen Schießstand vom Schützenverein gab. In den Wiesen westlich der Kapelle stand eine kleine Blockhütte, und dort wurde mit KK und Luftgewehr auf 50 und 10 Meter geschossen. So oft wir konnten, gingen die Kritzwirts-Buben und ich mit dem Fahrrad dort hin. Vor allem der Heiner und der Paule vom Schafhof waren auch oft dort und brachten uns das Schießen bei. Das war schon eine großartige Sache für uns Buben. Die Frauen auf dem Schafhof hatten natürlich ein bissle Angst um uns und die Kreszens versuchte immer, uns wegzulocken, indem sie uns zu einem Vesper auf dem Hof einlud.

Kirschen für den Ministranten
Weil meiner Mutter daran lag, einen braven Menschen aus mir zu machen, stellte sie mich schon früh unter den segensreichen Einfluss der Kirche und drängte mich, zu den Ministranten zu gehen. So wurde ich mit neun Jahren bereits Ministrant. Ich war nicht gerade begeistert hierüber, aber Ministrieren war immerhin noch besser als zu einem Bauer gehen und Kühe hüten. Die Priester im Priesterseminar mussten damals ja jeder jeden Tag eine Messe lesen. Dabei spielte es sich so ein, dass jeder Priester einen festen Leibministranten hatte, der ihm regelmäßig zur Messe diente. Ich diente mehrere Jahre dem Subregens Graf, der aus der Gegend von Bühl stammte. Im Frühsommer, wenn die Kirschen reif waren, brachte dieser immer Körbe mit Kirschen mit und gab mir großzügig einen großen Teil der Ernte ab. Auch erhielt ich ein regelmäßiges Ministrantengehalt, das sich auf stattliche 10 RM pro Jahr belief, das war schon eine sehr stattliche Aufwandsentschädigung. Als Graf 1938 starb, wurde ich der Ministrant von Seitterich, bis ich 1940 eine Koch-Lehre begann und das Ministrieren aufgab.

Genugtuung des Hirtenbuben
Mit zwölf wurde ich als Hirtenbub auf einen Bauernhof geschickt. Viele bürgerliche Familien aus dem Dorf schickten damals eines oder mehrere ihrer Kinder als Kinderarbeiter auf Bauernhöfe, um sie zuhause aus dem Futter zu haben. Dieses Hütebubendasein auf den Höfen war in den meisten Fällen ziemlich hart und entbehrungsreich, es gehörte aber ganz selbstverständlich zum ländlichen Leben der damaligen Zeit. Deshalb war auch die Organisation des Schulwesens auf diese Kinderarbeit abgestimmt. Damals gab es die sogenannte Hirtenschule, d.h. am Vormittag war nur Unterricht für die Grundschüler, am Nachmittag für die Hauptschüler. Man sagte die „große Schul“ und die „kleine Schul.“ In den Vormittagsstunden hüteten also die älteren Kinder ab der fünften Klasse das Vieh und mussten dann gegen Mittag die Tiere in den Stall bringen, sie mussten "einfahren". Das sollte aber erst kurz vor zwölf geschehen. Da war aber auch schon das Mittagessen, und bereits um 3/4 eins ging die Schule los und man musste furchtbar rennen, um dort nicht zu spät zu kommen. Weil ich erst gegen zwölf einfahren durfte, gab es oft kein Essen mehr für mich. "Jetzt sind wir schon fertig" hieß es dann und niemand hatte etwas für mich aufgehoben. Das war eine verdammte Ungerechtigkeit, die ich nicht länger ertragen wollte. Da musste etwas geschehen. Nun lag bei allen Bauernhöfen neben dem wohnhausseitigen Eingang vom Stall das sogenannte Milchhaus. Das war ein kleiner gemauerter Anbau mit zwei oder drei Holztüren, und am äußersten Ende des Milchhauses lag der Brunnentrog. Im Inneren hatte das Milchhaus eine große gemauerte Mulde, die Tag und Nacht vom kühlen Quellwasser durchflossen wurde. In diesem kalten Wasser standen die großen blechernen Milchkübel zur Kühlung. Es standen darin aber auch die schönen Töpfe mit der guten fetten Sahne. Immer wenn ich also nichts mehr zum Mittagessen bekommen hatte, lief ich zum Milchhaus und nahm einen tiefen Zug von der nahrhaften Sahne. Natürlich wurde ich eines Tages dabei erwischt und es gab einen großen Krach. Ich ließ mich davon aber nicht einschüchtern. Mir reichte es ohnehin schon lange auf diesem Hof. Ich habe den Leuten dort klar gemacht, dass ich nicht mehr komme und bin weg, ab nach Hause. Ja, eine freche Klappe hatte ich schon immer. Zur Strafe für meinen Sahneklau richtete meine Mutter es im Kloster so ein, dass ich immer schon im ersten Gottesdienst früh morgens um sieben ministrieren musste. Diese Strafe war aber nicht wirklich schlimm für mich und eigentlich sogar eine Verbesserung meines Lebens, wie ich vorhin schon übers Ministrieren gesagt habe. Ich habe durch dieses Erlebnis schon gelernt, dass man mit etwas Mut und Beherztheit eine Sache oftmals zum Besseren hin wenden kann.

Ins richtige Leben
Mit dem Ende der Schule stellte sich die Frage, was ich mal werden sollte. Doch wurde diese Frage nicht lange diskutiert, sondern bald auf sehr einfache Weise beantwortet. Während des ersten Weltkriegs hatte nämlich mein Vater im Lazarett den späteren Hirschenwirt Heinrich Baudendistel kennen gelernt. Als dieser dann in den dreißiger Jahren den Hirschen betrieb und Bürgermeister wurde, hatte er aus weitblickendem Brancheninteresse damals schon zu meinem Vater gesagt: "Dein Bub wird mal Koch!“ Also wurde ich eben Koch. Lange Abwägungen oder Betrachtungen über Traumberufe und Selbstfindungen kamen uns damals gar nicht erst in den Sinn. Im Jahr 1940 kam ich also mit 15 als Kochlehrling nach Freiburg in das „Wein-Bier-und Speisehaus alte Burse" im Bursengang.
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Auf dem Dachgarten der "Alten Burse"

Die Burse war ein großer leistungsfähiger Betrieb mit mehreren gastronomischen Klassen. In der Küche waren wir drei Lehrlinge, drei Köche und ein Küchenchef. Die Küche war durchaus modern aufgezogen, sie bediente auch das nah gelegene Restaurant "Berthold Schwarz", das dem vermögenden Großunternehmer Erich Pyr gehörte. Von Berthold | Schwarz kamen per | Rohrpost die Bestellungen zu uns in die Küche, und "7 die Bestellungen wurden PR durch ein automatisches FW Auf dem Dachgarten... Transportsystem mit Schienen und Aufzügen ins Restaurant befördert. In den Kochberuf, den ich mir nicht als Traumberuf ausgesucht hatte, schickte ich mich schnell und fand bald sogar richtige Freude daran. Es war schließlich eine saubere und interessante Arbeit. Ich stellte mich geschickt an, lernte schnell und erledigte meine Aufgaben gewissenhaft und zuverlässig. Die Geschäftsführerin war eine herzhafte Bayerin namens Frau Widmann, die meine gewissenhafte Einstellung bald erkannte und schätzte. Ich bekam bald auch anspruchsvollere Aufgaben zugewiesen. So musste ich Frau Widmann beispielsweise bei der Planung der Warendisposition und Lagerhaltung helfen. Schließlich wurde mir sogar der Schlüssel des Vorratslagers ausgehändigt, ein beson derer Vertrauensbeweis. naF Eines Tages kam mein ..der „Alten Burse Vater in den Betrieb, um mal zu erfahren, wie ich mich anstellte. Die Chefin äußerte sich durchaus lobend über mich, und darauf war ich mächtig stolz. Auch entstand zwischen ihr und meinem Vater gleich ein anerkennendes und respektvolles Verhältnis. Freitags war Ruhetag. Da fuhr ich vormittags mit dem Fahrrad nach Hause und am Abend wieder zurück in die Lehrlingsstube. Bevor ich heim fuhr, steckte mir Frau Widmann dann immer noch drei schöne Zigarren mit freundlichen Grüßen für meinen Vater zu.

Beim R.A.D.

Im Januar 1943, als ich siebzehn war und die Kochlehre zur Hälfte durchlaufen hatte, war es dann ganz plötzlich aus mit der Tätigkeit in der Wärme der Bursen-Küche. Ich bekam die Einberufung zum Reichs-Arbeitsdienst, kurz RAD genannt. Der RAD war ein paramilitärisch aufgezogener gemeinnütziger Dienst, den alle jungen Männer und Frauen ableisten mussten. Er dauerte teilweise sechs Monate, in meinem Fall nur ein viertel Jahr. Sinn war die Nutzung der ehrenamtlichen Arbeitskraft für den Staat sowie die Ertüchtigung und Erziehung der Jugendlichen zum Nationalsozialismus. Nach der Einberufung machte mein Vater eine dringliche Eingabe, mich zurückzustellen und erst die Lehre abschließen zu lassen, aber dem wurde nicht stattgegeben. Zusammen mit ein paar anderen jungen Burschen aus St. Peter meldete ich mich bei der RAD Geschäftsstelle in der Nähe des 12 Bahnhofs. Meine St. Peterer Freunde wurden zum Dienst ins Wiesental kommandiert. Dann aber hieß es "Wo ist der Faller?" Von dem Kommandeur erhielt ich die Order und Fahrkarte nach Kessfeld in der Eifel. Ich begriff erst überhaupt nicht, was das sollte. Als ich in dem dortigen Lager ankam, begriff ich es: Man Als Rekrut April 1943 brauchte dort einen Koch für die Lagerküche, der bisherige Koch war gefeuert worden. Was mich dort empfing, würde man heute als Praxisschock bezeichnen. Ich hielt mich aber nicht lange damit auf, geschockt zu sein. Ich bekam eine rigorose Einweisung in meine Tätigkeiten und war ab sofort verantwortlicher Lager koch für 160 Leute. Lediglich ein ebenfalls noch nicht ausgelernter Metzgergeselle wurde mir als Helfer zugeteilt. Die Logistik und Einteilung der Arbeitsabläufe forderte mir einiges ab. Ein Teil der Lagermannschaft aß nämlich im Lager, ein anderer Teil blieb draußen vor Ort an der Arbeitsstelle, z.B. beim Schanzen, und bekam das Essen dorthin geliefert. Dazu kamen des Öfteren Zusatzprogramme, wenn die Feldwebel oder Oberfeldmeister der Lagerleitung, also die Herrschaften in Offiziersrängen, gewisse feine Extrawünsche anmeldeten: mal eine Poularde, mal Pasteten oder Pommes Frites, was damals eine Besonderheit war. Irgendwie schaffte ich es, das alles auf die Reihe zu kriegen und hatte meinen Betrieb gut in Schuss. Einmal wöchentlich wurde von den Oberfeldmeistern kontrolliert, hinsichtlich Ordnung, Sauberkeit und Zuverlässigkeit und ich bekam immer ein anerkennendes Lob. Im April 1943 wurde ich bereits aus dem RAD entlassen. Bei der Entlassung erhielt ich ein hervorragendes Zeugnis, das mir auf meinem späteren Weg noch nützen sollte, als ich es bei entsprechenden Dienststellen im Krieg vorzeigte.

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Als Rekrut April 1943

Auf meinem ganzen bisherigen Lebensweg, also in der Schule, der Ausbildung und beim RAD, hatte es sich immer als richtig gezeigt, dass ich ehrlich und wahrhaftig war. Nur bei ganz gelegentlichen Ausnahmen half mir eine innere Eingebung, die Wahrheit ein bisschen, wie soll ich sagen, geschönt hinzustellen. Eines Tages erschienen nämlich beim RAD ein paar schneidige Herren der Waffen-SS und suchten nach jungen Männern, die ihnen begabt erschienen, um sie für die SS anzuwerben. So hatten sie auch mich im Visier. Instinktiv war mir diese Geschichte gar nicht geheuer. Da fiel es mir ein, irgendwie ganz forsch ein zu sagen: "Ich hab mich leider schon freiwillig zur Division Großdeutschland bei der Wehrmacht gemeldet, wo mein Bruder bereits im Offiziersrang steht!" Meine Notlüge hatte wohl sehr überzeugend gewirkt, denn der SS-Mann war verblüfft, gab sich zufrieden und hakte nicht weiter nach. Ja, um eine schlagfertige Ausrede war ich damals schon nicht verlegen.

