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Erinnerungen an die Kinderzeit im Schloß Weiler in Stegen
Tagebuch des Aufenthalt im Dreisamtal und Stegen 1965
von
Wilfried Buss

Tagebuch 1995 Juni, 3. bis 6. Stegen

3. Juni 1995 (Samstag) 
Abfahrt nach Hagen um 10.30h. Um kurz nach 11.00h trafen wir bei Hermann ein und fuhren mit ihm sofort weiter nach Weilersbach. Nach mehreren Staus trafen wir dort aber doch noch relativ früh im "Schützen" ein. Nach dem Einräumen unserer Zimmer warteten wir im herrlichen Sonnenschein auf der Terrasse bei einem kühlen Bier auf Hans und Bernd Coenenberg nebst Anhang sowie auf Helga Kleine und Gertrud Schneider, die bereits vorgestern bzw. gestern angereist waren. Bald trafen diese auch von ihren diversen Trips durch den Schwarzwald bei uns ein. In einer nun größeren Runde warteten wir jetzt auf Eva und Dieter nebst ihren Ehepartnern. Um halb sieben am Abend war die Runde dann vollständig. Noch vor dem Abendessen konnten wir Dr. Bothe in unserem Kreise begrüßen. Bevor das Abendessen serviert wurde, überreichten mir Coenenbergs als Dank für die Organisation eine Flasche Schloßmühlen-Sekt aus Stegen, der in "unserer" alten Mühle neuerdings verkauft  wird.

Während des Abendessens traf dann noch Rita Bank, die Tochter des Müllers, ein, die damals während des Krieges ca. 16. Jahre alt war und noch viel zu erzählen wußte, da sie unmittelbar in der Nähe des Schlosses wohnte und mit den größeren Jungen und Mädchen des Kinderheimes einige gemeinsame Aktivitäten veranstaltet hatte. Rita untermauerte meine Meinung, daß in einer Villa, die einige hundert Meter von der Mühle entfernt in einem Walde liegt, zur damaligen Zeit ein Kinderheim beherbergte, das sie „NSV-Heim“ nannte, ich aber wegen der dort lediglich untergebrachten Säuglinge (etwas mehr als 20) doch eher als ein Heim der Nazi- Zucht-Anstalt "Lebensborn e.V." deuten möchte. Dieses Heim wurde von Rotkreuz- Schwestern geleitet. Der Weg, der zur Villa im Walde führte, durfte damals nicht betreten werden, wie auf einem Hinweisschild zu lesen war (so Schwester Luitfried). Wegen des Babygeschreis ging eines Tages die heutige Ordensschwester Luitfried (damals Rita Ofschonka; heute arbeitet sie im Bochumer Vinzenzwaisenhaus) mit ihrer Stegener Kleinkindergruppe beim Spaziergang über diesen verbotenen Weg, der zu der besagten Villa führte. Im Hofe dieser Villa hätten, so sagte sie mir vor einigen Monaten, etwa 20 Baby-Bettchen gestanden, in denen einige schreiende und schlafende Babys gelegen hätten. Von einer Rotkreuz-Schwester sei sie auf das „Schärfste“ ermahnt worden, den Hof hätte sie auf dem schnellsten Wege mit ihren Kleinkindern verlassen müssen; denn der Zutritt zu diesem Grundstück sei "auf das  schärfste verboten". 

Schwester Luitfried ergänzte ihre Beobachtungen mit folgender Bemerkung: Kurz vor der französischen Besetzung des Ortes im April 1945 habe die Rotkreuz-Schwester mit einem Baby auf dem Arm am schmiedeeisernen Tor des Schlosses gestanden und die damalige Oberin Schwester Emma gebeten, doch ihr Kind, das sie in den Armen halte, im Schutzengelkinderheim aufzunehmen. Dies habe aber die Oberin aus Sorge um die Sicherheit ihrer "Waisen-Kinder" abgelehnt (Gehörte die exakte Anzahl der "Waisen-Kinder" etwa zu den Bedingungen den kampflosen Übergabe-Modalitäten des Ortes Stegen und des Schlosses?). 

Rita Ofschonka ergänzte dies Geschichte noch durch weitere interessante Fakten. So hätten alle Rotkreuz-Schwestern das Heim vor der Besetzung durch die Franzosen fluchtartig verlassen und die Babys allein gelassen. Die französischen Truppen hätten die Babys ohne eine Aufsicht vorgefunden und am Abend einige Frauen des Ortes mit Militäfahrzeugen mit der Maßgabe zur Villa gebracht, dort zunächst die Babys zu versorgen. Ein Mann aus dem Dorf habe sich an der Mühle vorbei durch den Wald geschlichen, um zu sehen, was mit den Stegener Frauen geschehe. Er habe aus dem Walde dies beobachteten und die Familien im Orte davon informieren können. Einige Tage später hätten die Franzosen das unbeschädigte Haus eines Kinderheimes am Stadtrand von Freiburg aufgelöst und die Ordensfrauen und Waisen in diese Villa gebracht, sodaß die Babys nun unter der Obhut der Ordensfrauen versorgt wurden. Das Freiburger Heim sei von der französischen Truppe als Zahnklinik benötigt worden. Erst Anfang der 50er Jahre  hätten sie das Haus aufgegeben, so daß alle Kinder aus der Stegener Villa in das alte Freiburger Waisenhaus gebracht wurden. 

In den nächsten Tagen werde ich versuchen, mehr Licht in das Geheimnis der verbotenen Villa zu bringen. 

Nach vielen freundlichen Gesprächen und Erinnerungen gingen wir erst kurz vor 1.00h in der Nacht zu Bett. 

4. Juni 1995 (Pfingsten) 
Noch vor dem Frühstück wünschten meine Waisenhausbrüder (wie wir uns immer noch nennen) Hermann Lüttecke und Günther Gehrke noch mit mir einen  Wiesenhang hinauf zu spazieren. Hermann fragte mich beim Anstieg schelmisch grinsend, ob ich mich noch an den Rektor Abel erinnere, und zwar an den Tag, als er mich, damals 9jährig, in den Keller des Schlosses gesperrt habe. Selbstverständlich erinnere mich daran, könne mich aber nicht an den Grund meines vermeintlichen Vergehens erinnern. Hermann erzählte dann als Grund für „Abels Ausraster“ (so Hermann) folgende Begebenheit, die mir aber bis zum heutigen Tage nur sehr bruchstückhaft in Erinnerung blieb: Ich berichtete Hermann meine noch heute deutliche Sichtweise: Rektor Abel habe im Treppenhaus mit lauten Worten sehr grob meinen Arm gegriffen und mich in den Schloßkeller eingesperrt. Den Grund für vermeintliches Fehlverhalten wisse ich aber nicht. 

Nun, grinsend, folgte Hermanns Schilderung: Er, Mathias (Müsgen), Dieter (Bachenheimer) und zwei, drei weitere ältere Jungen hätten im Schloßgebäude hinter der Eingangstür sich, „Dönekes“ über den bei ihnen nicht beliebten Lehrer Abel erzählend, aufgehalten. Ich sei zu diesem Zeitpunkt durch die große Tür ins Schloß gekommen, und im selben Moment hätten die „großen“ Jungen (13- und 14jährig) im oberen Treppenhaus Rektor Abel die Treppen mit „strammen Schritten“ hinunter kommen gehört. Hermann und Matthias hätten mich mit den Worten angehalten, doch Rektor Abel - wie von ihm sehr oft von uns Waisenkindern verlangt - zu grüßen. Hermann habe damals noch schnell dazu angefügt, (Hermanns Worte heute) "das heißt nicht "Heil Hitler" sondern "Heilt Hitler", und heute Morgen grinste er bei diesen Worten erneut. Ich hätte, so Hermann, damals seine und der anderen großen Jungen "Korrektur" tatsächlich geglaubt. Kaum hätte ich die ersten Stufen betreten, sei mir Herr Abel entgegen gekommen. Wie von meinen älteren Waisenhausbrüdern gewünscht, die mich - so Hermann - als folgsamen, nie aufmüpfigen, stets nachdenklich und sensiblen Jungen kannten, (man habe mich z.B. oft im Schloßpark nachdenklich allein beim Spazierengehen gesehen), grüßte ich den uns Kindern von den Nazis zugewiesenen Rektor, die rechte Hand stramm hochgestreckt mit den Worten:"Heilt Hitler"! Und schon wieder grinste Hermann bei diesen Worten; denn die anderen seien damals froh gewesen, Rektor Abel "eins auszuwischen". Herr Abel sei sofort auf der Stufe stehen geblieben, hätte hart meinen Arm ergriffen (an dies erinnere ich mich) und mich in barschem lauten Tone gefragt (Hermann erwähnte heute morgen:"wohl zu meinem Erstaunen", so Hermanns Worte weiter:) "Was hast Du gesagt?" Ich hätte kleinlaut, eher schüchtern gutgläubig den zuvor genannten Gruß "Heilt Hitler" wiederholt. Daraufhin habe Herr Abel mich nicht aus seinem Klammergriff losgelassen, mich jammernd, fest im Griff, zur Kellertür links vor der Ausgangstür gebracht, wo In der Nähe die „großen Jungen  standen“, habe die Kellertür geöffnet und mich die Stufen hinunter in den Keller (an diese Strafmaßnahme erinnere ich mich auch, aber nicht an mein Fehlverhalten) gestoßen. Weiterhin erinnere ich mich, daß ich ängstlich und unverständlich weinend  dort in der Dunkelheit auf Stufen gesessen habe. 