Es geht vorwärts
"Wie geht 's dir, Leo?“ frage ich bei meinem Gesprächsbesuch Mitte Januar. "Es geht vorwärts", blinzelt er mich verschmitzt an, im Bewusstsein seiner 91 Jahre, nie rückwärts! " Wie immer zu Beginn unserer Gespräche frage ich nach der häuslichen und familiären Situation. Ich will verstehen, wie es dem jungen Leo ging in jenen 30er Jahren, als er noch ein Schulbub war, und was aus der großen Welt ankam im Haus am Julirank von Politik, Weltwirtschaftskrise und Kriegsbeginn, Leo erzählt: Wir hatten ja ein Radio. Mein Vater hatte es 1931 gekauft, ein Mittelwellenempfänger "Lumophon" mit abnehmbarem Lautsprecher, den man überall im Haus aufstellen konnte. Ein sehr modernes Gerät. Wir waren die einzigen im nachbarschaftlichen Umkreis, die bereits ein Radio hatten und waren dadurch schon einigermaßen auf dem laufenden. Ich habe damals aus dem Radio auch manches gelernt. Meiner Mutter war das Radio natürlich ein Greuel, „Schalt den Karren ab" schimpfte sie immer, besonders wenn die leichte Muse in unserem Haus erklang. Am Samstag Nachmittag hörten wir immer die Unterhaltungssendungen auf dem Reichssender Köln: "Vergess die Müh, vergess die Plage am Samstag Nachmittage! "Schaff mir den Karren aus dem Haus" schalt die Mutter wenn es hieß: "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, denn das ist meine Welt und sonst gar nichts. . ."

Es ist Krieg
Wenn die Führeransprachen Hitlers übertragen wurden, kamen immer die ganzen Nachbarn zu uns zum Hitlerhören, der Oberbur, der Schiberger, der Stocksepp und der Kühbur, dann war die ganze Stube voll von Leuten, die vor dem Radio saßen. So war es auch, als am I. September 1939 die Leute aufgefordert worden waren, vors Radio zu kommen, und Hitler in einer Ansprache aus dem Reichstag verkündete, seit dem Morgen um 5:45 werde zurückgeschossen. Das war der Beginn des Krieges, von dem wir noch nicht wussten, dass es der zweite Weltkrieg werden würde. Aber tatsächlich haben wir in Eschbach und habe auch ich während der Lehre in Freiburg zunächst noch nicht sehr viel vom Krieg gemerkt. Das änderte sich dann ganz schnell im Frühjahr 1943. Im April dieses Jahres war ich gerade erst seit drei Tagen vom RAD zurück, als ich am 15. April den Stellungsbefehl erhielt, zu einem militärischen Ausbildungsbataillon in Reutlingen. Da war ich noch nicht mal ganz 18. Eine vage Ahnung, was da passieren würde hatte ich schon von meinem 10 Jahre älteren Bruder, der bereits 1938 eingezogen worden war. Mein Bruder war eher auf militärischen Karriere-Erfolg aus gewesen, ich aber hielt mich da eher zurück. Mein Vater verstand dies und vertraute mir. "Lasst den Kleinen nur machen", sagte er, als ich schließlich nach Reutlingen abfuhr. Ich ging zusammen mit noch einem anderen Kameraden aus St. Peter, dem Gerhard Braun, einem Bruder von Gerda, später Stumpf.

Soldat werden
In Reutlingen gefiel es mir überhaupt nicht. Die spießige Stimmung, in welcher die schwäbischen Bauernsöhne mit Schinken, Speck und Leberwürsten von daheim versuchten, die Ausbilder zu schmieren stieß mich ab. In dieser Situation musste ich mir manchmal mit kleinen Scherzen etwas Luft machen. Wenn wir zum Appell antreten mussten, war ich immer als rechter Flügelmann der Erste in der Reihe. Gerhard Braun hingegen stand immer als letzter in der Reihe am linken Ende. Wenn durchgezählt wurde, wartete ich gern, bis der Ausbilder an mir vorbei war, und schnitt dann Grimassen und streckte die Zunge heraus. Die Kameraden lachten, aber keiner verpfiff mich. Irgendwann sah es ein Ausbilder aber doch und schnauzte mich an, weshalb ich die Zunge rausstrecke. "Ich hab nicht die Zunge rausgestreckt," machte ich, "Ich hab nur mal ganz tief Luft geholt." Ja, wenn es darauf ankam, war ich um eine Antwort nie verlegen. Nach einiger Zeit erschienen in unserer Einheit auch wieder zwei Offiziere auf der Suche nach begabten Nachwuchssoldaten. Die beiden waren durch Armbinde und Rangabzeichen erkennbar als Mitglieder der Division Großdeutschland, das war die Eliteorganisation der Wehrmacht. Sie suchten nach jungen Männern, die aufgeweckt, körperlich fit und mindestens einssiebzig groß waren. Diesmal meldete ich mich sofort, denn ich wollte weg von diesem Reutlingen. So war ich dann schon drei Tage später bereits auf Achse nach Cottbus zur weiteren Ausbildung, noch bevor die die Grundausbildung in Reutlingen offiziell abgeschlossen war. Dem Gerhard Braun tat es sehr leid, dass ich Reutlingen verließ, er wäre auch gern mit mir zu Großdeutschland gegangen, aber er war nicht ganz einssiebzig. 19 Wehrkreisküche Raum Cottbus, Leo 2. vir. In Cottbus wurden wir weiter ausgebildet, hauptsächlich in der Bedienung verschiedener Geschützarten. Einer meiner Ausbilder war ein fähiger und menschlich aufgeschlossener Feldwebel namens Höhn. "Faller aus St. Peter?" fragte er mich. Ob ich etwas mit einem Josef Faller zu tun habe? "Das ist mein Bruder“, antwortete ich. So klein war die Welt. Mein älterer Bruder hatte vor nicht allzu langer Zeit bei Höhn in Dienst gestanden. Irgendwie war nun schon gleich eine Brücke entstanden und hatte Höhn sich von mir gleich ein positives Bild gemacht. "Sie werden mein Putzer" entschied er, und schon hatte ich wieder einen Dienst mit einer kleinen Bevorzugung. Die Aufgabe der Putzer war die persönliche Aufwartung der höheren Ränge. Ich erledigte diese Aufgabe sorgfältig und zuverlässig zur großen Zufriedenheit meines Vorgesetzten. Die Arbeit machte mir auch Spaß, denn Höhn war geistreich, souverän und humorvoll.

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Wehrkreisküche Raum Cottbus, Leo 2. vir.
Fahrschule in Frankfurt/ Oder, Leo 2.v.r.


Es gab in unserer Gruppe allerdings noch einen anderen Ausbilder, der war das genaue Gegenteil von Höhn, einen Unteroffizier, der dumpf, blöde und schikanös an uns herum kommandierte. In regelmäßigen Abständen mussten wir "Revier putzen", das war die Grundreinigung des Geländes und Kasernengebäudes. Ich war gerade mit noch zwei Kollegen dabei, im zweiten Stock das Treppenhaus zu putzen, während dieser aufgeblasene Blödian von Unteroffizier vom ersten Stock herauf uns anbrüllte und herumkommandierte. In gespreizter Stellung lehnte er mit dem Ellbogen am Treppengeländer und machte den großen Zampano. Der Handlauf des Treppengeländers hatte die Form einer glattpolierten, ausgehölten Rinne. Und da geschah es eben, dass ich einfach der Eingebung folgte, ein wenig auf das Treppengeländer zu pinkeln. In einem schönen kleinen Rinnsal lief meine Pisse das Geländer hinab, bis sie unten von dem Ellbogen des Capos aufgesogen wurde. Wutbrüllend schreckte unser UFZ auf, als er merkte, dass sein Ärmel durchfeuchtet war und nach Urin roch. Unter großem Getöse wurden wir vorgeführt und vernommen. „Wer war das gottverdammt nochmal!!" Mit 21 ahnungsloser Unschuldsmine zuckten wir die Schultern, denn wir hatten ja wirklich gar nichts bemerkt. 

Als Höhn dazu kam, wiegelte er ab und ließ die Sache im Sand verlaufen. "Faller, warn Sie das?" nahm er mich später heran. Ich blinzelte ihn mit solch einer übertriebenen Unschuldsmine an, dass Höhn klar war, dass ich es gewesen war. "Der hat's eigentlich auch verdient" murmelte Höhn augenzwinkernd mit einer abwiegelnden Handbewegung. Am Ende der Ausbildungseinheit in Cottbus hieß es: Ihr kommt jetzt zur Fahrschule nach Frankfurt/Oder. Also nach Frankfurt/ Oder. Allmählich lernte ich Deutschland kennen. In der Fahrschule beim NSKK Kraftfahrkorps lernten wir auf LKW, Bus und Halbkettenfahrzeug. Der Fahrlehrer hatte eine hübsche Tochter. Das blieb mir nicht unbemerkt. „Herr Fahrlehrer, sie haben aber eine bildhübsche Tochter", sagte ich zu ihm. Das schmeichelte ihm gehörig und ich hatte von nun an einen Stein bei ihm im Brett. Ich wurde daraufhin einmal bei ihm zuhause zum Essen eingeladen und hatte Gelegenheit, in allem Anstand mit seiner Tochter zu flirten. Die Fahrschule aber beendete ich schließlich mit sehr gut. Nach dem Abschluss ging es wieder zurück nach Cottbus. Ich wurde auch damit betraut, alle Papiere und Zeugnisse unserer Gruppe mit nach Cottbus zu bringen. Wieder in Cottbus hatte ich mich zu melden in der Garnisonsküche.

Der zuständige Feldwebel dort war ein Feldwebel namens Hölscher. In dem Küchenteam war ich der Jüngste. Der erste Koch dort war ein alter Stabsgefreiter aus dem ersten Weltkrieg. Ich arbeitete mich schnell ein in der Garnisonsküche und der Dienst gefiel mir. „Wer kann gut schreiben?" wurde eines Tages gerufen. "Ich!“ Im Speisesaal gab es eine große schwarze Tafel, an der mit Kreide immer das Essensprogramm aufgeschrieben werden musste. Das Essen war bei uns übrigens immer nahrhaft, abwechslungsreich und ausgewogen gewesen. Der bisherige Koch aber hatte das Menü an der Tafel in einer elenden Sudelschrift angeschrieben. ich hingegen malte die Speisenfolge in einer großen und deutlichen Blockschrift hin, die allgemein gut ankam und für die ich auch beneidet wurde. Da war ich wieder gut aufgefallen, obwohl es mir darauf gar nicht angekommen war. Ich wollte doch nur meine Aufgaben anständig erledigen und das, was ich zu tun hatte, gut machen. Eine schöne Blockschrift aber kann ich noch bis heute.

Jedenfalls war ich in der Garnisonsküche gut eingearbeitet und sehr zufrieden. Wenn ich darüber nachdenke, muss ich mir sagen, dass ich dort ein unwahrscheinliches Glück hatte: Während andere an die Front mussten und dort ihr Leben ließen, stand ich in Cottbus in der warmen Küche am Herd. Offenbar wurde meine Arbeit auch hier geschätzt, denn nach einigen Monaten verkündete mir der Feldwebel Hölscher einen Generationswechsel in der Küche: „Ab morgen sind Sie der erste Koch hier! " Ich war gerade 18 und von einem Tag auf den anderen der Chef der Garnisonsküche. Irgendwie hatte es das Glück wohl auf mich abgesehen. Und auch in Cottbus geschahen Zufälle, die mich in ein günstiges Licht rückten. Es stellte sich nämlich heraus, dass unser Kommandeur Gustav Walle in Freiburg studiert hatte und bei den Burschenschaftlern in den Gesellschaftsräumen in der Burse gewesen war.

Cottbuser Streiche
Die Unterbringungsverhältnisse in Cottbus waren ein bisschen beengt. Die Wohnungen der Kommandantur, der Unteroffiziere und des Küchenpersonals lagen im selben Gebäude und wegen des Platzmangels mussten sich manchmal Unteroffiziere und Feldwebel eine Stube teilen. Ich wohnte in einer Stube zusammen mit einem engstirnigen und ehrkäsigen Unteroffizier, der großen Wert darauf legte, stets mit seinem vollen Adelsnamen angeredet zu werden: Von Calden. Jawoll, Herr Unteroffizier von Calden. Als er mich eines Tages wieder einmal nur mit Faller abfertigte, nahm ich Haltung an und sagte:

„Gestatten, Leo Heinrich von Fallersleben!" Von Caldens Gesicht vergesse ich nie. Völlig verdattert starrte er mich an. "Wass errlauben Sie sich?" schnaubte er mich an, "Sie sind doch das größte Arschloch, das hier herumläuft!" Doch plötzlich war er wie umgewandelt und brach in schallendes Gelächter aus. "Ab jetzt sagen wir Vornamen und sind per DU, verstanden?" rief er. Die kleine Episode machte gleich die Runde im Casino und war zur allgemeinen Erheiterung. 

In den ersten Wochen der Rekrutenausbildung in der Herrmann Löns Kaserne von Cottbus gab es wenig Anlass zu Spaß und Freude. Manchmal wurde ich gehänselt wegen meines Vornamens. "Leo ist doch ein Hundename" hieß es dann immer. Eines Tages befanden wir uns auf einem Übungs-Tagesmarsch um Cottbus herum und marschierten gerade durch einen kleinen Ort in der Nähe. Da kam aus einem Hauseingang ein wütender Hund auf uns zugeschossen und bellte den marschierenden Zug an. Hinter ihm rannte eine aufgeregte Frau, die immerzu schrie "Leo, hierher, Leo sofort hierher!" Ich scherte kurz aus dem Zug aus, marschierte auf sie zu, salutierte: "Hier bin ich, mein Name ist Leo!“ und lief dann wieder hinter dem Zug her. Der Unteroffizier und Unteroffiziersanwärter als Zugführer tobten. "Sie Arschloch, was fällt Ihnen ein? Sofort beim Spieß melden!" Aus einem marschierenden Zug herauszutreten war natürlich eine ungeheure Disziplinverweigerung gewesen. Der Spieß schiss mich zusammen nach allen Regeln der Kunst, als Rindvieh und Hornochse und normalerweise hätte mir für solch ein Vergehen mindestens eine Woche Bau geblüht. Aber zugleich konnten sich die Vorgesetzten doch kaum des Lachens erwahren, und meine Strafe fiel sehr milde aus, ich musste lediglich ein bisschen Nachtwache schieben. 

Auf nach Masuren 
Eines Tages wurde ich, zusammen mit ein paar anderen Kameraden, zu Hauptmann Walle ins Büro beordert. "Für Sie habe ich jetzt was Anderes", verkündete er uns „Sie werden nunmehr versetzt nach Rastenburg.“ Davon hatte ich noch überhaupt nie etwas gehört, konnte mir nichts darunter vorstellen und war nicht sonderlich begeistert. Ich sollte aus meiner schönen Küche von Cottbus heraus und zu einer unbekannten Aufgabe in einem unbekannten Rastenburg kommandiert werden? Irgendwie konnte ich es ausdrücken, dass ich in diesem Augenblick nicht sehr glücklich war. " Faller, das lohnt sich für Sie", ermutigte mich Walle da und gab mir zu verstehen, dass es ein Aufstieg für mich werden würde.

Ich muss jetzt ein wenig erklären: Rastenburg lag in Masuren im damaligen Ostpreußen und befand sich damit im äußersten Nordosten an einem Punkt Deutschlands, der meiner Schwarzwälder Heimat am weitesten entgegengesetzt war. Die Stadt heißt heute Ketrzyn und liegt im nordöstlichen Polen, schon bald in der Nähe von Litauen. 

Also auf nach Rastenburg. Wenn ich mich recht erinnere, war das im Sommer oder Herbst 1943. Vorher war ich aber noch einige Wochen auf dem Truppenübungsplatz Wandern zum Schliff gewesen. Man hatte uns das aufgedrückt, um uns zu zeigen, dass wir es erst mal würdig werden sollten, nach Rastenburg hochzurücken. Ich war zu der Zeit körperlich wohl, hatte bei 1,76 meine 80 Kilo. In der Kaserne Rastenburg ging es erst wieder mit weiterem militärischen Schliff und Drill weiter. Das war der Preis dafür, dass wir zu Großdeutschland gehörten, der Elite der deutschen Wehrmacht. Nach dieser Exerziereinheit aber setzte ich meinen Kriegsdienst auch wieder nicht am Gewehr fort, sondern in der Küche am Herd. Dennoch war ich von da an überall stolz unterwegs mit Schulterklappe und Armbinde „GD“ für Großdeutschland. Unser Kompaniechef war ein "Graf von Schwerin" und man glaubt es nicht: Es stellte sich heraus, dass auch er in seiner Studentenzeit bei den Burschenschaftlern in der Freiburger Burse gewesen war. Daraus entstand dann auch wieder solch eine positive Aufmerksamkeit mir gegenüber.

In Rastenburg herrschte eine ganz andere Stimmung als in Cottbus. In Cottbus lief es in der Kaserne militärisch zackig, aber die Bevölkerung war längst kriegsmüde und man äußerte es hinter vorgehaltener Hand. Alle hatten die Schnauze voll vom Krieg. In Rastenburg war es wesentlich angespannter. "Seid bloß vorsichtig mit Äußerungen gegen die SS !" Es gab zwei große Kasernen in Rastenburg, eine von der Wehrmacht, eine von der SS. Das wunderte mich und der Sinn dieses doppelten Aufgebots wurde mir klar, als man uns sagte: " Ihr seid jetzt in der Nähe vom Führerhauptquartier!" Wolfsschanze, fuhr es mir da durch den Sinn, und mir wurde ganz anders zumute.

Abenteuer Wolfsschanze 
Ich muss jetzt ein bisschen erklären. Die Wolfsschanze war ein etwa 60 Hektar großes Gelände, ein Stück außerhalb von Rastenburg, tief in einem dichten Waldgebiet versteckt. Das Areal war unter Hochsicherheitsbedingungen hermetisch abgeschirmt und bestand aus etwa drei Dutzend Gebäuden mit zahlreichen kleineren und drei riesigen Bunkern, bombensicher mit acht Meter dicken Betonwänden in die Erde eingegraben, einer davon der Führerbunker, in welchem sich Hitler die meiste Zeit während des Krieges aufhielt. In der Wolfsschanze befanden sich ständig einige hundert Vertreter der höchsten militärischen Ränge, und von der Wolfsschanze aus wurde ab 1941 die ganze deutsche Seite des zweiten Weltkrieges befehligt. Die Wolfsschanze hatte einen eigenen kleinen Bahnanschluss und einen kleinen Flugplatz. Das Gebiet war umgeben von drei Sperrzonen mit zunehmenden Sicherheitskontrollen. Im Innern war sie von der SS kontrolliert, im Außenbereich von der Wehrmacht. Nun versteht man auch die militärische Doppelbesetzung Rastenburgs. Sie lag daran, dass Hitler unter starkem Verfolgungswahn litt und allem und jedem misstraute. Er misstraute der Wehrmacht und er misstraute der SS. Deshalb befanden sich beide zu Hitlers Bewachung vor Ort und sollten einander in gegenseitigem Argwohn und in wechselseitiger Konkurrenz kontrollieren und überwachen. Die SS war die Truppe der Bluthunde, die direkt Hitler und Himmler unterstanden, während die Wehrmacht aus der preußischen Soldatentradition hervorging und noch einen entsprechenden Ehrenkodex hatte. Bei der Wehrmacht befanden sich auch die ganzen gebildeten Stände der preußischen Aristokratie, die Grafen und Freiherren des Landadels, aus der auch die führenden Köpfe des Widerstandes gegen Hitler kamen. Auch von diesen Dingen hatte ich damals vor Ort keine besondere Ahnung. In meiner Ahnungslosigkeit benahm ich mich dort auch einmal ungewollt richtig daneben und verursachte eine gehörige Aufregung in der Wolfsschanze. Nämlich wurde das Wolfsschanzengebiet regelmäßig und bei geringsten Verdachtsmomenten nach möglichen Spionen, Abtrünnigen oder potentiellen Attentätern durchkämmt. Man fürchtete z.B., dass jemand mit dem Fallschirm über der Wolfsschanze abgesprungen sein konnte und dort herumspionierte. Eines Tages wurde ich solch einem Suchtrupp zugeteilt, der das Wolfsschanzengebiet durchkämmen musste. Plötzlich hatten wir etwas aufgestöbert: Mitten im dichtesten Wald brachen drei Wildsäue aus dem Dickicht hervor und eine davon rannte schnaubend direkt auf mich zu. Ohne lange zu überlegen griff ich mir einen Karabiner und erlegte sie kurzerhand mit einem sauberen Blattschuss. Und dann war die Hölle los in der Wolfsschanze. Ein Schuss war gefallen in dem Gebiet der allerhöchsten Sicherheit des Deutschen Reiches! Gleich wurde der Übeltäter festgestellt und ich wurde abgeführt, der Blattschuss wurde zur Chefsache, und ich wurde erst einmal gründlich zusammengeschissen. "Sie blöder Idiot, was fällt Ihnen ein, dort herum zu schießen, sind Sie denn überhaupt noch zu retten?" Innerlich rechnete ich mir bereits aus, dass mir mein Schnellschuss mindesten vierzehn Tage Bau einbringen würde. Aber letztlich konnte mir der Kommandante meine Arglosigkeit doch nicht übelnehmen und sah sogar gänzlich von einer Strafe ab. Ich musste aber die Sau waidgerecht oder küchengerecht zerlegen, und für die Herren gab es eine Runde Wildschweinbraten. Ich bekam davon aber nichts ab, was ja > eigentlich auch ungerecht war. Trotz meines ungehörigen Verhaltens machte ich in dieser Zeit sogar noch eine ganz kleine Karriere in der Wolfsschanze. Ich glaube, unser Kompaniechef Schwerin hatte das eingefädelt, und ich wurde abkommandiert zum Kochen in einer der Küchen der Wolfsschanze. Dazu wurde ich täglich von Rastenburg aus dort hingefahren und musste mit einem extra Ausweis die Kontrollen der drei Sperrzonen durchlaufen. Dieser Einsatz dauerte aber nur einige Tage und das war beabsichtigt. Es gehörte nämlich zum System, dass man in der Wolfsschanze immer nur eine kurze Zeit eingesetzt und dann wieder ausgewechselt wurde, aus Angst, ein Saboteur könnte dort etwas auskundschaften und mit den Verhältnissen allzu vertraut werden. Das Essen dort wurde jedenfalls in der gehobenen Klasse zubereitet, man kochte schließlich für die noble Führungsschicht der allerhöchsten militärischen Stände. Ich erinnere mich noch: einmal musste ich gefüllte Gänse zubereiten. Wer von den Strategen die dann verspeiste, konnte ich aber nicht wissen. 

Kriegsende 
Wenn ich hier von meinen kleinen Abenteuern und Anekdoten rund um den Kochtopf der Kriegsküche erzähle, können die Ereignisse des großen Kriegsgeschehens etwas in den Hintergrund geraten. Hier hatte sich inzwischen die Lage zugespitzt und lief immer schneller auf die Katastrophe zu. Wir schrieben nun das Jahr 1944. Im Juni dieses Jahres waren mit einer gigantischen Landungsoperation die Alliierten, also die Engländer und Amerikaner, in der Normandie gelandet und bewegten sich durch Nordfrankreich hindurch auf Belgien und Paris zu. Deutschland befand sich nun in einem Zweifrontenkrieg, und jeder vernünftige Mensch wusste, dass dies den Untergang bedeutete. Dennoch glaubte die Kriegsführung, die Alliierten im Westen stoppen zu können und befahl die große "Ardennenoffensive“. Die Ardennen sind der Gebirgszug des Rheinischen Schiefergebirges, dort wo Belgien und Deutschland zusammenkommen. Die Ardennenoffensive begann im Dezember 1944. Mit einem Aufgebot von 200 000 Mann, 600 Panzern und 2000 Geschützen stieß die deutsche Armee Richtung Antwerpen vor, um den Hafen von Antwerpen in deutsche Hand zu bringen. Es sollte versucht werden, den Hafen unter Kontrolle zu bringen und so den Alliierten den Nachschub abzuschneiden. Die Ardennenoffensive scheiterte aber mit riesigen Verlusten und wurde im Januar 1945 aufgegeben. 