Hermann weiter: Rektor Abel sei dann erbost aus dem Schloß geeilt. Zwei, drei Sekunden später sei Pater Rektor aus dem Refektorium - rechts neben der Eingangstür - gekommen und habe die „Großen“ Jungen gefragt, wer da soeben überaus laut im barschen Tone gesprochen habe. Hermann und seine Freunde hätten darauf geantwortet: „Herr Abel hat Wilfried in den Schloßkeller gesperrt.“ Pater Rektor habe dann die Tür zum Schloßkeller aufgeschlossen (der Schlüssel steckte offensichtlich von außen in der Tür) und bat mich mit den Worten „Was hast getan?“ nach oben. Ich antwortete ihm, immer noch weinend, ich hätte den Herrn Abel doch nur mit „Heilt Hitler“ begrüßt (An diese, mir aufgeschwatzten Worte, erinnere ich mich bis zum heutigen Tage.). Pater Middendorf, so erinnere ich mich, sprach mich freundlich an, und dann, so erinnere ich mich, streichelte er mir wortlos über meinen Kopf, wobei mir deutlich wurde, daß ich nichts Böses getan hatte. 

Pater Rektor hätte dann die Großen gebeten, Herrn Abel zu bitten, zu ihm ins Refektorium zu kommen. Matthias habe dann auch Herrn Abel von Pater Rektors Wunsch in Kenntnis gesetzt. 

Eine verrückte Geschichte, heute mit Einzelheiten gespickt, von denen ich aber nicht meinen Kinder erzähle, denn so dumm konnte doch kein Kind sein — oder? Die Zeit,  als das geschah, war im Frühsommer 1944, wenige Wochen nach meiner Kommunion (am 9. April, Ostern, 1944). 

Nun zurück zu unserer Fahrt nach Stegen: 
Nach dem gemeinsamen Frühstück fuhren wir nach Eschbach und besuchten den Pfingstgottesdienst in der dortigen Barock-Kirche, in der ich im Frühjahr 1944 bedingungsweise getauft wurde (so das dortige Taufbuch, sagt Pater Bothe; ich meine aber in der Stegener Schloßkapelle im Auftrage der Gemeinde Eschbach), da nicht klar war, ob ich bereits getauft sei. Meine alte Lehrerin Frau Brück war meine: Taufpatin, wie es aus dem Taufregister dieser Kirchengemeinde zu sehen ist. Heute weiß ich, daß ich in Dortmund getauft wurde, und zwar nach meiner Geburt im sogenannten „Heim für gefallene Mädchen“ (St. Vincenzheim, in der Oesterholzstraße) in der St. Dreifaltigkeitskirche.

Nach dem Gottesdienst fuhren wir gemeinsam zum Ort St. Peter und machten dort in einem Gasthaus am Markt eine längere Rast.

Dann ging es zum "Schützen" nach Weilersbach, wo wir uns ein wenig ausruhten. Um 14.30 h fuhren wir dann gemeinsam nach Stegen, wo uns vor "unserem Schloß" schon Pater Bothe und Frau Giessler (Ursula Giessler, meine  Waisenhausschwester, wurde ebenfalls vor den Nazis damals hier versteckt.) erwarteten. Im Refektorium gedachten wir noch einmal des geehrten damaligen Rektors Dr. Middendorf — ich nenne ihn immer „unseren Waisenvater - betrachte die Medaille und Urkunde aus Yad Vaschem und unterhielten uns danach angeregt,  in Erinnerungen schwelgend, bei Kaffee und Kuchen.