Im Zuge dieser Ardennenoffensive hieß es denn für mich, ich müsse nun auch einmal Fronterfahrungen sammeln. Also war ich bei der Ardennenoffensive mit unterwegs in einem Opel Blitz mit einer mobilen Küche für eine Kompanie mit 120 Soldaten. In einem kleinen Ort in der Eifel gingen wir in Deckung im Innenhof eines kleinen Gehöfts. Ich sondierte sofort die Lage und sah, dass es dort einen Zugang zu einem tiefen Gewölbekeller mit dicken Mauern gab. Diese Umsicht war mir eigentlich schon von klein auf zu eigen gewesen. Immer wenn ich in eine neue Lage kam, guckte ich mich automatisch erst um und schaute zu, dass ich womöglich einen günstigen Vorteil erkannte. So auch hier. Ich rechnete mir vorsichtshalber schon einmal aus, wie ich, wenn’s nötig wurde, am schnellsten in den Gewölbekeller kam. Es ging auch gar nicht lange bis wir unter Beschuss von Jabos kamen und ich sofort in den Keller verschwand. Mein schöner Opel Blitz bekam einen Volltreffer und die ganze mobile Suppenküche flog in die Luft. Mir aber geschah nichts. 

Nach der fehlgeschlagenen Ardennenoffensive wurden wir wieder ganz nach Osten Richtung Cottbus verlegt. Zuerst zogen wir über die Hunsrückhochstraße und dann ab Mainz mit der Bahn. Schließlich waren wir wieder in Sachsen und wurden zu verzweifelten Einsätzen in der Gegend herumkommandiert. Im Raum Plauen wurde ich durch einen Geschosssplitter verwundet, von dem ich jetzt noch eine Narbe an der Stirn habe. Die Einsätze waren völlig wirr, mal vorwärts zum Angriff, mal rückwärts zur Verteidigung. Die allgemeine Lage war verzweifelt und Deutschland lag schon lange am Boden. Hamburg und Frankfurt waren 1943 zerbombt worden, Freiburg 1944, Dresden im Februar 1945. Wir aber irrten in Sachsen umher und sollten die heranrückenden Russen aufhalten, was für ein Irrsinn! Wir waren unterwegs mit einer Kompanie mit 12 Schützenpanzerwagen mit unterschiedlich schwerer Bewaffnung. Schützenpanzerwagen sind leicht gepanzerte Fahrzeuge, die hinten Raupenketten haben und vorne lenkbare Gummiräder. Ich war Schofför solch eines Fahrzeugs mit insgesamt fünf Mann Besatzung, und am Abschlepphaken ein 12 cm Granatwerfergeschütz. Schließlich, in einem Wäldchen bei Groß Petershain, ein Stück nordöstlich von Dresden, war es so weit: Wir waren auf Hörweite von den Russen umzingelt. Einer von uns konnte russisch und verstand die russischen Rufe: Ergebt euch! Das Spiel war aus. Nun erlebte ich eine der dramatischsten Situationen meines ganzen Lebens. Fünf Männer in einem engen Panzerfahrzeug in aussichtsloser Lage mussten jetzt um ihr Leben entscheiden. Um uns herum krachten Schüsse. Einige von uns versuchten auszubrechen. Sie kamen nicht weit und wurden von der russischen Übermacht geradewegs erschossen. Ein Unteroffizier aus einem Fahrzeug in der Nähe lief in den Wald und erschoss sich mit seiner Pistole. „Wir brechen durch!" schrie einer von uns „wir schaffen das!“ ‚Ich will nicht in die Hände der Russen fallen", heulte ein anderer, "da erschieß ich mich doch lieber gleich! " "Gar nichts machen wir, du Idiot", herrschte ich meine Kameraden an. "Wir müssen uns ergeben, das ist unsere einzige Chance! Und ich hatte tatsächlich etwas Weißes dabei, das ich brauchen konnte, ein weißes Hemd, das ich einmal in Cottbus in einer verlassenen Wohnung gefunden hatte. Und ich hatte auch einen Spazierstock dabei, man glaubt es nicht, einen Spazierstock in einem Schützenpanzerwagen, ich weiß nicht mehr, woher ich den hatte. Ich band das weiße Hemd an den Spazierstock und hängte es oben zum Fahrzeug hinaus. Und auf einmal herrschte Ruhe. Mir ging der Kamerad im Kopf herum, der sich selbst hingerichtet hatte. Ich schlüpfte aus dem Fahrzeug und lief zu ihm hin. Er hatte einen langen Mantel aus dickem Stoff. Was ich vorhatte, tut man nicht. Ja, das tut man nicht. Aber es herrschten besondere Umstände. Ich nahm dem Mann den Mantel ab, riss die Rangabzeichen weg, zog ihn an und lief wieder zum Fahrzeug. Schließlich kamen die Russen. Mit vorgehaltener Knarre befahlen sie uns, das Fahrzeug zu verlassen. Nun waren wir Gefangene. Aber wir lebten.

Gefangen
Und selbst in dieser Situation zeigte der Faller-Leo etwas von seiner Sorgsamkeit und Ordentlichkeit: ich schloss das Fahrzeug ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Schließlich war ich irgendwie verantwortlich, nicht wahr? Bei unserer Gefangennahme starrte einer der Russen mit großen Augen auf unsere Unterarme. Er nahm uns allen die Uhren ab. Er war ein Uhrensammler im Glück: er hatte schon beide Unterarme bis hoch voll gebunden mit Armbanduhren. Wir Gefangenen wurden nun zu einem nahe gelegenen kleinen Ort getrieben und dort in einem umzäunten Hofgut in die Scheune gesperrt. Dort wurden wir von den Russen nochmals „gefilzt“. Unsere Taschen in den Hosen und Jacken wurden nochmals durchsucht und bei mir fanden sie den Schlüssel zu meinem SPW (Schützen-Panzer-Wagen). Ich musste dann mit einem russischen Soldaten zurück in den Wald um den SPW zu holen. Da wurde ich mit einem Jeep wieder den einen Kilometer zurück in den Wald gefahren, wo unser Schützenpanzer stand. Unter vorgehaltenem Gewehr steuerte ich dann unser nutzloses Fahrzeug zu unserer Gefangenenscheune.

Nach einigen Tagen in dem kleinen Gehöft bei Groß Petershain wurden wir angetrieben zum Weitermarsch. Ein großer Haufen abgekämpfter Gestalten marschierten wir nach Spremberg bei Cottbus in ein größeres Sammellager. Dies war die erste Etappe eines furchtbaren Wegs, den ich nie vergessen werde. In Spremberg wurden wir zu einem großen Zug von ca. 2000 Mann zusammengestellt und dann ging es weiter, zuerst über die Neise ostwärts nach Dagan, heute Zagan, durch Schlesien, alles Gebiete, die heute polnisch sind. Erschöpft, entkräftet und demoralisiert schleppten wir uns über Landstraßen und durch kleine Ortschaften und mussten auf Tagesmärchen bis zu 30 km durchhalten. Es war Mai geworden, in unseren stickigen Uniformen wurde uns heiß, wir hatten Hunger und, schlimmer noch, entsetzlichen Durst, weil wir bekamen nichts zu trinken. Viele von uns konnten nicht mehr, kippten um und brachen zusammen. Wer es nicht mehr weiter schaffte, wurde dann kurzerhand einfach am Wegesrand erschossen. Manchmal hatten mitleidige Leute Eimer mit Wasser für uns an den Weg gestellt, aber unsere Treiber machten sich einen Spaß daraus, in die Eimer zu schießen. Ich selber war körperlich noch vergleichsweise gut beisammen, ich hatte mich immer sportlich bewegt und in der Krisenzeit wenigstens ausreichend ernährt. Und ich hatte einen zähen Lebenswillen. Wo immer ich etwas Hilfreiches oder Rettendes entdecken konnte, nutzte ich die Chance und griff zu. Einmal sah ich, dass jemand ein paar Flaschen mit Wasser vor den Gartenzaun hin gestellt hatte. Da fing ich an, mit meinem Kameraden rumzubrüllen und Krach zu machen, als wolle ich eine Schlägerei mit ihm anfangen. Unsere Bewacher kamen her, um uns auseinander zu bringen, achteten kurz nicht auf die anderen, und die griffen schnell ein paar Wasserflaschen und steckten sie schnell unter die Jacke. Das Ablenkungsmanöver war geglückt. Es muss einem immer zur rechten Zeit das Richtige einfallen. Nach Sagan ging es an Breslau vorbei nach Kreuzburg, heute Kluezbork, nach Oppeln in Oberschlesien, heute Opole in Südwest-Polen. Erschöpft, entkräftet und mit blutenden Füssen kamen wir dort an. Wir hatten in 14 Tagen fast 300 km zurückgelegt und von täglich einer Portion Tee und einem kleinen Stück säuerlichem Brot gelebt. Nachts hatten wir uns auf der Erde zusammengekauert, auf einem Hinterhof, Dorfplatz oder Hofgelände. Bei diesem Zug waren bereits 500 von uns krepiert. Oppeln war als riesiges Sammellager für Kriegsgefangene bestimmt. Dort gab es große Werkshallen und Baracken, in welchen sich das Reichsbahn-Ausbesserungswerk befunden hatte. Jetzt waren wir sozusagen die Nachmieter der Eisenbahn. Den Umbau zum Gefangenenlager mussten aber erst noch wir selber machen. Aus requirierten Teilen und Abbruchmaterial bauten wir uns primitive Bettgestelle: doppelstöckige Schragen für jeweils zwei Mann unten und oben.

Dennoch positiv
Die Stimmung unter uns war am Boden. Manche wollten immer noch nicht wahr haben, dass alles verloren war und faselten in dem Wahn herum, der Hitler habe doch noch eine Atombombe in der Mache gehabt, mit der er den Russen vernichten konnte. Andere saßen einfach nur stumpfsinnig da und stierten vor sich hin. Auch unter uns gab es gegenseitig oft Feindseligkeiten und schlechte Stimmung. "Ihr Hinterwälder, ihr Schweinehirten", wurden wir einmal angeraunzt, wir, die wir aus Baden, vom Kaiserstuhl und aus dem Schwarzwald kamen. " Moment mal, ihr habt hier gar nichts zu sagen," gab ich zurück, "wer waren denn die großen Erfinder, die Dichter und Philosophen, wer hat denn das Auto erfunden und das Fahrrad? Das waren wir Badener und die Schwaben. Aber ihr Kommisköpfe und Säbelrassler, ihr wart diejenigen, die uns in diese Scheiße hier rein geritten haben!" Ja, ich wollte mich ganz allgemein nicht runterziehen lassen von der missmutigen oder feindseligen Stimmung vieler Mitgefangener. Wann immer es ging, versuchte ich, aus dem trostlosen Lagerleben noch etwas Sinnvolles oder Befriedigendes herauszuholen. Als einer von uns herumpolterte „Mit den Russenschweinen rede ich doch nicht!", sagte ich: "Das sind doch auch nur genauso arme Schweine wie wir, die nur in diesen Scheißkrieg hineingezwungen a0 wurden. Im Grunde haben die persönlich genau so wenig was gegen uns wie wir gegen die. Wir müssen uns jetzt umstellen. Wir brauchen die jetzt nicht als unsere Todfeinde anzusehen. Die sind doch auch nur einfache Kerle wie wir. Wir müssen versuchen, uns mit denen menschlich ein bissle zu vertragen. Vielleicht können wir sie sogar ein bissle bei der Ehre packen und ihnen das Gefühl geben, sie hätten uns befreit. Dann werden sie auch nicht mehr versuchen, uns hier wie die Tiere zu behandeln. Das ist dann ja auch zu unserem Vorteil, oder nicht?" "Für die Russen arbeite ich niemals" sagten manche. Ich sah das anders: "Wenn ich hier was arbeite, dann tu ich das nicht für die, sondern mache es für mich. Das ist doch tausendmal besser, als den ganzen Tag stumpfsinnig hier herum zu gammeln.“ Aus diesem Grund schnappte ich auch bald ein paar russische Worte auf und versuchte, ein bisschen russisch zu lernen. Durch diese Einstellung hatte ich öfter eine Abwechslung im Lageralltag und habe manch Interessantes erlebt. Eines Tages wurde gerufen, dass man einen Friseur suchte. "Hier", meldete ich mich sofort. Ich bekam eine Schere in die Hand gedrückt und dann war ich Lagerfriseur. Ich schor die Köpfe meiner Genossen durchweg mit einem, nun ja, recht rustikalen Stoppelschnitt. Neben dran stand ein Bewacher mit de Knarre, damit ich meine Schere nur ja nicht als Waffe für einen Lageraufstand benutzte.

Auch sonst ergriff ich jede günstige Gelegenheit, etwas Vernünftiges zu tun. Morgens hielt ich mich immer gerne beim Eingang auf, und wenn es etwas zu tun gab, meldete ich mich immer sofort. So war ich oft den ganzen Tag unterwegs und kam aus dem Lager heraus, z.B. um Material oder requirierte Güter heranzuschaffen. Ich hatte immer und überall die Augen in alle Richtungen offen. Einmal fand ich in einer verlassenen Wohnung einen Stapel Bücher. Schnell suchte ich ein paar heraus und stopfte sie mir unter die Jacke. Mein Bewacher wollte sie mir aus der Hand schlagen, weil Bücher ja verdächtig sind. In seinen Augen waren das gewiss alles faschistische Feindbücher. "Nein, nein, das ist alles von Stalin", bluffte ich mit großem Ernst. Der Kerle strahlte und ließ mir die Bücher. Dass er ein armer Analphabet war, hatte ich gewusst. Und wir hatten jetzt ein paar Bücher, die uns ein ganz klein wenig geistige Nahrung gaben. Überhaupt hatte ich bald gesehen, dass unsere Bewacher ganz einfache Menschen waren, die aus der hintersten Mongolei kamen, nicht lesen und schreiben konnten und für vieles aus unserer europäischen Kultur gar kein Verständnis hatten. Eines Tages kam einer der Genossen mit einem kleinen Apparat an, der viele kleine Druckknöpfe hatte. Er hielt dieses Gerät für ein Musikinstrument und versuchte, ihm durch Drücken der Knöpfe ein paar Töne zu entlocken. Ich nahm ihm das Ding aus der Hand, holte in der Schreibstube ein Blatt Papier und drehte es in das Gerät hinein. Dann drückte auch ich ein paar Knöpfe. Wodurch kleine Hämmerchen an dem Gerät allerlei Buchstaben aufs Papier warfen. Unser Freund war erstaunt und heftig enttäuscht, dass man mit dem Ding nicht musizieren konnte. Er bekam einen Wutanfall, riss es mir aus der Hand und schleuderte die Schreibmaschine mit einem Fußtritt in die Ecke. An einem anderen Tag waren ich und meine Gruppe dabei, ausgemusterte Bahnschwellen zu Brennholz zu zersägen. Da kamen unsere mongolischen Freunde mit einem seltsamen Gestell aus Draht und Eisen daher, das auch zwei Räder hatte. Sie unter suchten es von allen Seiten und schoben es ratlos auf dem Hof hin und her. Ich ging zu ihnen und zeigte ihnen, wozu das Ding gut war. Ich sah, dass sogar noch eine Pumpe dabei war und pumpte die Reifen auf. Das war schon mal beeindruckend. Dann schwang ich mich auf den Drahtesel und drehte ein paar Runden auf dem Hof. Die Mongolen staunten, sie hatten noch nie ein Fahrrad gesehen. Dann legte ich noch ein Stück zu. Zuerst fuhr ich freihändig mit ausgestreckten Armen im Kreis herum, dann sogar auf dem Sattel stehend. Das waren die Kunststückchen, die wir als Jugendliche auf dem inneren Hof in St. Peter um die Wette geübt hatten. Ich war die Sensation und die Mongolen waren sprachlos und begeistert. "Du Artist! Du nix arbeiten. Sie wären gerne noch ein bisschen dabei gewesen, wurden dann aber auseinandergejagt, weil sie ja nicht mit den Gefangenen fraternisieren sollten. Sie gaben mir aber zu verstehen, dass ich als Künstler eigentlich von der groben Arbeit befreit werden sollte. Das ging natürlich nicht, aber ich bekam als Anerkennung meiner artistischen Glanzleistungen ein schönes Stück Brot. Ja, ich war immer dabei, wenn es etwas Interessantes gab oder wenn ich eine gute Gelegenheit kommen sah. Eines Tages war ich einer Gruppe von Lastenschleppern zugeteilt. Am Bahnhof mussten wir Güter von Lastwagen auf Eisenbahnwaggons verladen, die nach Russland gingen. An diesem Tag verluden wir tonnenweise Zuckersäcke. Wir mussten die Zuckersäcke von den LKW abladen und in die Güterwaggons schaffen. Zucker, lauter schöner, nahrhafter Zucker. Da musste etwas geschehen. Ich sah mich flink überall um und fand bald das scharfe Werkzeug, das ich für meine Idee brauchte: eine spitze Glasscherbe. Wieder lenkten wir unsere Aufseher mit jenem lautstarken Manöver ab, und ich schnitt mit der Scherbe einen Zuckersack auf und schaufelte den Zucker mit vollen Händen in alle meine Taschen. Im Lager teilten wir unsere süße Beute dann untereinander auf. Man muss zur rechten Zeit den richtigen Einfall haben.

Unterdessen wurde im Lager der Abtransport von Gefangenen nach Russland organisiert. Von den Listen der Gefangenen wurden immer ein paar hundert Männer aufgerufen und gruppenweise in die Waggons nach Osten gepfercht. Auch mein Name wurde mehrmals aufgerufen, aber ich war immer gerade unauffindbar. Dabei hatte ich mich gar nicht versteckt, ich war eben immer irgendwo draußen im Arbeitseinsatz, im Wald, in der Stadt oder beim Wegebau. Auf diese Weise war ich gute vier Monate in Oppeln bis im Herbst 1945, während viele meiner Kameraden schon nach Sibirien abtransportiert worden waren. 

Reise in die Verbannung 
Ende September schließlich wurde das Lager aufgelöst und dann war halt auch ich mit dran. Wir wurden immer in Gruppen zu 50 Mann eingeteilt und dann jeweils in einen Güterwagen geschoben. Das waren geschlossene 4-Achser Waggons ohne Fenster mit Holzbohlenwänden ringsum. Da drin hockten wir schließlich im Dunkeln eng zusammengepfercht. Instinktiv hatte ich mich gleich mit zwei meiner Lieblingskumpels in der hintersten Ecke verkrochen. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung und wir rollten und rumpelten voran ins Ungewisse. Man sagte uns nicht, wohin wir fuhren. Der Zug rumpelte vor sich hin, langsam, einen Tag und eine Nacht und wieder einen Tag und eine Nacht. Wir 45 hockten zusammengepfercht aneinandergelehnt, im Dunkeln und im Mief. Wir wussten nicht, wohin es ging. Der Zug fuhr durch, einen Tag und eine Nacht ohne Aufenthalt, dann wieder stand er zwei Tage und Nächte still. Und niemand machte die Türen auf. An manchen Tagen gab es etwas zu essen: etwas Tee oder Wassersuppe und ein Stück säuerliches russisches Graubrot. Dann gab es auch wieder ein, zwei Tage gar nichts. Die Waggontür stand einen kleinen Spalt offen. Dort gab es ein Ablaufblech für den Kloeimer, der dort stand. Nachts war es am schlimmsten. Wir lagen ja alle eng aneinandergepfercht auf dem Boden. Wenn einer nachts auf den Kloeimer musste, musste er über alle anderen Daliegenden drüber krabbeln. Und manchmal reichte es einem auch nicht mehr. Nach acht oder zehn Tagen wussten wir nicht mehr, wo wir waren. Irgendwann entdeckte ich in der Bohlenwand unserer Waggonecke eine kleine Delle, eine kleine Vertiefung. Ich begann, daran herumzubohren und herumzukratzen. Meine zwei Kumpels und ich bohrten abwechselnd immer weiter dran herum. Die Vertiefung war der Anfang eines Astlochs. Nach vielen Stunden Gebohr und Gekratze hatten wir es geschafft und konnten den Holzstöpsel hinausdrücken. Es entstand ein Loch von zwei Zentimeter Durchmesser. Wir hatten uns was ganz Wunderbares geschaffen: ein Luftloch, ein Fenster, einen Ausblick. In unserem finsteren Viehtransporter hatten wir plötzlich einen Ausguck in die Welt, einen Blick ins Leben hinaus, der, so schmal er auch war, uns eine Aussicht von Menschlichkeit gab. Von nun an schützten wir unser kostbares Lichtloch sorgfältig, wir versuchten, etwas hineinzustopfen, und wenn Kontrolle kam, setzte sich einer von uns immer davor, damit es nicht entdeckt wurde. Die Tage und Nächte vergingen, und wir vegetierten in dem finsteren Waggon der russischen Breitspurbahn wie Stückgut, wie Vieh. Wir waren ahnungslos, wir waren hilflos, wir waren verzweifelt und oft auch voll mit bitterem Spott. Und einige von uns hielten nicht mehr durch und krepierten. Nach fast drei Wochen schnappte einer von uns von den Bewachern einen Ortsnamen auf. Ja vielleicht waren wir auf dem Weg nach Workuta. Das musste irgendwo Richtung Sibirien sein. Wir merkten es in unserem Reiseabteil: es wurde kälter, geschätzte minus 10 oder 15 Grad. Meine Kumpels und ich rückten in der Ecke noch näher zusammen und ich breitete meinen kostbaren Mantel, den ich bis hierher gerettet hatte, über uns drei. Wieder vergingen endlose Tage bis der Zug schließlich hielt. Ja, wir waren in Workuta. Später konnten wir es uns zurecht legen und heute kann man es googeln: Workuta liegt 2000 km nordöstlich von Moskau, schon ein Stück hinter dem Polarkreis und in der Nähe des Eismeers. Wir waren dorthin über drei Wochen unterwegs gewesen und hatten in unserem stickigen Rumpelkasten fast 4000 km zurückgelegt. Aber es gab trotzdem noch kein Ankommen, denn es zeigte sich, dass unsere Elendsreise noch nicht zu Ende war. Man hatte vorgehabt, uns in Workuta in ein Lager zu stecken, aber Fehlanzeige: dieses Lager war schon brechend überfüllt, es gab keinen Platz mehr für uns. Also weiter. Wohin jetzt? Weiter. Eine Woche, zehn Tage, zwei Wochen im eisigen Rumpelkasten. Schließlich sahen wir wieder menschliche Ansiedlungen. Am Licht rechneten wir uns aus, dass wir jetzt wieder mehr Richtung Westen unterwegs waren. Wir liefen langsam in einen kleinen Ort an einem See ein und jemand sagte uns, dass wir nun in der Nähe von St. Petersburg waren, und der See Ladogasee hieß. Rudnizkaja. Wir waren dorthin nochmal zweieinhalb tausend Kilometer unterwegs gewesen. Und bis hierher waren noch einmal ein paar hundert Kollegen aus unserem Zug weggestorben, an Krankheit, Auszehrung und Entkräftung.

Am Ladogasee

In Rudnizkaja nahmen uns junge russische Soldaten in Empfang, und hielten sich in einiger Entfernung von uns. Wir mussten wie Ungeheuer oder Gespenster auf sie gewirkt haben. Wir sprangen aus den Waggons auf Steine und Geröll hinab und wurden im Schweinsgalopp durch Schneeregen und Sturm über matschige Wege durch den Ort getrieben, bis wir durch das Tor eines mit Stacheldraht umzäunten Lagers taumelten. In einem Sumpfgelände, wo uns das Wasser bis an die Knöchel reichte, standen einige Baracken, die zum Teil so aussahen, als könne man hineingehen und andere, die halbfertig oder halbkaputt ohne Dach herumstanden. Das hieß, wir mussten uns unsere Unterbringung erst einmal selber bauen: Maurerarbeiten, Zimmermannsarbeiten, Wegebau. Als erstes bauten wir uns einfache Brettergestelle, wieder mit zwei hölzernen Schragen überund untereinander, als Schlafgestelle. Es wurde kälter und der Winter kam. Wir mussten versuchen, die Baracken und ihre Dächer halbwegs dicht zu kriegen. Das Bauholz und das Holz für die spärliche Heizung mussten wir in den umliegenden Wäldern roden und herbeischaffen und von Hand zusägen. So wurde ich also auch Holzmacher.