Anschließend besuchten wir noch einmal das Kellergewölbe, in dem wir bei so manchem Alarm gesessen, beim Bombardement auf Freiburg gebetet und auch vor
Angst geweint hatten und spazierten abschließend durch "unseren Schloßpark"”. Während des Rundgangs erinnerten wir uns an so manche Begebenheiten, die wir in diesem Park erlebt hatte, z. B. .
- an den von den großen Jungen mit Hilfe der Patres und der Brüder gezimmerten  "Feldbergblick",
- an unser Verkriechen unter dichten Bäumen und Büschen während der über uns surrenden feindlichen Flugzeuge oder während des Überfliegens großer Bombergeschwader, die ihre unheilvolle, tödliche Last über die süddeutschen Städte  später abluden,
- an die Begegnungen mit deutschen Soldaten, die sich im März oder Anfang April 1945 im Park in Schützengräben eingruben, um "Schloß und Ortschaft vor den Feinden zu verteidigen",
- an einige Soldaten, die sich zu meinem Erstaunen respektlos über betende Patres im Schloßpark lustig machten, und einer von ihnen tatsächlich im Keller des Schlosses beim Angriff auf Freiburg mit den Patres, Ordensschwestern und mit uns Waisenkindern sogar laut das Vaterunser betete (er stand hinter mir), 
- an die Hals über Kopf verlassenen Schützengräben im Park, die vor dem Einmarsch der Franzosen über Nacht kampflos zurückgelassenen großen und kleinen Fahrzeuge, über viele Gewehr, Munition und Zündschnüre (in Mengen auf einem großen Lastwagen mit Anhänger), Uniformgarderobe und Ausrüstung, die wir  nach der Besetzung im Park vorfanden,
- an die vielen gemeinsamen Spiele, z.B. in Gruppen zwischen Brüderhaus und  Schloß, 
- an die Jagden nach hunderttausenden von Maikäfern, die in vielen leeren Konservendosen gesammelt und dann im Hühnerstall hinter der Schloßkapelle den Hühnern zum willkommenen Fraß vor ihre Beinchen geschüttet wurden, 
- an das auf einem Feld hinter dem Schloßpark gemeinsame Einsammeln von Kartoffelkäfern und -larven in mit Wasser gefüllte Flaschen, 
- an die nach der friedlichen Besetzung Stegens am Schloß vorbeipreschenden berittenen Franzosen, die hin und wieder auch ihre Handfeuerwaffen (zum Spaß, von uns aber befürchtet) auf uns richteten und herzhaft lauthals im Vorbeireiten über uns in die Büsche flüchtenden Kinder lachten etc. pp. 

Am Abend hatten wir ein gemeinsames Abendessen im "Schützen", an dem auch Dr. Bothe, Ursula Giessler und Rita Bank teilnahmen. Erneut wurden viele Erinnerungen aus der Kriegszeit wach und nach langen, intensiven Gesprächen  vor Begeisterung ob des Wiedersehens hochroten Köpfen wurde es erneut Mitternacht, als wir uns von Ursula Giessler, Rita und Pater Dr. Bothe  verabschiedeten. Für den 23. September verabredeten wir uns noch, um uns in Evas Wochenendhaus zum Israeltreff wiederzusehen.

Nach dem Frühstück fuhren wir über Freiburg und Munzingen (Mutterschloß der Kagenecks) nach Frankreich. Gegen 11.00h trafen wir im Zentrum von Colmar ein, schlenderten durch die Altstadt und besuchten zunächst die Dominikanerkirche (Grundsteinlegung 1283), um uns den sakralen Bau aber vor allem die weltberühmte  "Madonna im Rosenhag" anzusehen, die von Martin Schongauer in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts geschaffen wurde.

Der letzte Abend im Schützen wurde genau so gemütlich gestaltet wie die Abende zuvor. Auch diesmal hielten wir es wieder bis in der Nacht aus. 

6. Juni 1995 (Dienstag) 
Nach dem Frühstück verabschiedeten wir uns herzlich voneinander und dann ging es über Stegen, wo wir in der Mühle für Frau Paepcke eine Flasche Schloßmühlen-Sekt kauften, direkt nach Karlsruhe. Gegen 11.45h trafen wir im Altenstift bei Frau  Paepcke ein, hielten uns aber nur etwa eine Viertelstunde dort auf; denn ein lockeres Gespräch konnte wegen ihres todkranken Sohnes Peter nicht geführt werden. Man spürte förmlich die Trauer und Last, die auf dieser kleinen, gebrechlich wirkenden alten Dame lag. Ich gab ihr noch einige Fotos von der Feierstunde am 24. Mai im Schloß und dann setzten wir unsere Fahrt fort. Nach einem kleinen Stop an einer Autobahnraststätte zwischen Karlsruhe und Frankfurt ging es dann schnell weiter nach Hagen, wo wir Hermann vor seiner Wohnung in Eilpe absetzten. Kurz nach halb  sieben waren wir dann wieder in Brackel.