Eines Tages wurde jemand gesucht, der imstande war, unsere stumpfen Holzsägen zu schärfen. Ich meldete mich natürlich sofort, denn ich hatte diese Arbeit daheim beim Vater gesehen, also würde ich das schon hinkriegen. Mittlerweile hatte mich das Leben schon gelehrt, bei all solchen Einsätzen auch ein bisschen gewieft zu sein. Ich zog eine wichtige Mine und machte allerlei Anstalten, um mich als hoch erfahrenen Sägenfeiler darzustellen. Zuerst baute ich aus einem eingesägtenSich immerzu Holzstamm eine Sägenhalterung. "Das Material ist kalt", gab ich dann zu verstehen, "kaltes Metall nicht gut, brauche Feuer!" Also wurde Holz aufgeschichtet und Feuer gemacht. So hatte ich einen warmen Arbeitsplatz im russischen Winter. Und unseren Aufpassern war das natürlich auch nicht unrecht, sie setzten sich dazu und hatten dadurch auch einen komfortableren Aufpasserplatz. Dann fing ich an, gemächlich die Sägezähne zu feilen. Wenn die Aufpasser hersahen, etwas schneller, wenn sie wegsahen etwas langsamer. Ich erzähle das, um zu zeigen: Das gesamte Lagerleben war organisiert nach der russischen Planwirtschaft. Die ganze Versorgung des Lagers wie auch der Arbeitsertrag von uns Gefangenen sollte die Normen bestimmter Planziele erfüllen. Diese waren aber fast alle völlig wirklichkeitsfremd und ganz unerfüllbar, zumal von uns unterernährten und ausgezehrten Gestalten. Man musste in erster Linie einmal zu sehen, dass man überhaupt überlebte. Auch unsere russischen Bewacher wussten, dass die Planziele unter den herrschenden Bedingungen unerfüllbar waren. Deshalb musste der lebenswichtige Bedarf eben unter der Hand organisiert werden und die Arbeitsleistung durch allerlei kleine Täuschungen und Frisuren scheinbar richtig vorgewiesen werden. Beispielsweise ging das Brennholz, das wir im Wald machten, erst einmal gar nicht in unsere Lagerbaracken, sondern an unsere Aufseher, die es teilweise wieder weiterverramschten. Aber so manches Scheit und so manchen Ast schleppten wir unter unseren Klamotten in die Baracke, damit wir wenigstens ein klein wenig was für den Ofen hatten. Und als mit den Bauarbeiten an den restlichen Baracken begonnen wurde, kam halt auch manches Bauteil und manches Balkenstück von dort bei uns in den Barackenofen. Wenn es dann auf der Baustelle fehlte, musste ein Ersatz eben auf einer anderen Baustelle geklaut werden. Worum ging es bei alledem? Es ging einzig ums Überleben. Wir waren junge Kerle von Anfang zwanzig, die sich in einer wahnsinnigen Ausnahmelage befanden, und verzweifelt versuchten, irgendwie durchzukommen. Dabei mussten wir mit ansehen, wie jeden Tag einige von uns es nicht mehr schafften und zugrunde gingen. In dieser Lage habe ich bald begriffen, dass es unseren Bewachern ja eigentlich auch nicht viel anders erging als uns. Auch sie waren unerfahrene Menschen und junge Soldaten, die man in diesen Krieg getrieben hatte. Und auch sie waren eigentlich mit dieser Situation überfordert. Man hatte ihnen eingetrichtert, dass wir deutschen Soldaten allesamt grausame blutrünstige Faschisten und Kriegsverbrecher seien, vor denen man sich in Acht nehmen musste. Ganz allmählich erkannten wir auf beiden Seiten, dass wir in diesem verdammten Lagerleben im Grunde im selben Boot saßen und eigentlich nur kleine arme Schweine waren, die von hier weg und nach Hause wollten. Deshalb habe ich bald versucht, mit den Russen ein menschliches Verhältnis zu erreichen. Natürlich brachte dies auch gegenseitige materielle und praktische Vorteile, nach dem Motto "eine Hand wäscht die andere". Aber hauptsächlich machte die Verständigung auf der menschlichen Ebene manches Elend in diesem tristen Lagerleben ertragbarer. 

Sich immer zu helfen wissen 
Im Lager hatte ich auch einen jungen Kameraden, der Abitur hatte und bereits im Offiziersrang war, Alfred Behr aus Tauberbischofsheim. Er wurde später Pfarrer und brachte 2002 ein Buch mit seinen Kriegserinnerungen heraus: "Blick zurück in Liebe" Ich will daraus ein paar Sätze zitieren, in denen er etwas über das Lagerleben und mich schrieb: 
Unser Freund Leo musste eines Abends mithelfen, unsere Toten zu begraben. Es starben jeden Tag einige, und jeden Abend musste ein Kommando die Toten in Papiersäcke stecken und auf einem Schlitten zur Beerdigungsstelle bringen. Trotz dieser unangenehmen Aufgabe sah Leo eine positive Möglichkeit: Er versorgte uns, seine Freunde, mit solchen Papiersäcken. Die konnte man immerhin auf die blanken Bretter ausrollen, und als wir genügend davon hatten, uns auch damit noch zudecken. Später wurden Säcke sogar noch langsam mit Stroh angefüllt. Welch ein Luxus! Nur musste auch das Stroh eben organisiert, d.h. geklaut werden. (...) Im Lager wurden immer noch Baracken aufgebaut. Und die wurden auf den Deckenplatten gegen die Kälte isoliert mit genormten Platten, in denen gepresstes Stroh durch zwei Pappdeckelschichten zusammengeklebt war. Um an das wertvolle Stroh heranzukommen, mussten natürlich diese genormten Platten zerstört werden. Und am Ende fehlten an der neuen Baracke logischerweise einige solche Platten. Das war nicht weiter schlimm, man klaute sie eben von der nächsten Baracke. 

Im Sommer 1947 wurde ein Teil von uns abkommandiert nach Narva in Estland, unweit des Peipu-Sees. Dort gab es eine zerstörte finnische Textilfabrik, die wieder aufgebaut werden sollte. Ich war mit dabei und nahm wieder jede Herausforderung an, die sich bot. Auf der Baustelle wurde ich auf diese Weise Betongießer, Maurer und Eisenbieger. Zu unseren Arbeiten gehörte es unter anderem auch, Zement umzuladen, der in offenen Mengen auf LKWs angefahren wurde, eine entsetzliche Arbeit. Angesichts der großen Wagenladungen von Zement fiel es unserem LKW-Fahrer ein, dass er irgendwo eine Verwendung für Zement hatte. Da musste etwas geschehen. Da musste etwas organisiert werden. Also kamen wir ins Geschäft. Der Fahrer würde eine Wagenladung Zement für seinen Bedarf abzweigen und wir würden dafür eine Aufwandsentschädigung von 80 Rubel erhalten. Das war nicht sehr viel, 80 Rubel entsprachen ca. 10 RM, aber es war etwas. Ein Kilo Brot kostete etwa drei Rubel, ein Pfund Margarine 8 Rubel. Ja, es war etwas. Und wir teilten uns die Einnahme in unserer Gruppe von vier Mann auf. Als der Lastwagen weggefahren war, fiel sein Fehlen bald auf. "Wo ist eigentlich unser Zementlaster?" "Der? Ach der, äh, hat was am Motor, musste in Reparatur." Es muss einem zur rechten Zeit etwas einfallen. 

Im Jahr 1948 kam eine Verlegung nach Grasnoselow in der Nähe von St. Petersburg. Eine Truppe von 200 Mann wurde aufgestellt für einen Straßenneubau Richtung St. Petersburg. Natürlich war ich mit dabei und natürlich meldete ich mich, als ein Asphaltwalzenfahrer gesucht wurde. Ich hatte ja zuhause als Bub schon gesehen, wie man das macht. Also wurde ich gleich befördert zum Spezialisten für Asphaltierungswalzen. Die Arbeit machte mir Spaß und ich war stolzer Walzenfahrer und das sogar auf einer Walze von einer deutschen Marke. Die war als Beutegut hierhergekommen. Auch hier wieder meinten die Kollegen manchmal: „Du Idiot schaffst hier für die anderen!" Aber ich sah das wieder anders: "Nein, ich schaff für mich!" Und ich war der Überzeugung, man muss auskommen mit den Leuten, denn das bringt nur Vorteile. Ich versuchte immer, mich mit unseren Bewachern zu verständigen. Dadurch konnte ich oft eine angespannte Situation zum Guten hinwenden und helfen, Hass, Angst, Misstrauen und Missverständnisse zu klären und beizulegen. Zum Beispiel gab es immer wieder Missverständnisse in der Art, wie die Russen unsere militärische Zugehörigkeit einschätzten. Das Wort Germania setzten die Russen immer wieder gleich mit der deutschen SS. Wir waren aber gar nicht von der SS, sondern unser Germania-Großdeutschland bedeutete ja Wehrmacht. Ich musste diesen Unterschied immer wieder erklären, und zum Beweis wurden wir immer wieder untersucht, ob wir die SS Tätowierungen am Oberarm hatten. Eines Tages stellte sich heraus, dass der Arzt, der uns untersuchte, ein deutsch sprechender Jude war. Leutselig wie ich war, kam ich auch gleich ein wenig mit ihm ins Gespräch. Ich erzählte ihm, dass wir 1937 einem jüdischen Stoffhändler in Eschbach zur Flucht in die Schweiz verholfen hatten. Er fragte mich, was mein Beruf war. „Koch? Aha!“

Drei Tage später kam ein Jeep angefahren und hatte für mich die Order: Packen Sie ihre Sachen und halten sich bereit, Sie werden gleich abgeholt! Ohne Erklärung, um was oder wohin es ging, wurde ich in den Jeep gesetzt und ab ging es nach St. Petersburg. Was würde dort jetzt wieder auf mich warten, was würde dort jetzt wieder mit mir passieren?

Küche Kino Heimatland
In St. Petersburg wurde ich abgeliefert in einem kleineren Lager, in dem sich ca. 80 Mann befanden. Das Lager in St. Petersburg sah ganz anders aus. Es befand sich in einem großen Gebäudekomplex, der U-förmig um einen Innenhof herum gebaut war und zur Straße einen Zaun hatte. Die Gebäude waren zur Zarenzeit wohl ein Gut oder Gestüt gewesen. Die Unterbringung in den soliden Gebäuden war unvergleichlich besser als in den elenden Baracken in Rudnizkaja. Der neue Platz war eine Art Elitelager, in welchem man lauter Spezialisten und qualifizierte Leute zusammengebracht hatte. Es waren dort KFZ Mechaniker, Ingenieure, Techniker und Vertreter aus allen möglichen Handwerksberufen. Mich hatte man dorthin versetzt, weil ein Koch für das Lager gebraucht wurde. Der russische und der deutsche Lagerkommandant zeigten mir die Küche mit einer dazugehörigen Unterbringung. Bei meinen zwei Einweisern war auch eine russische Ärztin, die leidlich Deutsch sprach. In der Küche gab es auch einen Gehilfen, einen Bäckergesellen aus dem Sudetenland. Die Ärztin erklärte mir die ganze Logistik mit der Beschaffung der Nahrungsmittelvorräte. In dem "Magazin Produkte" gab es einen spärlichen Vorrat an Graupen, Salz, Zucker, Margarine. Gab es Fleisch? Auf meine Frage brachte der Gehilfe einen angegammelten Kalbskopf daher. Ich trat gleich professionell auf und winkte ab. Ich will gutes Fleisch“, sagte ich, "Wir arbeiten hier gut und brauchen gute Sachen!" Daraufhin trug der Gehilfe das Gammelfleisch wieder weg und brachte einen ganz ordentlichen Kalbsschlegel an. Na also. Ich sah mich in der Küche um und stellte gleich eine Liste mit Dingen auf, die ich für eine anständige Arbeit hier brauchte. "Ich brauche einen ordentlichen zweiten Kessel, ein paar gute Stilpfannen, und vor allem gute Messer“, sagte ich. Mein professionelles Auftreten beeindruckte die Lagerleitung und meine Forderungen wurden alle erfüllt. So hatte ich wieder einmal eine anständige Wirkungsstätte gefunden, an der es sich aushalten ließ. Alle aßen bei mir und waren zufrieden. Auch die Ärztin schaute öfter bei mir herein und lobte meine Arbeit. "Leo machen gut!" Im Laufe der Zeit lernten wir einander schätzen und hatten immer wieder Gelegenheit, für einen kleinen Gedankenaustausch. Sie spürte, dass ich wach und aufgeschlossen war, und ich spürte, dass sie mir gegenüber fair und gerecht war. Ich erzählte ihr ein bisschen von meinem Leben in Deutschland und meiner Heimat, dem Schwarzwald, und sie erzählte mir ein kleines bisschen von sich. Sie interessierte sich sehr für das, was ich ihr von deutscher Kultur und Lebensart erzählte, war aber sehr zurückhaltend mit Dingen aus ihrer Geschichte. Zweifellos war sie 100% ig linientreu und begeisterte Kommunistin, ließ aber doch durchblicken, dass sie sich vorstellen könnte, einmal nach Deutschland zu kommen. Aber trotzdem würde das für sie doch nie wirklich infrage kommen. Unser gegenseitiges Verständnis und der gegenseitige Respekt aber taten in dieser erzwungenen Lagersituation uns beiden menschlich gut. 

Das kleine Lager in St. Petersburg war für mein Kriegsgefangenendasein eine spürbare Verbesserung. Ich lernte interessante Kameraden kennen, und es gab auch nette Kontakte mit der Zivilbevölkerung. Die Leute erkannten, dass wir jungen deutschen Soldaten keine blutrünstigen Bestien waren, sondern Menschen wie du und ich, die man gut leiden konnte. Das Lagerleben war auch ganz anders organisiert als an den alten Plätzen. Es gab keinen Stacheldrahtzaun mehr und keine endlosen Zählappelle. Wir hatten freien Ausgang im städtischen Umkreis des Lagers und bekamen einen Ausweis, mit dem wir uns entsprechend ausweisen konnten. Wir alle waren ja Fachleute und Handwerker und wurden eingesetzt zum Wiederaufbau von St. Petersburg. Wir erinnern uns: Die Stadt war in den Jahren 1942/43 von den Deutschen bombardiert und belagert worden und durch diese Blockade waren eine Million Menschen in St. Petersburg elend verhungert. Unsere Arbeitskraft wurde nun eingesetzt, um die Stadt wieder nach Möglichkeit herzustellen. Trotz der Grausamkeit, die die Wehrmacht an der Stadt verübt hatte, begegneten uns die Menschen nun freundlich und versöhnlich. Wir waren also so etwas Ähnliches wie Gastarbeiter mit Kontakt zur Bevölkerung und wir bekamen auch ein kleines Taschengeld. Ich als Küchenchef musste die Essensausgabe entsprechend dieser Arbeitssituation organisieren: ein Teil der Kameraden aß im Haus, ein größerer Teil bekam das Essen an die verschiedenen Baustellen in der Stadt gebracht. So machte ich denn regelmäßig die mit meinem Suppenlieferwagen die Runde durch die Stadt. Ganz in der Nähe unseres Hauses lag ein Armenhaus mit lauter alten Leuten. Oft wenn wir auf dem Heimweg noch etwas übrig hatten, hielten wir dort an und brachten es den Menschen dort. Mit der Zeit richtete ich meine Bedarfsanforderungen immer so ein, dass wir sicher noch etwas übrig hatten. Ich hielt dann vor dem Heim und hupte, und die alten Leute kamen mit ihrem Essgeschirr heraus und schöpften sich etwas. Durch diese Begegnungen entstanden auch manche liebevollen Freundschaftlichkeiten. Durch die Freiheit des neuen Lagers hatte ich auch die Möglichkeit des Ausgangs in der Stadt. Ich konnte hinausgehen, mich in der Stadt umsehen und am Leben und der Kultur teilnehmen. Einmal besichtigte ich das berühmte Winterpalais von St. Petersburg. Das Winterpalais ist eine gewaltige barocke Schlossanlage, die Mitte des 18. Jahrhunderts unter Zarin Elisabeth errichtet wurde, zur selben Zeit wie unser Kloster St, Peter. Das Winterpalais war die Herrschaftsresidenz der Zaren gewesen. Ein anderes Mal besuchte ich den legendären Kreuzer ""Avrora” oder "Aurora". Das Schiff hatte an der Neva einen letzten ehrenvollen Liegeplatz. Die Aurora erlangte in der russischen Geschichte Berühmtheit, weil durch einen Platzpatronenschuss ihrer Bugkanone das Signal zur russischen Revolution im November 1917 gegeben worden war. 

Während der Zeit in St. Petersburg gab es auch im Alltagsbetrieb kleine spürbare Verbesserungen. So hatten etwa die amerikanischen Siegermächte große Hilfsaktionen für Kriegsgefangene aufgezogen, weil bekannt geworden war, dass die Verhältnisse in den russischen Gefangenenlagern teilweise wirklich gottserbärmlich waren. Die Amis schickten Carepakete für deutsche Kriegsgefangene nach Russland und ein kleiner Teil davon kam auch tatsächlich bei uns an. So sah ich zum ersten Mal in meinem Leben Corned Beef. Da hatte also die amerikanische Esskultur ihren Siegeszug bis in den winterlichen russischen Norden vorangetrieben. Verglichen mit anderen Lagern ließ es sich in St. Petersburg also aushalten. Zwar gab es auch da oft niedergeschlagene Stimmung und Zweifel, ob wir überhaupt jemals wieder heimkommen würden. Ich sah aber doch auch ori Zeichen und war zuversichtlich "Wir werden schon heimkommen!" Im Jahr 1948 wurde mein Kamerad Josef Heidinger aus Umkirch frühzeitig entlassen. Er brachte die gute Nachricht nach Hause mit: "Um den Leo braucht ihr euch keine Sorgen zu machen, der weiß sich immer zu helfen.“ Heidinger wurde später auch mein Schwager, denn er heiratete eine meiner Schwestern. 

Das Jahr 1949 brachte also in vielen Dingen seine Verbesserungen und Lichtblicke. An ein Erlebnis aus dieser Zeit kann ich mich bis heute erinnern. Eines Tages kam die Ärztin mit einer Neuigkeit zu mir: "Es gibt Kino in der Stadt, Film, Deutschland, Schwarzwald!" Ich verstand das erst gar nicht. "Doch, es gibt Film, von Deutschland, Schwarzwald, wir gehen hin! " Gut anziehen, wir gehen in Kino." Die Ärztin hatte die Erlaubnis, mit mir nach St. Petersburg ins Kino zu gehen. Das war unglaublich aufregend: Ich war seit meiner Lehrlingszeit nicht mehr im Kino gewesen. Also richtete ich mich so gut wie möglich her, rasierte mich und wir gingen ins Kino. Und was wurde gegeben? In St. Petersburg von 1949 kam ein deutscher Film. Ich traute meinen Augen nicht und war sprachlos. Es kam: "Heimatland", der Heimatfilm, der 1938 im Glottertal gedreht wurde. Ich saß im dunklen Zuschauerraum und sah die Liebesgeschichte mit Hansi Knotek und Wolf Albach-Retti. Auf deutsch, mit russischen Untertiteln. Da kamen mir doch die Tränen, und der russischen Ärztin fast auch. 

Do svidaniya 
Irgendwie nahm das Jahr seinen Lauf, und es wurde Herbst. Einige von uns wurden in dieser Zeit entlassen, einige, die man brauchen konnte, versetzte man in andere Lager. Auch ich sollte mit meinen Fähigkeiten in ein anderes Lager versetzt werden, wo man mich noch brauchen konnte. Die russische Ärztin aber setzte sich entschieden dafür ein, dass auch ich entlassen werden konnte. „Nitschewu! " Kommt gar nicht in Frage!“ rief sie resolut aus, als man mich in ein anderes Lager stecken wollte. So kam es, dass ich im Herbst 1949 entlassen wurde. Am 20. Oktober, das Datum vergesse ich nie. So fand ich mich also mit meinem kleinen Köfferchen am Witebsker Bahnhof ein, zusammen mit einigen anderen Kameraden, die auch entlassen wurden. Es gab einen großen anrührenden Abschiedsbahnhof, zu dem viele Kameraden kamen, die noch dort bleiben mussten, und es kamen auch viele Menschen aus der russischen Bevölkerung, auch viele Alte, die uns im Laufe der Zeit schätzen gelernt und lieb gewonnen hatten. Es gab einige Abschiedsszenen, die mich tief ans Herz rührten. Und vorm Einsteigen in den Zug gab es von der Ärztin eine kurze herzhafte Umarmung und einen kleinen Kuss auf die Wange. „Do svidaniya“, auf Wiedersehn, Mütterchen Russland... 

Ende einer Heldenreise 
Und nun saß ich mit wehmütigen, frohen und erwartungsvollen Gefühlen in einem Zug Richtung Heimat, Richtung Deutschland. Ich konnte es gar nicht wirklich fassen. Den Transport in den russischen Norden hatte ich vier Jahre zuvor auf einer wochenlangen Fahrt in einem furchtbaren Viehwagen überstanden. Jetzt aber saß ich in einem richtigen, für Menschen gemachten Personenzug. Ja, es war ein uralter, einfacher Waggon mit Holzbänken, aber wir waren menschenwürdig unterwegs. Und die Reise nach Deutschland dauerte nur zwei Tage und Nächte. Eine kleine Geschichte will ich noch erzählen. Nach der Ankunft in Deutschland hielten wir nach der Durchfahrt der sowjetisch besetzten Zone in einem kleinen Ort an der Grenze zur amerikanisch besetzten Zone in Bayern an. Der Name des Orts ist mir leider entfallen. Als wir am Bahnsteig anhielten und die Türen öffneten, wurden wir von misstrauisch guckenden GlIs mit schweren Maschinengewahren empfangen. Ich konnte mir diesen argwöhnischen Empfang erst gar nicht erklären. Ich erfuhr dann gleich, dass sich bei der Ankunft von Kriegsgefangenen schon manchmal hässliche Szenen abgespielt hatten: Beim Aussteigen hatten immer wieder einige Kameraden einem Hass oder einer Feindseligkeit Luft gemacht, die sich in der Gefangenenzeit gegenseitig aufgestaut hatten, und waren über die verhassten Kameraden hergefallen, um ihnen den Garaus zu machen. Die GIs waren nur gewappnet gewesen, um bei solchen eventuellen gewaltsamen Ausbrüchen einschreiten zu können. Bei unserer Truppe aber bestand zu solcher Sorge kein Grund, ganz im Gegenteil. Beim Aussteigen nahmen mich zwei Kameraden auf die Schultern und riefen: „Leo du hast es gut gemacht.“ Da waren die Amis auch erleichtert, und wir rauchten eine freundschaftliche Begrüßungszigarette. 

Nach dem leutseligen Empfang ging es weiter nach Ulm, von dort nach Tuttlingen. Dort wurden wir mit Papieren versorgt, von verschiedenen Hilfswerken neu ausgestattet und bekamen ein Entlassungsgeld: 80 Mark und zwar D-Mark, die ich noch nie gesehen hatte. Im Sommer 1949 hatte ja in Deutschland die Währungsreform stattgefunden. 

Und dann ging die letzte Etappe der 10-jährigen Heldenreise meiner jungen Jahre ganz schnell: Von Tuttlingen aus rief ich beim Scherlehof an, dass ich in Richtung Freiburg am Anrollen war. Man stelle sich vor wie ich mich fühlte als ich bei der Fahrt über die Baar und durch das Höllental hinab die vertraute Heimat wieder erblickte. Bei der Ankunft in Freiburg erwartete uns eine große Menge von Leuten, die hofften, Angehörige zu treffen oder ihre lange vermissten Freunde, Männer, Söhne, Brüder und Väter in Empfang nehmen zu können. "Die sehen ja noch gut aus," hörte ich ein paarmal über mich und meinen Kameraden. Ja, wir waren noch vergleichsweise heil durch das große Unheil hindurch gekommen, während viele andere von uns wirklich am Ende waren. 

Für meine Heimbringung hatte der Vater eine komfortable Personenbeförderung organisiert: der gute Stefan Schwab, der Fuhrunternehmer aus St. Peter, nahm mich in Empfang, ließ mich in sein Holzvergaserautomobil einsteigen und sagte mir, dass es ihm eine Ehre sei, mich nach Hause zu bringen. Beim Fußhof, wo die Steigung beginnt, ging dem Karren allerdings die Puste aus und der Stefan musste kurz anhalten, um aufzustochern und neue Schindelchen nachzulegen. Und dann rollten wir ein in die große Kurve, wo mein Elternhaus stand, das Haus am Juli-Rank. Und die Maidle vom Oberbur hatten gekranzt. Herzlich willkommen. 

Bei meiner Ankunft zuhause bekam ich aber auch etwas Bitteres zu spüren: Eine meiner älteren Schwestern sagte mir, sie hätte mich genauso gut auch gar nicht mehr zu kennen brauchen. Und ich musste auch feststellen, dass meine Sachen im Haus inzwischen schon weggeräumt worden waren. Man hatte sich insgeheim schon mal fast damit abgefunden, dass ich nicht mehr aus dem Krieg heimkehren würde. 

Ins normale Leben 
Sieben Jahre meines jungen Lebens, die Zeit von 17 bis 24, also die ganzen Jungmannesjahre, hatte ich in einer wahnsinnigen Ausnahmelage gelebt: Krieg und Gefangenschaft. All die Entwicklungen, die man normalerweise in diesem Lebensabschnitt macht, also das Erlernen von Beziehungen, das Sammeln von Berufserfahrungen, die Entwicklung von eigenen Lebensvorstellungen waren durch diese besonderen Umstände verzerrt abgelaufen oder ganz unmöglich gewesen. Das erging meiner ganzen Generation so, und bei vielen, die erst Jahre später heimkamen, war es noch schlimmer. Kein Wunder also, dass ich nach meinem Nachhausekommen mit aller Energie und allem Lebenshunger den Anschluss an ein normales familiäres und soziales Lebens suchte. Noch in der Gefangenschaft hatten wir vom richtigen Leben geträumt, wenn wir sangen: 
In der Heimat angekommen 
fängt ein neues Leben an 
eine Frau wird sich genommen 
Kinder bringt der Weihnachtsmann. 

Bei einem Tanz anlässlich der Hochzeit eines Mädchens aus dem Kirchenchor lernte traf ich Theresia wieder bzw. lernte sie als junge Erwachsene wieder kennen, die Tochter vom Rotschriener. Ich war sofort Feuer und Flamme für sie und fühlte die tiefe innere Gewissheit: sie soll mal meine Frau werden. Bei dem Tanz war sie jedoch ziemlich zurückhaltend, denn sie hatte irgendwie schon einen Freund. Ich ließ aber dennoch nicht locker und forderte sie keck auf. Auch danach lief sie nicht gerade mit wehenden Fahnen zu mir über, aber ich war mir meiner, d.h. unserer Sache sicher und zeigte weiterhin mein Interesse. Abends lief ich immer wieder zum Rotschriener und klopfte ans Stallfenster, wenn sie im Stall am Melken war. Beim Rotschriener hatten sie einen bösen bissigen Schäferhund Namens Petz, der jeden Ankömmling mit wütendem Gebell empfing. Wenn aber ich kam war er zahm wie ein Lämmchen, er mochte mich anscheinend richtig, sodass er zur Begrüßung sogar an mir hochsprang und mir das Gesicht abschleckte. War die Zahmheit der Bestie nicht ein gutes Zeichen für die gelungene Mutprobe des Märchenprinzen und Bewerbers um die Königstochter? Meine Ernsthaftigkeit überzeugte Theresia schließlich, 1951 heirateten wir und bald darauf kam unser erstes Kind, unsere Tochter Angelika zur Welt. Wir waren jetzt eine richtige Familie, konnten am Aufbau unseres Lebens arbeiten und uns im hinteren Teil vom Haus am Juli-Rank einrichten. So ganz leicht war unser Anfang nicht, denn wir mussten uns unseren Platz im Gefüge der beiden Familien erst noch erkämpfen. Meine Schwiegermutter, die Rotschrienerin, hatte Theresia eigentlich für einen Bauernsohn bestimmt und achtete den Faller Leo lange Zeit gering. Bei familiären Anlässen oder Feiern im Hause Rombach durften Theresia und Leo die ersten Jahre nur am Katzentisch sitzen. Erst im höheren Alter wurde die Schwiegermutter versöhnlich und zeigte uns Wärme und Anerkennung. 1952 wurde Verena geboren, 1956 kam das Brüderchen Rudolf, 1958 erblickte Lydia das Licht der Welt, und 1969 vervollständigte Heiko unseren Kindersegen. 



Weiter auf der Straße des Lebens
Bald nach meiner Heimkehr versuchte ich natürlich, eine Lebensgrundlage in einer Anstellung zu finden. Ich bewarb mich bei verschiedenen Gaststätten in Freiburg als Koch, doch wurde ich überall abgelehnt. Kriegsheimkehrer würden sie nicht einstellen, hieß es, die seien gesundheitlich so angeschlagen, dass mit ihnen nichts anzufangen sei. Das war für mich schon ziemlich niederschmetternd. Da bestärkte mich mein Vater, nicht aufzugeben und ging mit mir zum Straßenbauamt, das damals Richtung Günterstal lag. Ich bekam tatsächlich dort auch eine Anstellung als anzulernender Straßenwärter. Ich half bei der Fahrbahnpflege, beim Teeren, beim Freihalten der Böschungen und Entwässerungsgräben. Ich ging der Arbeit nicht aus dem Wege, stellte mich geschickt an, bekam bald qualifizierte Tätigkeiten und kam in die Betriebsstelle Kirchzarten. Dort erfüllte ich bald die Aufgaben eines technischen Leiters in dem Zuständigkeitsbezirk, der vom Notschrei bis auf den Kandel reichte. In Kirchzarten war eine Menge los. Dort stand die große Bitumenabfüllanlage für den ganzen Bezirk, dort befand sich die Behördentankstelle für alle Fahrzeuge der Landesbehörden und dort lag der weiträumige Bauhof für den ganzen Geräteund Fahrzeugpark. Im Laufe der 60er und 70er Jahre hatte ich mit allen diesen Bereichen zu tun, ich war einige Zeit Einsatzleiter, Tankwart, Personalbetreuer, und Schofför vom Chef.

Nun diente mein ganzes Arbeitsleben dem Straßenwesen des Landes. Ich war ja aber eigentlich auch noch ein Koch, war dieser Teil von mir vergessen? Im Jahre 1953 kam der Heinrich Hirschenwirt Baudendistel wieder Bei Vermessungen in St. Peter am zurück nach St. Peter auf Weberberg den Hirschen. Mit einem NSU Quickly kam er zu uns gefahren und suchte mich auf. „Leo, ich brauche dich, du musst mir helfen!“

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Verleihung der Ehrennadel des Bund Heimat- und Volksleben
Bei Vermessungen in St. Peter am Weberberg
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Ehrung durch den Bund Heimat und Volks leben für 25 Jahre aktive Mitgliedschaft


Gerne kam ich dieser Anfrage nach und stieg nun als Koch in der Küche vom Hirschen mit ein. Lange Jahre half ich dort aus wenn in Stoßzeiten Hochbetrieb herrschte, bei Hochzeiten und großen Veranstaltungen. Diese Arbeit wurde zeitweise recht umfangreich, sodass ich sie nicht mehr nur nebenbei in der Freizeit machen konnte, sondern dafür beim Straßenbauamt unbezahlten Urlaub einreichen musste. Baudendistel war sehr froh über mich, er vertraute mir und ich darf sagen, dass ich in jener Zeit für den Betrieb dort eine wichtige und professionelle Stütze war. Ende der 60er Jahre, nach dem Tod des alten Baudendistel, glaubte man im Hirschen, etwas sparen zu können, indem man zunehmend auf vorgefertigte Gerichte über ging und auf meine Dienste allmählich verzichtete. Wie sehr dies der Qualität des Restaurants damals diente, sei dahingestellt.

So führte ich in der Folgezeit also 30 Jahre lang ein gut ausgelastetes Leben: im Straßenwesen, am Herd und für die Familie. Aber auch im Dorfleben brachte ich mich mit verschiedenen Anregungen und Tätigkeiten ein. Einer der ersten Streiche hier war in den 50er Jahren die Gründung einer inzwischen zur dörflichen Tradition gewordenen Fastnachtssitzung: Im Jahre 1956 rief ich zusammen mit dem damaligen Dorfpolizisten Josef Dörle die „Elfi Mess“ ins Leben. Sie tagte lange Jahre immer im Klosterstüble. Als Mitveranstalter und HauptBüttenredner kamen bald Adolf Waldvogel, Alfons Spiegelhalter und Eddie Maier dazu. Tatsächlich gab es damals im Dorf ein paar saure Gemüter, welche die Frohsinnsgelage im Klosterstüble als anstößig und unmoralisch empfanden und gegen das ausufernde Treiben sogar Rosenkränze beteten. Als aber dann Pfarrer Paul Wick bekannte, dass er auch zur Elfi Messe gehe und in der dortigen Fastnachtssatire nichts Schlechtes sehe, wurde die Elfi Mess dann aus dem missgünstigen Bann entlassen. 

Ein Unternehmen, das von Anfang an gut im Dorf ankam war das sogenannte „Einfache Essen“ ab Anfang der 80er Jahre. Das kam so: Meine Frau war ja im Kirchenchor, zusammen mit Elisabeth Blattmann. Das „Einfache Essen“ war in den ersten Jahren immer vom Kirchenchor ausgerichtet worden. Elisabeth sagte eines Tages „Du bist doch Koch,könntest du nicht das „Einfache Essen“ für uns zubereiten?“ Ich sagte gleich zu und wurde so über 25 Jahre hinweg der Koch vom „Einfachen Essen“. Eine der Lieblingsspeisen wurde dabei meine spezielle Kartoffelsuppe,deren Rezept ich hier natürlich nicht verrate. In den ersten Jahren war das Pfarrheim beim „Einfachen Essen“ oft gerammelt voll und diese Veranstaltung war ein großer Erfolg. 

Schließlich möchte ich noch von einer anderen Initiative erzählen, die ich für das Brauchtum in St. Peter angeregt habe. Wir schrieben das Jahr 1979 und in diesem Jahr hatte unser Sohn Heiko Weißen Sonntag. Damals gingen die meisten Mädchen in Tracht, für Buben aber gab es gar keine Tracht. Ich war in dieser Zeit schon lange am Brauchtum der St. Peterer Tracht interessiert gewesen und war als Mitglied im Bund Heimat und Volksleben viele Jahre Rechner gewesen. Da hatte ich eine Idee. Ich ging also zum damaligen Bürgermeister Theo Martin und schlug vor: Lass uns eine Tracht für die St. Peterer Buben einführen. „Da wirst du wohl kaum mehr als drei Leut’ zusammenkriegen“, zweifelte Theo Martin da. Ich aber ließ mich nicht beirren und gab Verleihung der Ehrennadel des Bund Heimatund Volksleben eine Anzeige auf mit dem Vorschlag, eine Bubentracht einzuführen und der Einladung ins Jägerhaus zu einer Gründungsversammlung Bubentracht. Ganz viele Eltern kamen an diesem Abend und waren von der Idee begeistert. Eltern ließen daraufhin in jenem Jahr für ihre Buben eine Tracht machen. 

In der Folgezeit wurde die Kindertrachtengruppe ein fester Bestandteil des St. PeterBrauchtums, und zu meinem 80sten Geburtstag schrieb mit die langjährige Leiterin Theresia Respondek, die Kindertrachtengruppe gehöre „zum schönsten, was St. Peter, hoffentlich noch für lange, zeigen kann!“ Kann man nicht auch hier wieder sagen. „Man muss zur rechten Zeit die richtige Idee haben?“

Mitte der 80er Jahre spürte ich, dass die Kräfte nachließen und die Gesundheit Probleme machte und ich ging am 31. Dez. 1985 in den Ruhestand. Mein Herz machte mir zu schaffen und im Jahre 1982 hatte ich eine schwere gesundheitliche Krise. Es war so schlimm, dass die Ärzte glaubten, es gehe bald zu Ende mit mir. Als einzige Chance kam für mich noch eine Herzoperation infrage, aber im Herzzentrum Bad Krozingen gab es endlos lange Wartezeiten. Ich glaubte eigentlich auch kaum mehr daran, diese Wartezeit zu überleben. Da plötzlich kam die überraschende Nachricht, dass ein Herzpatient ausgefallen war und ganz kurzfristig ein Termin frei wurde. Es war aber doch fraglich, ob ich überhaupt noch in einem operationsfähigen Zustand war. „Wir machen das sofort“, sagte ich, „ich gehe gleich ran, ohne Wenn und Aber!“ Drei Tage später hatte ich eine schwierige Herzklappenoperation überstanden. Mein Vertrauen in die Arztkunst hatte mir das Leben gerettet und es ging wieder bergauf mit mir. Heute erfreue ich mich einer ordentlichen Rüstigkeit und auch geistigen Frische, die es mir ermöglichen, zuversichtlich am Leben teilzunehmen. Dafür bin ich unendlich dankbar, besonders auch dafür, dass meine Frau Therese und ich einander tapfer auf den Beinen halten und einander unterstützen können. Zusammen haben wir alle Höhen und Tiefen eines langen Zusammenlebens gemeistert. Wir haben die goldene Hochzeit zusammen gefeiert, die diamantene Hochzeit miteinander genossen und schließlich auch bei der eisernen Hochzeit viel Freude gehabt, im Kreis unserer Familie auf 65 Jahre eheliches Zusammenleben zurückzublicken. Vielleicht trägt zu dieser positiven Bilanz auch ein wenig bei, dass ich mich immer noch ein bissle als Lausbub fühl und die Dinge von der heiteren Seite nehmen kann. Und u w natürlich bin ich ganz stolz darauf, dass meine Frau unserem Zusammensein einen guten Titel verleiht, wenn sie sagt: „Ich hab jetzt das Leo-Diplom...“